Betrachtungstext: 9. Woche im Jahreskreis – Mittwoch

Aufrichtigkeit, um die Wahrheit Gottes zu suchen – Horizonte der Ewigkeit – Mit deinem ganzem Herzen, mit deinem ganzen Denken

UNSERE persönliche Geschichte wird zu einem Gutteil von Begegnungen mit anderen Menschen bestimmt: Diese können zufällig oder geplant sein, sie können Teil unseres Arbeitsalltags sein oder sich unerwartet ergeben. Manchmal entstehen daraus Freundschaften, die sogar unser Leben verändern können. Das Evangelium berichtet von einigen Begegnungen Jesu mit Zeitgenossen. Zum Teil sind es einfache Menschen, wie die Samariterin, die sich nach einer fast zufälligen Begegnung mit dem Herrn rundum bekehren. Zum Teil sind es Persönlichkeiten wie Nikodemus, die Jesus aufsuchen, um ihre Gotteserkenntnis zu vertiefen. Es treten jedoch auch solche an Jesus heran, die ihn nicht so sehr befragen wollen, um etwas von ihm zu lernen, sondern um einen Widerspruch zwischen seiner Verkündigung und der Heiligen Schrift zu finden.

Dies trifft etwa auf einige Sadduzäer zu. Sie glauben nicht an die Auferstehung und wenden sich an Jesus mit einem Fall, der zumindest heute weit hergeholt und übertrieben erscheint: Wenn einer Frau hintereinander die Männer wegsterben, die sie hatte, wessen Frau wird sie dann bei der Auferstehung sein? (vgl. Mk 12,19-23) Die Sadduzäer haben keinen echten Durst nach Wahrheit; sie führen keinen Dialog mit der Bereitschaft, ihre Denkweise zu ändern oder ihre Schemata zu überwinden. Sie akzeptieren nicht, wie Papst Franziskus sagte, „dass Gott immer größer ist, als wir ihn uns vorstellen, dass die Werke, die er vollbringt, im Vergleich mit unseren Kalkulationen stets überraschend sind; dass sein Handeln immer anders ist und weit über unsere Bedürfnisse und Erwartungen hinausgeht.“ Der Papst zieht daraus den Schluss, dass wir nie aufhören sollten, „ihn zu suchen und uns zu seinem wahren Antlitz zu bekehren“1.

Mit Blick auf die Haltung der Sadduzäer wollen auch wir uns fragen: Will ich mich der Wahrheit Gottes nähern, wohl wissend, dass ich Gefahr laufe, meine Vorurteile revidieren und meine Schemata anpassen zu müssen? Bin ich offen für die Größe Gottes, die meinen Blick und meine gelegentlich etwas verworrenen Überlegungen auf eine höhere Ebene hebt? Keine Begegnung mit Christus lässt denjenigen gleichgültig, der sich ihm demütig und vertrauensvoll, ohne Schutzpanzer, nähert.


IHR IRRT EUCH, ihr kennt weder die Schrift noch die Macht Gottes, antwortete Jesus auf die Frage der Sadduzäer. Wenn nämlich die Menschen von den Toten auferstehen, heiraten sie nicht, noch lassen sie sich heiraten, sondern sind wie Engel im Himmel (Mk 12,24-25). Und um zu verdeutlichen, dass die Auferstehung ein grundlegender Bestandteil des göttlichen Plans ist und dass nach dem Tod nicht nur die Seele, sondern auch unser Leib weiterlebt, fügte der Herr hinzu, dass der Gott ihrer Väter kein Gott von Toten, sondern von Lebenden (Mk 12,27) ist. Eine der Fragen, die sich der Mensch im Laufe der Geschichte immer wieder gestellt hat, ist die Frage nach dem, was uns nach dem Tod erwartet. Und im Evangelium, im stets aktuellen Wort Gottes, finden wir die Antwort darauf. Jesus versichert uns, dass das Leben nicht mit unserer irdischen Wanderschaft endet.

