Betrachtungstext: 10. Woche im Jahreskreis - Freitag

Die Fülle der Seligpreisungen. - Strebt nach Reinheit des Herzens. - Beseitigen wir das, was uns behindert.

DIE BERGPREDIGT ist die erste der fünf großen Reden, in denen der heilige Matthäus die Lehren Jesu über das Reich Gottes zusammenfasst. Die ‘Ouverture’ dieser Rede ist die Verkündigung der Seligpreisungen (Mt 5,1-11): Diese »neuen Gebote«, lehrt Papst Franziskus, sind viel mehr als nur einige Vorschriften. Denn Jesus erlegt nichts auf, sondern offenbart den Weg zur Glückseligkeit1. Indem wir sie zur Richtschnur unseres Lebens machen, können wir, die wir Christus nachfolgen, mit seiner Hilfe Salz der Erde und Licht der Welt werden.

Vor dem Hintergrund der Seligpreisungen legt der Herr die wichtigsten Gebote des Gesetzes aus. Er will ihren gesamten Inhalt durch eine Reihe von Antithesen zwischen den alten Geboten und seiner neuen Art, sie vorzulegen, herausarbeiten: "Ihr habt gehört, dass gesagt wurde ... ich aber sage euch". Die Art und Weise, wie er sich ausdrückte ‒ "Ich sage euch" ‒, machte großen Eindruck auf das Volk, weil es darauf hinauslief, die Autorität Gottes für sich zu beanspruchen. Jesus fügt dem, was Mose gesagt hat, etwas Neues hinzu, er bringt es zu seiner Fülle.

Der Herr hebt die Gebote des Gesetzes nicht auf, sondern er verinnerlicht sie, erleuchtet sie so, dass sie unsere Herzen wirklich mit dem Herzen Gottes in Einklang bringen können. Für seine Jünger sind die liebevollen und doch fordernden Worte Jesu2 ein Programm der Heiligkeit: Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist (Mt 5,48). Es ist wahr: Jesus ist ein anspruchsvoller Freund, der sich hohe Ziele setzt3, sicherlich höhere als die von Mose, er geht bis zu den letzten Konsequenzen. Für Jesus erhält jedes Gebot seine volle Bedeutung als Gebot der Liebe, und sie alle kommen in dem größten Gebot zusammen: Gott von ganzem Herzen zu lieben und den Nächsten wie sich selbst (vgl. Mt 22,36-40). Die Liebe ist anspruchsvoll, und genau darin liegt ihre Schönheit.

IHR HABT GEHÖRT, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen (Mt 5,27-28). In einem Kommentar zu diesem Vers mahnt der heilige Gregor der Große: Wir müssen also wachsam sein, denn das, was man nicht begehren darf, soll man nicht sehen4. Die Gebote des Herrn sind nicht willkürlich, sondern entsprechen den Sehnsüchten des menschlichen Herzens, denn Gott kennt uns sehr gut und sagt uns, was der wahre Weg zum Glück ist. Zu Beginn der Rede hatte uns der Meister versichert, dass diejenigen gesegnet sind, die wirklich reinen Herzens sind (Mt 5,8).

Mit dieser Seligpreisung lädt uns der Herr ein, unseren Blick mit dem seinen zu identifizieren, eine Innerlichkeit zu entwickeln, die uns dazu bringt, unsere Zuneigung und unsere Gedanken auf ihn zu richten. Die Reinheit des Herzens nur auf die Bekämpfung von Versuchungen und ungeordneten Impulsen zu beschränken, könnte dazu führen, dass wir sie als Last empfinden. Dadurch verlieren wir die Tatsache aus den Augen, dass das Leben mit Gott unsere tiefsten Sehnsüchte in Wirklichkeit mit einer Liebe erfüllt, die sättigt, ohne je satt zu machen5. Wenn König David fleht: Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz (Ps 51,12), bittet er um die Fähigkeit, das wirklich Kostbare zu verkosten und zu genießen, nicht nur das Vergängliche.

Man darf nicht, erklärt der hl. Johannes Paul II., an der "Oberfläche" des menschlichen Tuns stehenbleiben; es gilt, gerade bis ins Innere vorzustoßen6. Im Kampf gegen die Sünde geht der Herr an die Wurzel, er zeigt auf das Herz, denn dort wird das Gute oder Böse unseres Handelns geschmiedet. Der heilige Josefmaria schlägt vor, die Art und Weise, wie du dem Meister folgst, aufrichtig zu prüfen. Überlege, ob deine Hingabe nur formelhaft, trocken und ohne den Elan des Glaubens ist; ob es in deinem Alltag an Demut, an Opfer, an Werken fehlt; ob bei dir nur die Fassade steht, du aber kein Gespür für die kleinen Anforderungen des Augenblicks zeigst... kurz, ob es dir an Liebe mangelt7.

WENN DICH DEIN rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird (Mt 5,29). Die Worte des Herrn ermahnen uns mit eindrucksvollen Bildern, keine Kompromisse mit dem Bösen zu machen. (...) Jesus ist in diesem Punkt radikal, fordernd, aber zu unserem Besten, wie ein guter Arzt. Jeder Schnitt, jedes Beschnitten-Werden dient dazu, besser zu wachsen und Früchte in der Liebe zu tragen. Fragen wir uns also: Was gibt es in mir, das dem Evangelium widerspricht? Was genau in meinem Leben soll ich wegschneiden, weil Jesus es will?8.

Der heilige Josefmaria rät: Sei nicht so feige, "mutig" zu sein: fliehe!9. Um ihm auf dem Weg zu folgen, müssen wir manchmal vor den Dingen fliehen, die uns von der Liebe abhalten, und auf das verzichten, was uns behindert. Wir haben einen verborgenen Schatz erworben, für den wir bereit sind, alles andere zu verkaufen, sogar Dinge, von denen wir wissen, dass sie gut sind. Treue zeigt sich vor allem dann, wenn sie mit Mühe und Leid verbunden ist10 und manchmal auch Verzicht erfordert. Der heilige Augustinus sagte:Bei dem, was man liebt, fühlt man entweder die Schwierigkeit nicht, oder man liebt die Schwierigkeit selbst (...). Die Mühen derer, die lieben, sind niemals schmerzhaft11.

Maria erlebte Momente der Freude und des Leids mit der gleichen Liebe. Wir können sie um ihre Fürsprache bitten, damit auch wir uns all diesen Situationen stellen können, in dem Wissen, dass alles, was Gott von uns verlangt, darin besteht, uns nahe an ihn zu halten.


1 Papst Franziskus, Generalaudienz, 29. Januar 2020

2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 33.

3 Hl. Johannes Paul II., Botschaft, 15. August 1996, Nr. 3.

4 Hl. Gregor der Große, Moralia, 21, 2.

5 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 208.

6 Hl. Johannes Paul II., Generalaudienz, 16. April 1980.

7 Hl. Josefmaria, Feuer, Nr. 930.

8 Papst Franziskus, Angelus, 26. September 2021.

9 Hl. Josefmaria, Weg, Nr. 132.

10 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 19-III-2022, Nr. 3.

11 Hl. Augustinus, De bono viduitatis, 21, 26.