Betrachtungstext: 8. Woche im Jahreskreis – Mittwoch

Der Sinn des Leidens – Den Kelch des Herrn trinken – Der Stolz, anderen zu dienen

EINES DER verwirrendsten Erlebnisse, die die Apostel mit dem Herrn hatten, dürfte seine Leidensankündigung gewesen sein. Sie verstanden nicht, warum der Meister, der große Wunder vollbracht und Menschenmassen mobilisiert hatte, von sich selbst sagte, er werde den Hohepriestern ausgeliefert, gegeißelt und zum Tode verurteilt werden (vgl. Mk 10,32-45). Vielleicht haben einige darin auch keinen Sinn gesehen: „Weshalb sollte Jesus auf etwas derart Entsetzliches zugehen? Und wenn er schon weiß, was ihm bevorsteht, warum trifft er keine Vorkehrungen, um einem so tragischen Ende zu entgehen?“ Diese Fragen stellen wir uns auch, wenn Leid über uns kommt, sei es körperlicher oder geistiger Art oder eine Mischung von beidem. Tatsächlich verstehen wir oft nicht, warum Gott Unglück überhaupt zulässt, in der Welt oder in unserem eigenen Leben. Und vielleicht denken wir wie die Apostel: Dass der Herr klarerweise alles unternehmen sollte, damit es nicht so weit kommt.

Es gibt keine vollständig befriedigende Antwort auf diese Fragen: Der Sinn des Leidens wird immer weitgehend ein Geheimnis bleiben. Wir können unseren Blick jedoch auf die Passion richten, wie es uns die Heiligen lehren. Vielleicht wäre es logischer gewesen, wenn Gott zu unserer Erlösung von der Sünde seine Macht zur Schau gestellt hätte. Damit hätte er Ungerechtigkeit und Übel wirksam aus der Welt schaffen können. Er hat jedoch den Weg des „Scheiterns“ am Kreuz gewählt. Papst Franziskus erklärt in einem Satz: „Jesus lässt zu, dass das Böse über ihn hereinbricht, und er nimmt es auf sich, um es zu besiegen.“1 Und gerade als alles verloren schien, drei Tage nach seinem Tod, greift Gott ein und erweckt seinen Sohn von den Toten. Der Same des Heils schlägt Wurzeln gemäß den Zeiten und Wegen der Vorsehung.

Der Heilige Vater lädt uns ein, den Ruf Jesu zu hören und „ihm auf demselben Weg der Erniedrigung nachzufolgen. Wenn wir in gewissen Augenblicken des Lebens keinen Ausweg aus unseren Schwierigkeiten finden, wenn wir in der tiefsten Dunkelheit versinken, dann ist dies der Augenblick unserer Erniedrigung und völligen Entäußerung, die Stunde, in der wir erfahren, dass wir schwach und Sünder sind. Und gerade dann, in diesem Augenblick, dürfen wir unser Scheitern nicht hinter einer Maske verbergen, sondern müssen uns vertrauensvoll der Hoffnung auf Gott öffnen, wie Jesus es getan hat.“2


DIE ANKÜNDIGUNG der Passion steht im Kontrast zu den Wünschen der Apostel. Jesus spricht von Schmerz und Niederlage, und Jakobus und Johannes treten mit einer Bitte an ihn heran: Lass in deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den andern links neben dir sitzen! (Mk 10,37). Der Herr macht ihnen wegen dieser Bestrebungen jedoch keinen Vorwurf. Er mag sogar eine gewisse Genugtuung empfunden haben, denn die beiden Brüder hatten verstanden, dass es kein größeres Ziel gab, als ihr ganzes Leben mit ihm zu verbringen. Aber zugleich erwiderte er ihnen: Ihr wisst nicht, worum ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde? (Mk 10,38). Jesus zeigt Geduld und redet mit den Aposteln, damit sie immer besser verstehen, welches Leben sie erwartet, wenn sie seinem Weg folgen. Nicht alles würde so einfach bleiben wie damals. Da Jesus ständig Wunder wirkte und das Volk begeistert war, dachten sie, dass ihnen nichts Schlimmeres passieren könne. Daher korrigiert der Herr die Vorstellungen der Jünger: In einer von der Sünde und dem Einfluss der Kräfte des Teufels geprägten Welt gibt es keine Herrlichkeit ohne Kreuz.

