EINIGE Schriftgelehrte und Pharisäer trugen gerne ihr Überlegenheitsgefühl zur Schau. Aufgrund ihrer Stellung dachten sie, dass sie seitens des übrigen jüdischen Volkes eine ehrerbietige Behandlung verdienten. Jesus jedoch ermutigte die Menschen und seine Jünger dazu, die entgegengesetzte Haltung einzunehmen: Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel (Mt 23,8-9). Damit erklärt Christus nicht nur, dass alle Menschen gleich sind, sondern weist auch auf den Ursprung dieser Wirklichkeit hin: Wir sind alle Brüder und Schwestern, weil wir Kinder desselben Gottes sind.
Ähnlich prangerte der Prophet Maleachi das Verhalten mancher Vorsteher seiner Zeit an, wie wir in der ersten Lesung hören: Haben wir nicht alle denselben Vater? Hat nicht der eine Gott uns erschaffen? Warum handeln wir dann treulos, einer gegen den andern, und entweihen den Bund unserer Väter? (Mal 2,10). Maleachi und der Herr ermuntern uns gleichermaßen dazu, auf das Verbindende zu achten, nicht auf das Trennende, denn wie Papst Benedikt sagte: „Jeder von uns ist Frucht eines Gedankens Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht.“1
Es mag manchmal herausfordernd sein, diese christliche Brüderlichkeit im Umgang mit unseren Mitmenschen zu leben, besonders mit jenen, die wir häufiger sehen und deren mögliche Schwächen wir aus der Nähe erleben. In solchen Momenten kann es uns helfen, auf all das zu schauen, was uns mit diesem Menschen verbindet: eine echte Freundschaft, die uns in wichtigen Momenten begleitet hat, eine bedingungslose Liebe, die im Laufe der Zeit gewachsen ist, eine gemeinsame Berufung, die unser ganzes Leben umfasst ... So werden wir erkennen, dass sich eine Beziehung nicht nur von den Eindrücken des Augenblicks, sondern vor allem von einer gemeinsamen Wirklichkeit nährt, die unser Leben geformt hat.
ZUR ZEIT Jesu wie auch in anderen Epochen der Geschichte wurde der Dienst als eine niedere Arbeit angesehen. Talentierte Menschen waren mit als wichtig erachteten Aufgaben beschäftigt, während weniger Begabte Dienstarbeiten verrichteten. Christus kehrte das Verständnis von sozialer Hierarchie vollständig um: Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden (Mt 23,11-12). Wahre Macht äußert sich demnach nicht in Privilegien, sondern in der Bereitschaft, anderen zu dienen. Diese Dienstgesinnung ist „Ausdruck der Liebe“, so schrieb Msgr. Fernando Ocáriz, „der Zuneigung zu den anderen. Sie lässt uns ihre Bedürfnisse so verstehen, als wären es unsere eigenen.“2 Jeder ist auf seine Weise Diener der anderen. In einem Interview betonte der heilige Josefmaria, dass „jede sinnvolle Tätigkeit innerhalb der Gesellschaft im besten Sinn des Wortes Dienst ist, die Tätigkeit einer Hausangestellten ebenso wie die eines Lehrers oder Richters. Nur derjenige leistet mit seiner Arbeit keinen Dienst, der dabei ausschließlich an sein eigenes Wohlergehen denkt.“3
Die Bereitschaft zu dienen ist ein Ausdruck der brüderlichen Liebe, und diese kann, so schrieb Papst Franziskus „nur gegenleistungsfrei sein und darf weder jemals eine Bezahlung sein für das, was ein anderer tut, noch ein Vorschuss für das, was wir uns von ihm erhoffen“4. Natürlich verlangt eine professionelle Dienstleistung eine angemessene Vergütung. Wenn Dienstbereitschaft aber aus der Liebe zum anderen erwächst, geht sie über die Logik des Gebens und Nehmens hinaus und erreicht eine neue Dimension, die der Unentgeltlichkeit ähnelt. Eltern setzen sich bedingungslos für ihre Kinder ein, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Sie handeln nicht aus Pflicht oder in Reaktion auf eingegangene Verpflichtungen. Wie der heilige Josefmaria sagte: „Wenn Liebe da ist, wage ich zu behaupten, sind nicht einmal Vorsätze nötig. Nie hat meine Mutter sich vorgenommen, mich zu lieben, und wie sehr hat sie mir doch ihre Zuneigung gezeigt!“5 In dieser Haltung des uneigennützigen Dienens erleben Eltern eine tiefe Freude, die einer Liebe entspringt, die nicht in erster Linie auf die mehr oder weniger große Gegenleistung der Kinder fixiert ist: Wenn Eltern das schöne Zuhause betrachten, das sie aufbauen, wissen sie sich mehr als belohnt.
