"Ein Volk, das im Schatten sitzt“ muss sich entscheiden für Licht oder Schatten

Der Glaube vermittelt einen neuen Geschmack am Leben, ein freudiges Dasein auf der Welt. Jeder Christgläubige kann das entdecken – wie einst zu Zeiten Jesu das Volk von Galiläa. Zum Ausdruck kommt der christliche Glaube in der Hingabe für die anderen, schreibt Thomas Schauff in seiner Meditation zum Evangelium des 3. Sonntags im Jahreskreis.

Was ist? Was ist man nicht? Eines Schattens Traum der Mensch! Sobald aber Glanz, gottgegebener, kommt, ist strahlend Licht bei den Menschen, freundlich ihr Dasein.(Pindar 5. Jhdt. v. Chr.)

Eines Schattens Traum der Mensch! – σκιάςόναρ άνθρωπος: eine Grabinschrift in griechischer Sprache, die manches Grab auf dem Melaten-Friedhof in Köln ziert. Man sieht kein christliches Symbol, man liest keinen Gedanken aus der Heiligen Schrift oder der Liturgie der Kirche, nur das Zitat des vorchristlichen Lyrikers Pindar.

Wir staunen nicht wenig, wenn wir im Tagesevangelium des dritten Sonntags hören: denen, die im Schattenreich des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen. - τοῖς καθημένοις ἐν χώρᾳ καὶ σκιᾷ θανάτου φῶς ἀνέτειλεν αὐτοῖς. (Jesaja)

Eine hoffende Ahnung des Menschen gab es schon immer

Im fünften Jahrhundert verfasst Pindar in Theben seine 8. Pythische Ode – 200 Jahre vor ihm prophezeit Jesaja in Juda – etwa 1.500 Kilometer Luftlinie süd-östlich entfernt – das Licht, das den Menschen im Schattenreich des Todes erstrahlt. Offensichtlich ist es eine allgemeinmenschliche Erkenntnis oder besser gesagt: eine hoffende Ahnung des denkenden Menschen: wo Gott in diese Welt hineinwirkt, wird es hell. 700 Jahre nach Jesaja, 500 Jahre nach Pindar lesen wir:

Als Jesus hörte, dass Johannes ausgeliefert worden war, kehrte er nach Galiläa zurück. Er verließ Nazareth, um in Kafarnaum zu wohnen, das am See liegt, im Gebiet von Sébulon und Naftali. Denn es sollte sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist: Das Land Sébulon und das Land Naftali, die Straße am Meer, das Gebiet jenseits des Jordan, das heidnische Galiläa: Das Volk, das im Dunkel saß, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen. Von da an begann Jesus zu verkünden: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe. (Mt 4, 12-17)

Der Evangelist Matthäus zitiert den Propheten Jesaja. Da fragen wir uns: heute, 2000 Jahre nach dem Bericht des Matthäus, wie sieht es in unserer Welt heute aus? Gelten nicht diese Gedanken immer noch: Volk im Dunkeln – helles Licht – Kehrt um! Das Himmelreich ist nahe! Heute, 2000 Jahre nach der Menschwerdung, ist das Himmelreich immer noch ebenso nahe wie damals, als der Sohn Gottes in seiner menschlichen Gestalt unter uns weilte. Heute gilt ebenso wie damals: Kehrt um!

Wie Gott in der Seele des Menschen wirkt

Wenn ich umkehre (μετανοεῖν) zu Gott, wird es hell in meinem Leben. Wörtlich übersetzt heißt das: Wenn ich meinen Geist (νους), meine Vernunft auf Gott ausrichte, habe ich Licht in der Dunkelheit dieses Lebens. Einer, der das verstanden hat, ist der Apostel Paulus: „Alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne und Töchter Gottes“ [Rom 8,14). Diese Führung des Heiligen Geistes besteht für gewöhnlich weniger in konkreten Anweisungen, als in Orientierung und Erleuchtungen. Auf ganz unterschiedliche Art und Weise beleuchtet sie die kleinen und großen Ereignisse unseres Lebens und bezieht dabei die Befindlichkeiten des Einzelnen ein. So erscheint die eine oder andere Einzelheit in einem neuen und veränderten Licht, das nicht mehr nebelhaft und undeutlich ist, wie zuvor, sondern einen klareren Sinn erkennen lässt.

