HERODES hatte Johannes den Täufer in den Kerker werfen lassen und Herodias, die Frau seines Bruders, geheiratet. Der Prophet hatte diese Verbindung nicht gutgeheißen und wurde deshalb vom König hinter Gitter gebracht. Herodias hätte den Täufer am liebsten aus der Welt geschafft, doch der König erkannte, dass er ein rechtschaffener und heiliger Mann war, und ließ ihn am Leben. Abgesehen davon, dass er ihm gerne zuhörte, fürchtete er, dass ein Todesurteil das Volk gegen ihn aufbringen könnte. An seinem Geburtstag sah er die Tochter der Herodias tanzen. Und sie gefiel Herodes, sodass er mit einem Eid zusagte, ihr zu geben, was immer sie sich wünschte (Mt 14,6-7). Auf Betreiben ihrer Mutter forderte das Mädchen den Kopf des Täufers. Und aus Furcht, seinen Eid zu brechen oder vor seinen Gästen schlecht dazustehen, ließ Herodes Johannes enthaupten.
Herodes fehlte es offensichtlich an Überzeugungen, die seine unmittelbaren Impulse hätten zügeln können. Nach allem, was wir von ihm wissen, kann man sagen, dass er sich von dem leiten ließ, was er im Augenblick empfand. Weil er sich von ihr angezogen fühlte, nahm er sich die Frau seines Bruders, weil er ihn gerne hörte, ließ er Johannes im Kerker schmachten, und aus einer Euphorie heraus versprach er einem Mädchen, ihm jeglichen Wunsch zu erfüllen, selbst wenn es die Hälfte seines Königreichs wäre. Wenn einer sein Leben an so unbeständige und prekäre Kriterien knüpft, wie es die unmittelbaren und oberflächlichen Neigungen sind, weiß er nicht, wo das wahre Glück zu suchen ist. Er weiß nicht, wohin er geht, denn das Ziel, der Zweck des eigenen Handelns, der Grund, warum er etwas tut oder auch nicht, kann sich je nach Lust und Laune ändern. Dies führt zu chronischer Unruhe und Unzufriedenheit und möglicherweise – wie im Fall des Herodes – auch zu hochgradigen Ungerechtigkeiten seinen Mitmenschen und sich selbst gegenüber.
Papst Franziskus sagte: „Viele Menschen leiden, weil sie nicht wissen, was sie von ihrem Leben wollen; wahrscheinlich sind sie nie mit ihrer tiefen Sehnsucht in Berührung gekommen, (…). Damit laufen sie Gefahr, das Leben mit Versuchen und Notlösungen verschiedener Art zuzubringen, ohne je irgendwo anzukommen, und verspielen so wertvolle Chancen.“1 Gott möge uns helfen, die tiefen Sehnsüchte zu erkennen, die er selbst in unser Herz gelegt hat, um sie zu läutern und zu unserem Wegweiser zu machen, der uns zum Glück mit ihm führt, im Himmel und auf Erden.
ALS HERODES die Bitte der Tochter der Herodias hörte, wurde er traurig (Mt 14,9). Er spürte, dass er in eine Situation geraten war, in der er etwas tun würde, was er eigentlich nicht wollte. Wegen der Leidenschaft, die dieses Mädchen in ihm geweckt hatte, und weil sein Herz nicht auf das Wahre und Gute ausgerichtet war, war er bereit, einen Menschen töten zu lassen, den er für ehrbar hielt. Diese Entscheidung erfüllte ihn mit Traurigkeit, denn er würde jemanden opfern, den er schätzte.
Wenn wir lernen, unser Herz auf das Wahre und Gute auszurichten, es für das Wertvolle hellsichtig zu machen und darin zu verankern, erfüllt uns dies mit Freude, weil es uns erlaubt, die beste Version unserer selbst sein zu können. Wir lernen, zu genießen, was wirklich gut ist, weil wir in der Verbundenheit mit Gottes Gegenwart in den Menschen und in der ganzen Schöpfung wachsen. Die Ausrichtung unserer Sehnsüchte stärkt unsere Identität und schützt uns vor Gefahren auf unserem Weg. Ein Herz wie das des Herodes opfert, was wirklich wertvoll ist – sei es eine Ehe oder das Leben eines Menschen –, für ein flüchtiges Vergnügen; ein reines Herz hingegen schwingt im Einklang mit dem, was wertvoll ist, erfreut sich daran und lässt sich nicht vom Vergänglichen oder Oberflächlichen an der Nase herumführen.