Wir sind gerufen, so sagt der Katechismus, „für immer Gott ähnlich“2 zu sein; wir sind dafür geschaffen, niemals zu sterben, sondern im Himmel zu wohnen, der nicht ein physischer Ort über uns ist, sondern eine neue Dimension, in der sich unsere tiefsten Sehnsüchte verwirklichen werden. Dabei wird alles, was wir in unserem Leib getan haben und geworden sind, in die Unvergänglichkeit eingehen und das, was uns kostbar und wertvoll ist, nicht wie ein Schauplatz verschwinden. Papst Benedikt schrieb: „Unsterblich ist folglich das, was jetzt, in unserem Leben, wächst und wird; was in unserem Leib, in dem wir leiden und lieben, in dem wir hoffen und froh sind, in dem wir traurig sind und in dem wir vorwärtsgehen durch die Zeiten – was ,jetzt‘ in diesem unserem so beschaffenen Leben wächst, ,das‘ ist unvergänglich. Unvergänglich ist also gerade das, was wir in unserer Leibhaftigkeit wurden, was in dem Leben an und in den Dingen dieser Welt in uns gewachsen und gereift ist. Es ist der ,ganze Mensch‘, so wie er in dieser Welt gestanden, gelebt und gelitten hat, der einst von Gottes Ewigkeit umgriffen wird und in Gott selbst Ewigkeit hat.“3

In diesem Sinne empfahl uns der heilige Josefmaria, alle unsere Handlungen hier auf Erden, auch die scheinbar unbedeutendsten, so durchzuführen, dass wir „die Ewigkeit mitschwingen fühlen“4. Hinter einer gut gemachten Arbeit, einem kleinen Dienst oder einem kurzen Gebet eröffnet sich ein viel größerer Horizont, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Nichts, was wir tun, bleibt unfruchtbar; jede Geste kann uns darauf vorbereiten, Gott im ewigen Leben von Angesicht zu Angesicht zu sehen.


DER HEILIGE AUGUSTINUS vertiefte sich in die Philosophie und in die Offenbarung, weil er von dem Wunsch beseelt war, Gott besser kennen zu lernen, um ihn mehr zu lieben. Es wird erzählt, dass er einmal am Meeresufer spazieren ging und dabei viele Überlegungen über die Dreifaltigkeit anstellte. Da sah er einen kleinen Buben, der mit einem Gefäß in der Hand ans Ufer lief und dieses dort mit Meereswasser füllte. Dann kehrte er an seine Ausgangsstelle zurück und leerte das Wasser in ein Loch, das er in den Sand gegraben hatte. Diesen Vorgang wiederholte der Bub ein ums andere Mal, bis der heilige Augustinus ihn fragte, was er da tue. Darauf erklärte der Bub, dass er das Meer leeren und das gesamte Wasser in das Loch leiten wolle. Als Augustinus ihm klar machte, dass das unmöglich sei, gab ihm das Kind zur Antwort, dass viel schwieriger zu verstehen sei, was er sich vorgenommen habe: zu versuchen, das Geheimnis Gottes zu lösen.

Gott möchte jedoch, dass wir versuchen, ihn zu ergründen, um letztlich auch uns selbst richtig zu begreifen. So schrieb Johannes Paul II. in der Einleitung zu einer großen Enzyklika: „Glaube und Vernunft (Fides et ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt. Das Streben, die Wahrheit zu erkennen und letztlich ihn selbst zu erkennen, hat Gott dem Menschen ins Herz gesenkt, damit er dadurch, dass er ihn erkennt und liebt, auch zur vollen Wahrheit über sich selbst gelangen könne.“5 Wie das Erkennen die Liebe beflügelt, beflügelt die Liebe das Erkennen. Wir wollen mit den Dingen Gottes daher so umgehen, wie er das Volk Israel gelehrt hat: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken (Mt 22,37). „Was bleibt dir noch von deinem Herzen, um dich selbst zu lieben?“, fragt der heilige Augustinus. „Was von deiner Seele? Was von deinem Geist? Mit dem ganzen, sagt er. Alles verlangt er, der dir alles gegeben hat.“6

Der heilige Josefmaria pflegte zu sagen, dass das Leben eines Christen gekennzeichnet ist durch eine kindliche Beziehung zu Gott und zugleich durch den Wunsch, ihn gründlich kennen zu lernen. „Fromm wie die Kinder, aber nicht unwissend, denn jeder muss sich im Rahmen seiner Möglichkeiten um ein ernsthaftes, wissenschaftliches Studium des Glaubens bemühen; das alles ist Theologie. Die Frömmigkeit von Kindern also und die sichere Lehre von Theologen.“7 Wir wenden uns an Maria, damit sie uns hilft, ihrem Sohn vertrauensvoll zu begegnen und wir Hunger danach haben, ihn zu lieben und jeden Tag besser kennen zu lernen.


1 Franziskus, Angelus-Gebet, 11.12.2022.

2 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1023.

3 Ratzinger, Josef, Mitarbeiter der Wahrheit, Gedanken für jeden Tag, Verlag J. Pfeiffer, München 1979, 24.11.

4 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 239.

5 Hl. Johannes Paul II., Fides et Ratio, Einleitung.

6 Hl. Augustinus, Predigt 34.

7 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 10.