NAHE Jerusalem, auf dem Weg zur heiligen Stadt, erzählte Jesus seinen Jüngern das Gleichnis vom anvertrauten Geld (vgl. Lk 19,11-27): Ein Mann, der zum König gekrönt werden sollte und in ein fernes Land reisen musste, übertrug einer Handvoll seiner Diener sein Vermögen in der Erwartung, dass sie es gewinnbringend einsetzen würden. Jeder Diener erhielt denselben Betrag: eine Mine – etwa ein halbes Kilo Silber1. Mit unmissverständlichen Worten erteilte der Herr seinen Dienern die Anweisung: Macht Geschäfte damit, bis ich wiederkomme! (Lk 19,13).
Wenn wir auf unsere persönlichen Talente blicken, wird uns klar, wie sehr der Herr auf uns baut. Unsere Mine ist die einzigartige Art und Weise, wie wir an seiner Sendung teilhaben. Es sind Gaben, die wir in Kirche, Welt und Gesellschaft einbringen können. Zusätzlich haben wir das wertvolle Geschenk des Glaubens an Christus erhalten und die Möglichkeit, durch die Sakramente am göttlichen Leben teilzuhaben – alles in allem „unauslotbare Schätze der Liebe, des Erbarmens und der Zuneigung“2, wie der heilige Josefmaria sagte. Der zweite Petrusbrief beschreibt die Gaben als kostbare und überaus große Verheißungen, durch die wir Anteil an der göttlichen Natur (2 Petr 1,4) erhalten.
Das Gleichnis zeigt auf, wie sehr der künftige König seinen Dienern vertraut. Er lässt ihnen einen gewaltigen Freiraum und verzichtet auf detaillierte Anweisungen. Zwei von ihnen begreifen schnell, dass dieser Freiraum eine Einladung ist, mutig und großzügig zu handeln. Sie nehmen das Vertrauen ihres Herrn an und setzen ihre Talente ein, um für ihre Mitmenschen Gutes zu bewirken. Damit setzen sie auch die Empfehlung des ersten Petrusbriefs um: Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat (1 Petr 4,10-11).
ALS ER die Königswürde empfangen hatte und zurückkehrte, da ließ er die Diener, denen er das Geld gegeben hatte, zu sich rufen. Er wollte sehen, welchen Gewinn sie bei ihren Geschäften erzielt hatten (Lk 19,15). Die ersten beiden Diener hatten den Schatz, der ihnen überlassen worden war, mit Klugheit und Fleiß vermehrt und ihr Einsatz wurde reich belohnt. Der König lobte jeden persönlich mit den Worten: Sehr gut, du bist ein guter Diener. Weil du im Kleinsten zuverlässig warst … (Lk 19,17).
„Die Gaben, die Gott uns gegeben hat, gehören nicht uns, sondern sind uns gegeben, damit wir sie zur Ehre Gottes gebrauchen“, sagte einmal die heilige Teresa von Kalkutta: „Lasst uns großzügig sein und alles, was wir haben, für den guten Meister einsetzen.“3 Meist werden wir die „Geschäfte“ mit unseren Talenten in den gewöhnlichen Umständen unseres Lebens betreiben, im Alltäglichen, in den Aufgaben und Begegnungen, die auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen können. Doch die Heilige ermutigt uns: „Was immer wir tun – und auch wenn es nur darum geht, jemanden über die Straße zu führen –, wir tun es für Jesus. Wenn wir jemandem ein Glas Wasser reichen, geben wir es Jesus. Gott rechnet mit unserer täglichen Entsprechung, die aus vielen kleinen Dingen besteht, die kraft seiner Gnade groß werden.“4
