DIE HERZLICHE und zugängliche Art Jesu ließ die Menschen schnell Vertrauen zu ihm fassen. Es fällt ihnen leicht, sich dem Meister zu nähern und ihm offen jede Schwierigkeit anzuvertrauen. Viele kommen mit großen Fragen zum ihm, andere sprechen eher alltägliche Probleme an. Der Gottessohn geht auf jede Bitte ein und lässt niemanden ziehen, ohne ihm Trost und Orientierung geschenkt zu haben.
Lukas berichtet von einem Mann, der sich direkt und voller Vertrauen an den Herrn wandte: Meister, sag meinem Bruder, er soll das Erbe mit mir teilen! (Lk 12,13). Das Anliegen dieses Mannes ist aus menschlicher Sicht verständlich. Dennoch kennen wir weder die Einzelheiten des Streits noch wissen wir, wer im Recht ist. Klar ist jedoch, dass der Mann sich in einer belastenden Situation befindet und bei Gott nach einer Lösung sucht. Jesus entgegnet: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbteiler bei euch eingesetzt? (Lk 12,14).
Mit dieser Antwort will der Herr sich nicht unseren Sorgen entziehen. Vielmehr weist er uns auf die Quelle hin, aus der heraus wir unsere Probleme lösen und in unseren Häusern das Reich Gottes errichten können: mit unserer Freiheit. Jesus ist gekommen, um uns von unseren Sünden zu befreien und uns seine Gnade zu schenken. Gleichzeitig überlässt er uns die Verantwortung, viele Aspekte unseres Lebens selbst zu gestalten, wie er an anderer Stelle betont: Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört! (Lk 20,25). Wie Papst Franziskus erklärt, zeigt uns Jesus damit, dass „das Gebet kein Beruhigungsmittel ist, um unsere Lebensängste zu lindern; oder zumindest wäre ein solches Gebet gewiss nicht christlich. Das Gebet weckt vielmehr das Verantwortungsbewusstsein eines jeden von uns.“1
JESUS nutzt die Bitte des Mannes als Gelegenheit, seine Zuhörer zu ermahnen, sich von den irdischen Gütern zu lösen: Gebt Acht, hütet euch vor jeder Art von Habgier! Denn das Leben eines Menschen besteht nicht darin, dass einer im Überfluss seines Besitzes lebt (Lk 12,15). Um seine Botschaft zu verdeutlichen, erzählt der Herr das Gleichnis von einem Gutsherrn, der nach reicher Ernte beschloss, neue, größere Scheunen zu errichten, um sein Korn darin zu lagern und es sich fortan gut gehen zu lassen. Doch Gott ließ ihn wissen, dass er noch in derselben Nacht abberufen werden würde, und gab ihm zu bedenken, wie töricht es war, sich vor allem um die Anhäufung vergänglicher Güter zu kümmern und dafür jene zu vernachlässigen, die von bleibendem Wert gewesen wären. Das Schicksal dieses Mannes hätte anders verlaufen können, wenn er erkannt hätte, dass all seine Reichtümer in Wahrheit Gelegenheiten waren, Gott zu lieben. Wie es im Alten Testament heißt: Ehre den Herrn mit deinem Vermögen, mit dem Besten von dem, was du erntest! Dann füllen sich deine Scheunen im Überfluss, deine Fässer laufen über von Most (Spr 3,9-10).
Jesus verurteilt weder den Reichtum noch die kluge Verwaltung materieller Güter. Doch er warnt davor, unsere Herzen von diesen Gütern einnehmen zu lassen, da sie nur eine relative und oberflächliche Freude bieten. Der heilige Josefmaria betont dies ebenfalls: „Wenn jemand sein Glück ausschließlich in den Dingen dieser Welt sucht – ich habe wahre Tragödien erlebt –, verdirbt er ihren vernünftigen Gebrauch und zerstört die vom Schöpfer weise festgelegte Ordnung. Das Herz ist dann traurig und unzufrieden und irrt auf Pfaden ewigen Verdrusses umher.“2 Hingegen erlaubt uns die Loslösung von den irdischen Gütern, unseren Blick zu heben und über das hinauszublicken, was unverzichtbar zu sein scheint. Dadurch erkennen wir die Gaben, die der Herr für uns bereithält: Seid ihr nun mit Christus auferweckt, so strebt nach dem, was oben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt! Richtet euren Sinn auf das, was oben ist, nicht auf das Irdische! (Kol 3,1-2).
DIE LOSLÖSUNG ermöglicht es uns, jene Güter zu entdecken, für die sich der Einsatz lohnt. Ein Vorbild hierfür ist Abraham. Paulus beschreibt ihn im Römerbrief als jemanden, der nicht im Unglauben an der Verheißung Gottes zweifelte, sondern stark wurde im Glauben, indem er Gott die Ehre erwies, fest davon überzeugt, dass Gott die Macht besitzt, auch zu tun, was er verheißen hat (Röm 4,20-21). Nichts ist immaterieller und weniger unmittelbar als eine Verheißung, doch genau das gab Gott Abraham. Er schenkte ihm fürs erste kein Land, keinen Nachkommen und keine Reichtümer, sondern: eine Verheißung. Abrahams Erbe ist fast rein immateriell, doch es stellt den größten Reichtum dar, den man sich vorstellen kann: Gott umsorgte ihn sein Leben lang und war seiner Familie nahe. Schließlich erfüllten sich Gottes Zusagen, und Abrahams Nachkommenschaft und das verheißene Land wurden zu einer Realität, die alle Vorstellungen überstieg.
Durch Loslösung erlangen wir die Fähigkeit, die immateriellen Güter zu erkennen, mit denen Gott uns wirklich reich machen möchte – so wie er es bei Abraham und vielen Heiligen getan hat. Diese Gaben sind nicht nur für das ewige Leben bestimmt, sondern wir können sie oft schon im Hier und Jetzt erfahren: die Nähe Gottes in den Sakramenten, die Liebe unserer Familie und Freunde, die Freude, anderen zu dienen, oder die Zufriedenheit, die wir bei sinnvoller und geheiligter Arbeit empfinden. In all dem erkennen wir die stille Segensweise der göttlichen Vorsehung. Der heilige Josefmaria ermutigt uns: „Gleichsam mit Feuer möchte ich euch einprägen, dass wir alle Gründe haben, um optimistisch durch diese Welt zu gehen, innerlich losgelöst von so vielen, angeblich unentbehrlichen Dingen; denn euer Vater weiß ja, dass ihr das braucht (Lk 12,30), und er wird für alles sorgen. Glaubt mir: Nur so leben wir wahrhaft als Herren der Schöpfung.“3 Möge Maria, die ihr Glück in die Verheißung gesetzt hat, Mutter Gottes zu sein, uns helfen, die wahren Reichtümer zu entdecken, die der Herr für uns bereithält.
1 Franziskus, Audienz, 21.10.2020.
2 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 118.
3 Ebd., Nr. 116.