IN DER ZWEITEN Lesung dankt Paulus den Thessalonichern für die Art und Weise, wie sie die Verkündigung des Evangeliums angenommen haben, nämlich nicht als Menschenwort, sondern – was es in Wahrheit ist – als Gottes Wort. Und er fügt hinzu: Und jetzt ist es in euch, den Glaubenden, wirksam (1 Thess 2,13). Der Glaube ist nicht einfach theoretisches Wissen, sondern ist wirksam, das heißt, er zeigt sich in all unseren Taten. Daher betonte der heilige Josefmaria, dass die ersten Christen Säleute des Friedens und der Freude waren: Ihre Familien waren wie alle anderen ihrer Zeit, „aber sie waren von einem neuen Geist beseelt, der alle ansteckte, mit denen sie verkehrten“6.
Frieden und Freude säen ist, wie Msgr. Fernando Ocáriz darlegt, eine Äußerung der Dienstgesinnung, die alle anderen Äußerungen irgendwie einschließt. Doch wie er erklärt, können wir „diesen Frieden und diese Freude nur geben, wenn wir sie haben, und da beide ein Geschenk Gottes sind, ist der beste Weg, in ihnen zu wachsen, die feinfühlige Pflege der Zeiten unseres innigen Umgangs mit Gott: die Sakramente und das persönliche Gebet.“7 Die Freude, die wir geben wollen, hängt also nicht allein von äußeren Umständen ab, sondern von unserer Beziehung zum Herrn. Daher konnte Msgr. Javier Echevarría schreiben: „Männer und Frauen des Glaubens erleben wie alle anderen auch Müdigkeit und Krankheit, Schwierigkeiten und Ängste, Zweifel und Widersprüche. Aber in all diesen Situationen wissen sie, dass sie Gottes geliebte Kinder sind, sie wissen, dass sie sich auf ihn stützen und mit seiner Hilfe ihre Freude zurückgewinnen können, sollten sie sie verlieren.“8
Das Leben der Apostel und frühen Christen war keineswegs frei von Schwierigkeiten. Die drei Tage nach dem Tod des Herrn waren von tiefer Trauer und Enttäuschung geprägt. Später dürften die Verfolgungen wegen der Verkündigung des Evangeliums in ihnen Ängste und Unsicherheiten hervorgerufen haben. Wir können uns vorstellen, dass Maria, die Mutter der Christen, in diesen dunkelsten Momenten Frieden und Freude in die Seelen ihrer Kinder säte. Sie wusste, dass ihr Sohn den Tod überwinden würde und dass er bis ans Ende der Welt bei jedem von uns ist.
1 Benedikt XVI., Predigt, 24.4.2005.
2 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 16.2.2023, Nr. 9.
3 Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 109.
4 Franziskus, Laudato Si’, Nr. 228.
5 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Familientreffen, zitiert in S. Bernal, Msgr. Josemaría Escrivá de Balaguer. Aufzeichnungen über den Gründer des Opus Deii; Adamas, Köln 1978, S. 33.
6 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 30.
7 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 16.2.2023, Nr. 11.
8 Msgr. Javier Echevarría, Una siembra de paz y de alegría, La Tercera, 15.10.2008.