Origenes, einer der ersten christlichen Schriftsteller, stellte sich die Frage: „Was kann der Mensch Gott anbieten?“ Und seine Antwort lautete: „Seinen Glauben und seine Liebe. Das ist, worum Gott den Menschen bittet. (...). Das sind die Geschenke, die Gaben, die Gott dargebracht werden sollen.“5 In Wahrheit ist die Tatsache, dass Gott uns die Möglichkeit geben wollte, Gutes zu tun, statt es selbst zu tun, ein Geschenk. Das göttliche Vertrauen in uns schafft Vielfalt und Pluralität – sei es im Dienst an unseren Mitmenschen oder bei der Umgestaltung der Welt. Der heilige Josefmaria fasste diese Verantwortung so zusammen: „Jede Christengeneration muss ihre eigene Zeit erlösen und heiligen.“6
DER DRITTE Diener im Gleichnis hatte nicht die Interessen seines Herrn im Sinn. Seine Hauptsorge galt seiner eigenen Sicherheit. Statt aktiv zu handeln, wickelte er die erhaltene Mine in ein Tuch und gab sie später unversehrt zurück: Herr, siehe deine Mine (Lk 19,20). Anders als seine zwei Kollegen hat sich dieser Diener, wie der heilige Josefmaria sagte, „ohne jedes Verantwortungsgefühl für die bequeme Lösung entschieden, nämlich zurückzugeben, was ihm anvertraut wurde. Und somit schlug er die Zeit tot: Minuten, Stunden, Tage, Monate, Jahre, das ganze Leben!“7 Dadurch entging ihm die Möglichkeit, seine Talente zu nutzen und das Abenteuer zu erleben, an etwas Großem teilzuhaben.
Der König wies diesen Diener nach seiner Rückkehr scharf zurecht; er sei ein schlechter Diener (Lk 19, 22), weil er das ihm anvertraute Kapital ungenutzt gelassen habe. Der heilige Beda kommentiert: „Das Geld in ein Tuch wickeln, bedeutet so viel wie die erhaltenen Gaben unter der Trägheit eines laschen Körpers zu vergraben (...). Er wird als schlechter Diener bezeichnet, weil er faul war bei der Erfüllung seiner Pflicht.“8 Zwischen der Angst, zu scheitern, und dem Wunsch, keine Mühe auf sich zu nehmen, versäumte er es, das Glück zu erlangen, zu dem er berufen war.
„Vor uns liegt eine große Aufgabe“, erinnerte der heilige Josefmaria. „Es ist undenkbar, passiv zu bleiben, denn der Herr sagt uns ausdrücklich: Treibt Handel, bis ich wiederkomme. Während wir auf die Rückkehr des Herrn warten, der wiederkommen wird, um sein Reich in Besitz zu nehmen, können wir nicht die Arme in den Schoß legen.“9 Ein inspirierendes Vorbild ist die selige Jungfrau Maria, die sich nach der Verkündigung sofort aufmachte, um ihre Cousine Elisabeth zu besuchen, und die empfangene Gnade mit Freude teilte; nicht eine Sekunde lang vergrub sie die Gabe, mit der Gott sie erfüllt hatte. Bitten wir Maria, uns eine Kühnheit wie die ihre zu schenken, damit auch wir unsere Talente zum Wohl der anderen und zur Verherrlichung Gottes einsetzen.
1 Mine ist eine Währungseinheit in der Antike für große Beträge und eine Gewichtseinheit. Edelmetalle (Gold oder Silber) wurden zur Bezahlung von Waren abgewogen, die Grundeinheit war der Schekel (hebr. “Gewicht”). 60 Schekel entsprechen einer Mine, 60 Minen ergeben 1 Talent. 1 Mine = ca. 570 g, später 327,45 g Silber oder Gold.
2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 162.
3 Hl. Teresa von Kalkutta, El amor más grande, Kap. 5.
4 Fernando Ocáriz, Im Licht des Evangeliums, S. 67.
5 Origenes, Homilien über das Buch Numeri, Nr. 12, 3.1.
6 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 132.
7 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 45.
8 Hl. Beda der Ehrwürdige, Zitat zu der Stelle in der Catena Aurel.
9 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 121.