ICH BIN als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt. Wer meine Worte nur hört und sie nicht befolgt, den richte nicht ich; denn ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um die Welt zu retten (Joh 12,46-47). Diese Worte spricht Jesus kurz vor dem Passahfest, als der Druck seitens einiger Juden bereits unerträglich ist. Die Führer des Volkes bedrängen und kritisieren ihn ohne Unterlass. Sie hinterfragen seine Worte, beurteilen seine Absichten und beschuldigen ihn, sogar wenn er Wunder wirkt. Nichts, was er tut, ist ihnen recht. In dieser feindseligen Atmosphäre erinnert sie Jesus daran, dass er gekommen ist, um zu retten, nicht um zu verurteilen. Stets streckt er den Bedürftigen die Hand entgegen – ohne Vorwürfe und ohne Bedingungen.
Für uns Gläubige, die wir danach streben, Christus in uns leben zu lassen, ist es nur natürlich, dass wir eben diese Haltung gegenüber unseren Mitmenschen einnehmen möchten. Wenn schon der Sohn Gottes nicht gekommen ist, um zu verurteilen, wie viel weniger sollten wir es tun? Wenn wir andere verurteilen, riskieren wir, dass unser eigenes Herz in eine Spirale der Selbstsucht gerät. Deshalb bitten wir Jesus Christus, uns zu helfen, unser Inneres nach seinem Bild zu gestalten.
Letztlich ist es eine Frage der Liebe. So schrieb der heilige Josefmaria: „Ich habe euch anschaulich und humorvoll vor Augen geführt, wie unterschiedlich man ein und dasselbe Phänomen wahrnehmen kann, je nachdem, ob man es mit oder ohne Zuneigung betrachtet.“ Er hatte von einem Kind erzählt, das ständig den Finger in der Nase hatte, sodass die Gäste empört flüsterten: „Wie unanständig!“ Die Mutter hingegen meinte liebevoll: „Er wird einmal Forscher werden!“ Daraus schloss der Gründer des Werkes: „Schaut eure Brüder und Schwestern mit Liebe an, und ihr werdet – voller Zuneigung – erkennen, dass wir alle Forscher sind.“1
IM EVANGELIUM nach Lukas erzählt Jesus seinen Jüngern folgendes Gleichnis: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen!, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? (Lk 6,41-42). Wir neigen oft dazu, das Verhalten anderer schneller zu beurteilen als unser eigenes. Doch Jesus ist unmissverständlich: Wenn wir die Welt um uns herum und unsere Mitmenschen verbessern wollen, müssen wir zunächst bei uns selbst anfangen. Es gilt, unsere eigenen Augen zu reinigen und uns von der Barmherzigkeit Gottes heilen zu lassen.
Der heilige Kyrill von Alexandria kommentierte dazu: „Warum richtest du, wenn der Meister nicht geurteilt hat? Wenn ich nicht richte, sagt er, so richtet auch ihr nicht, die ihr meine Jünger seid. Es könnte sonst leicht geschehen, dass du an dem, den du verurteilst, schuldig wirst.“2 Bevor wir das Verhalten unserer Brüder und Schwestern beurteilen, lädt uns Jesus ein, ehrlich in unser eigenes Herz zu schauen. Nur aus dieser persönlichen Demut heraus können wir klarer erkennen, was um uns herum geschieht. Eine aufrichtige Gewissenserforschung, die zur Selbsterkenntnis führt, ist der erste Schritt, bevor man versucht, andere zu verbessern. Sobald wir den „Balken“ in unserem eigenen Auge erkennen, erscheinen die „Splitter“ der anderen in einem neuen Licht – in einer anderen Perspektive. Doch wir dürfen hoffnungsvoll bleiben, denn der Blick, der auf uns ruht, ist der eines barmherzigen Gottes.
Der heilige Augustinus schrieb zu dieser Stelle: „Wenn wir verpflichtet sind, andere zu verbessern oder zurechtzuweisen, sollten wir uns stets fragen: Sind wir selbst frei von diesem Fehler? Sind wir davon geheilt? Und auch wenn wir nie in diesen Fehler gefallen sind, sollten wir uns bewusst machen, dass wir Menschen sind und jederzeit hineinfallen könnten. Wenn wir diesen Fehler in der Vergangenheit aber begangen haben, sollten wir uns an unsere eigene Schwäche erinnern, damit uns bei der Korrektur das Wohlwollen leitet.“3
JESUS fordert uns immer wieder auf, wie Papst Franziskus sagt, „einen Blick zu entwickeln, der nicht beim Äußeren stehen bleibt, sondern der auf das Herz sieht“4. Indem wir die anderen so respektieren, wie sie sind, wird deutlich, dass wir nicht die Absicht haben, sie nach unseren eigenen Vorstellungen zu formen. Auf diese Weise werden sich die Menschen um uns herum wirklich frei fühlen und erkennen, dass wir nur an ihrem Glück und ihrer Heiligkeit interessiert sind. Der heilige Josefmaria sagte häufig, dass er seinen Kindern „die Liebe zur Freiheit und die gute Laune“5 hinterlassen möchte. Diese beiden Eigenschaften helfen uns, stets die positiven und sogar köstlichen Seiten eines jeden unserer Brüder und einer jeden unserer Schwestern in den Vordergrund zu rücken und ihre Freiheit zu verteidigen.
Dann werden die möglichen Unzulänglichkeiten unserer Mitmenschen keine unüberwindbaren Hindernisse darstellen, sondern Gelegenheiten sein, für sie zu beten und ihnen gegenüber echte bedingungslose Zuneigung zu zeigen. Auch wenn wir jemandem helfen möchten, sich zu verbessern, können wir offen aussprechen, was uns auffällt, damit der Betreffende es vor Gott prüft und einen Entschluss fasst. Dies soll jedoch niemals zu einer vorwurfsvollen Haltung verleiten, zu einem innerem Abstand oder einem Urteil über seine Absichten. Papst Franziskus betont: „Wenn wir den Weg Jesu gehen wollen, dürfen wir nicht Ankläger, sondern müssen vielmehr Verteidiger der anderen vor dem Vater sein.“ Wenn wir etwas Negatives an einem anderen bemerken, sollten wir sofort „für ihn beten und ihn vor Gott Vater verteidigen, so wie Jesus es tut.“6
Maria, die Gottesmutter, ist die erste, die uns verteidigt. Mit mütterlichem Herzen sieht sie unsere Talente und Schwächen. Wir bitten sie, uns sanft zu helfen, den Balken in unseren eigenen Augen zu erkennen, damit auch wir, wie sie, mit Gebet und Zuneigung auf die kleinen Splitter in den Augen unserer Brüder und Schwestern reagieren können.
1 Hl. Josefmaria, Briefe 27, Nr. 35.
2 Hl. Kyrill von Alexandria, Kommentar zum Evangelium des heiligen Lukas, 6, PG 72, 601-604.
3 Hl. Augustinus, Über die Bergpredigt nach Matthäus, Nr. 19.
4 Franziskus, Angelus-Gebet, 27.6.2021.
5 Hl. Josefmaria, Briefe 24, Nr. 22.
6 Franziskus, Tagesmeditation, 23.6.2014.