Die Eingebungen des Heiligen Geistes kommen bei vielen Gelegenheiten

Wie erhalten wir dieses Licht? Auf tausend verschiedene Weisen: beispielsweise beim Lesen der Heiligen Schrift oder der Werke von Heiligen oder von anderen geistlichen Büchern, oder auch in unerwarteten Situationen wie beim Gespräch mit Freunden, oder beim Lesen einer Nachricht... Bei unendlich vielen Gelegenheiten kann uns der Heilige Geist etwas eingeben. Aber er rechnet auch mit unserer Intelligenz und unserer Freiheit, die wir zur Verdeutlichung seiner Anregungen einsetzen. Man sollte lernen, diese Erkenntnisfunken im Gebet zu nützen, sie Tag für Tag in Ruhe zu betrachten, im Gebet zu verweilen und den Herrn zu fragen: „Was willst du mir mit dieser Angelegenheit sagen, die mich innerlich beschäftigt? Oder mit diesem Ereignis? Welche Vorschläge machst du mir für mein Leben?"

Die Würze im Leben: ein freudiges Dasein in der Welt

Das genau meint „aus dem Glauben leben“ und dadurch im Lichtkegel Gottes sein. Lassen wir einmal mehr unseren lieben verstorbenen Papst Benedikt mit ein paar erhellenden Gedanken zu Wort kommen: Der Glaube ermöglicht ein echtes Wissen über Gott, das die ganze menschliche Person einbezieht: Es ist ein »sapere«, also ein Erkennen, das dem Leben »sapor«, Geschmack, verleiht – einen neuen Geschmack am Leben, ein freudiges Dasein auf der Welt. Der Glaube kommt in der Selbsthingabe für die anderen zum Ausdruck, in der Brüderlichkeit, die solidarisch und liebesfähig macht und die Einsamkeit, die traurig macht, überwindet. Diese Erkenntnis Gottes durch den Glauben betrifft daher nicht nur den Verstand, sondern das ganze Leben. Sie ist die Erkenntnis Gottes, der die Liebe ist, durch seine eigene Liebe. Die Liebe Gottes lässt erkennen, öffnet die Augen, gestattet es, die ganze Wirklichkeit zu erkennen, über die beschränkten Sichtweisen des Individualismus und des Subjektivismus hinaus, die dem Gewissen die Orientierung nehmen. Die Erkenntnis Gottes ist daher Erfahrung des Glaubens und setzt gleichzeitig einen intellektuellen und einen moralischen Weg voraus: Zutiefst berührt von der Gegenwart des Geistes Jesu in uns überwinden wir die Horizonte unserer Egoismen und öffnen uns gegenüber den wahren Werten des Daseins.1

Das Geheimnis ist nicht irrational, sondern eine Überfülle an Sinn

Aus dem Glauben leben, heißt also, mein Leben am göttlichen Logos zu orientieren. Der Logos ist das menschgewordene Wort Gottes, es ist unsere Herr Jesus Christus. Aus dem Glauben leben, heißt also übernatürlich-vernünftig leben, nicht wider-vernünftig. In der bereits zitierten Generalaudienz fährt Benedikt XVI. fort: Die katholische Tradition hat von Anfang an den sogenannten Fideismus abgelehnt, also den Willen, auch gegen die Vernunft zu glauben. »Credo quia absurdum« (ich glaube, weil es unvernünftig ist) ist keine Formel, die den katholischen Glauben zum Ausdruck bringt. Denn Gott ist nicht etwas Unvernünftiges, sondern allenfalls Geheimnis. Das Geheimnis wiederum ist nicht irrational, sondern Überfülle an Sinn, an Bedeutung, an Wahrheit. Wenn der Vernunft das Geheimnis dunkel erscheint, dann nicht, weil es im Geheimnis kein Licht gibt, sondern weil es vielmehr zu viel davon gibt. So sehen die Augen des Menschen, wenn er sie direkt auf die Sonne richtet, um sie zu betrachten, nur Finsternis. Aber wer würde behaupten, dass die Sonne nicht leuchtet, ja sogar die Quelle des Lichts ist? Der Glaube gestattet es, die »Sonne«, Gott, zu betrachten, weil er die Annahme seiner Offenbarung in der Geschichte ist. Er empfängt sozusagen wirklich die ganze Helligkeit des Geheimnisses Gottes und erkennt sein großes Wunder: Gott ist zum Menschen gekommen, er hat sich seiner Erkenntnis dargeboten, indem er sich zur kreatürlichen Grenze seiner Vernunft herabgelassen hat.2