Jakobus und Johannes beantworten die Frage des Herrn, ohne zu zögern: Wir können es (Mk 10,39). Wahrscheinlich waren sie sich nicht ganz darüber im Klaren, was sie sagten. Wie Liebende fühlten sie sich in der Lage, alle Verrücktheiten zu begehen, die nötig sind, um an die Liebe heranzukommen, die ihrem Leben Sinn gab. Und Jesus weiß, dass es so sein würde: Ihr werdet den Kelch trinken, den ich trinke, und die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde (Mk 10,39). Auch wenn die Apostel gelegentlich untreu sein und den Nachstellungen des Bösen nachgeben werden, werden sie am Ende den Kelch trinken und ihr Leben für das Evangelium hingeben. Doch auch wenn die Finsternis im menschlichen Dasein „ihre Stunde“ hat, besiegt Christus den Tod und ist Herr der Geschichte. „Dieses possumus! ist nicht anmaßend“, schrieb der heilige Josefmaria. „Christus zeigt uns diesen göttlichen Weg und bittet uns, ihn zu gehen, denn er hat ihn für uns Menschen eröffnet und gangbar gemacht. Deshalb ist er so weit herabgestiegen.“3 Jesus ist für uns nicht nur ein Beispiel, sondern geht auch immer an unserer Seite und schenkt uns seine Gnade, damit wir wie die Apostel den Kelch trinken können, der uns an die Quellen der Herrlichkeit führt.


DIE ANDEREN Apostel waren über die Frage von Jakobus und Johannes verärgert. Die einen dürften ihnen vorgeworfen haben, dass sie nach Ruhm und Ehre strebten, während Jesus gerade sein Todesurteil verkündet hatte. Andere empfanden wohl eine andere Art von Ärger, nämlich das ungute Gefühl, dass jene sich nun den Platz in der Nähe des Meisters gesichert hatten, den sie selbst begehrten. Jesus, der ihre Gedanken durchschaute, rief sie zusammen und sagte zu ihnen: Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein (Mk 10,43-44). Damit durchbrach der Herr ihre Denkweise. Nicht Macht oder Anerkennung verleihen dem Apostel Größe, sondern der Wunsch zu dienen und dessen tatsächliche Umsetzung. Das Kriterium, weshalb jemand in den Augen Gottes groß ist, ist nicht seine Fähigkeit, Einfluss auszuüben oder zu herrschen, sondern die Liebe, mit der er den anderen begegnet und die im Dienen Gestalt annimmt. Nach dieser Logik kann unser Leben zu einem Zeichen dafür werden, wie schön und beglückend ein Leben mit Jesus Christus ist, da wir die uns verliehenen Talente nutzen, um unsere Mitmenschen glücklich zu machen. Wir können uns also fragen: Inwieweit ist das, was ich tue, der Absicht und Art der Umsetzung nach, ein Ausdruck der Nächstenliebe, des Dienens?

Don Alvaro del Portillo, der den heiligen Josefmaria besser als jeder andere kannte, hinterließ uns folgendes Zeugnis: „Wie oft habe ich den Vater sagen hören: ,Mein Stolz ist es, zu dienen.‘ Diesen Stolz, den anderen zu dienen – die priesterliche Seele –, hat uns der Vater auf tausenderlei verschiedene Weisen eingetrichtert: mit seiner ständigen Unterweisung und zahllosen konkreten Taten, großen und kleinen; so zum Beispiel ließ er sich in den alltäglichen Dingen nicht helfen, wobei er die Worte Jesu wiederholte: Non veni ministrari, sed ministrare (Ich bin nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen); oder ließ auf Wandtafeln oder -teppiche einmeißeln oder schreiben: „Para servir, servir“, um zu dienen, muss man dienen.“4 Auch die Mutter Gottes hatte diesen Stolz zu dienen – Siehe, ich bin die Magd des Herrn –, der sie dazu führte, selbst glücklich zu sein und sogar Gott zu erobern: Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut (Lk 1,47-48).


1 Franziskus, Audienz, 16.4.2014.

2 Ebd.

3 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 15.

4 Sel. Alvaro del Portillo, Instrucción Mai 1935/14.9.1950, Anmerkung 14.

Foto: Abdullah al Imran (unsplash)