In diesem Sinn sagte der heilige Josefmaria von der Keuschheit, dass sie „Kampf ist, aber nicht Verzicht. Wir antworten mit einem frohen Ja, mit einer freien und freudigen Hingabe. Dein Verhalten darf sich nicht darauf beschränken, dem Sturz auszuweichen, die Gelegenheit zu meiden; es darf keinesfalls nur ein kühles, berechnendes Nein sein. Hast du dich davon überzeugt, dass die Keuschheit eine Tugend ist und dass sie als solche wachsen und sich vervollkommnen muss?“2 Die Keuschheit besteht nicht darin, Gefühle zu ignorieren oder sich gegen das zu wehren, was man fühlt. Es stimmt zwar, dass sie manchmal bedeutet, gegen eine unmittelbare Neigung zu handeln, aber das ist nicht das Ziel der Tugend. Vielmehr geht es darum, unser Herz auszurichten, damit wir uns an höheren Gütern erfreuen können – an dem, was unsere Seele wirklich erfüllt.
SICHER haben wir schon einmal die Erfahrung gemacht, was es heißt, einen Film, eine Serie oder ein Buch mit besonderem Interesse zu verfolgen. Unsere Sinne sind dann ganz auf das gerichtet, was unsere Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt. In solchen Momenten können wir uns so sehr in die Handlung vertiefen, dass das, was um uns herum geschieht, oder die Sorgen, die uns davor beschäftigt haben, keine Bedeutung mehr haben. Ohne den Wert von Formaten, die zur Unterhaltung beitragen, zu schmälern, kann uns das Bild von den Sinnen, die einer äußeren Kraft erliegen, vielleicht umgekehrt auch helfen, zu verstehen, was der heilige Josefmaria anregt: „Was musst du herumgucken, wenn du ,deine Welt‘ in dir trägst?“3 Wenn wir eine innere Welt pflegen, die aus bedeutenden Dingen besteht – menschlichen wie göttlichen –, auf die wir unsere Hoffnung setzen und denen wir unsere Zeit widmen, werden Versuchungen gegen die Keuschheit trotz gewisser Anziehungskräfte leichter zu bekämpfen sein: Sie werden als Bedrohung für die Harmonie der eigenen inneren Welt wahrgenommen, als Erschwernis, um mit Aufmerksamkeit das zu verfolgen, was uns wirklich interessiert.
Die Keuschheit ermöglicht es uns, eine tiefe emotionale Bindung zu anderen Menschen aufzubauen und uns an allem zu erfreuen, was schön, edel und echt ist. Wenn wir diese Tugend hingegen vernachlässigen, kann es schwierig werden, dass wir uns an den kleinen Dingen des Lebens und an persönlichen Beziehungen erfreuen, weil wir sie leicht als unwichtig oder fade empfinden werden. Aus diesem Grund sagte der heilige Josefmaria auch: „Ich rede nicht gerne über die Unreinheit. Ich will vielmehr die Früchte der Mäßigkeit betrachten (…). Denn wenn [der Mensch] so lebt – mit Opfergeist –, befreit er sich aus vielen Fesseln und kann im Innersten seines Herzens die ganze Liebe Gottes auskosten (…). Es wird ihm wieder möglich sein, sich um andere kümmern, sein Leben mit allen zu teilen und sich großen Aufgaben zu widmen.“4 Wir bitten die Jungfrau Maria, uns zu helfen, die Tugend der Keuschheit in unserer Seele zu fördern, damit wir den Wohlgeschmack eines Lebens mit ihrem Sohn wahrnehmen und genießen können.
1 Franziskus, Audienz, 12.10.2022.
2 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 182.
3 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 184.
4 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 84.