Wo finden wir dieses Licht? Wie kommt man zu dieser Lichtquelle? Der Herr sagt es uns: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“ Ist es „nur“ nahe oder ist es da? Das Perfekt des Prädikates heißt exakt übersetzt: ist angekommen (ἤγγικεν γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν). Nun wollen wir nicht sogleich eine tendenziöse Übersetzung vermuten, aber zumindest eine unscharfe Übersetzung stellen wir fest.

Das Reich Gottes ist durch Christus angekommen

Wie tragisch ist es doch, wenn dasselbe Prädikat in Mt 26,46 verwendet wird: „Der Verräter ist da“, er ist also nicht nur in der Nähe.3 Genauso ist es mit dem Himmelreich gemeint, wenn Jesus hier dasselbe Wort gebraucht: ἤγγικεν: Gekommen ist es, es ist da! Wer an Jesus als an den leibhaftigen Sohn Gottes glaubt, muss es geradezu so übersetzen. Denn wo immer der lebendige Sohn Gottes ist, da ist Gottes Reich und Herrschaft, das Himmelreich — wie es im Mt.-Ev. immer heißt — nicht bloß „nahe“, sondern schon gekommen: es ist unmittelbar da, gegenwärtig in Seiner menschlichen Erscheinung.

In Ihm selbst ist bereits alles vorhanden. In Seiner Menschennatur ist schon völlige Herrschaft des Himmels, Ordnung Gottes durchgesetzt — und da er die gleiche Menschennatur wie alle anderen trägt, ist grundsätzlich auch das Reich, die Gemeinschaft der Menschen, die ja nur „in Ihm“ existieren kann, anfänglich gegeben! Wenn wir nur von der „Nähe“ des Himmelreiches sprächen, würden wir die ungeheure Bedeutung missachten, die von diesem Worte aus, der Familie zukommt, aus der Jesus stammte! In Jesus, Maria und Josef war doch schon das „Himmelreich“ vollkommen auf Erden anwesend — Himmelreich als Herrschaft Gottes und auch schon als Reich, als Gemeinschaft der Menschen, die, obwohl auf Erden lebend, doch ganz Gottes, ganz des Himmels waren!4 Er ist das Reich Gottes in Person. Wo Er ist, ist das Königreich Gottes da! Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin Ich mitten unter ihnen (Mt 18,20).

Einmal mehr erinnert uns der hl. Josefmaria: Christus beginnt seine Predigt auf Erden nicht mit einem politischen Programm, sondern mit der Aufforderung: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe (da). Er beauftragt seine Jünger, diese frohe Botschaft zu verkünden, und Er lehrt uns, im Gebet die Ankunft des Reiches zu erbitten. Ein heiliges Leben, das ist das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; das ist es, was wir zuerst suchen, das ist das einzig wirklich Notwendige.5

1 Benedikt XVI., Generalaudienz am Mittwoch, 21. November 2012 (Jahr des Glaubens. Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott)

2 Ebenda

3 Vgl. Dillersberger, Matthäus II

4 Vgl. ebenda

5 Vgl. Josefmaria Escrivá, Christus begegnen Textabschnitt 180