Betrachtungstext: 14. Woche im Jahreskreis – Samstag

Gott kennt unsere Kämpfe – Die Dinge beim Namen nennen – Aufrichtigkeit in der geistlichen Führung

IN DEN JAHREN seines irdischen Wirkens traf Jesus viele Menschen, die ihm aufrichtig ihre Herzensangelegenheiten offenbarten. Doch er begegnete auch anderen, die nicht dieselbe Liebe zur Wahrheit an den Tag legten; vielleicht vollbrachten sie gute Taten, aber ihre Absichten waren nicht immer lauter. In einer solchen Situation rief der Herr daher aus: Denn nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird (Mt 10,26).

Christus kennt uns genau. Für ihn existiert keine Schminke, die unsere Mängel zudeckt und unsere Stärken hervorhebt: Er möchte, dass unsere Beziehung mit ihm schlicht und aufrichtig ist. Wie der Psalmist wollen wir beten: Herr, du hast mich erforscht und kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. Du durchschaust meine Gedanken von fern. Ob ich gehe oder ruhe, du hast es gemessen. Du bist vertraut mit all meinen Wegen (Ps 139,1-4).

Der Herr ist mit all unseren Kämpfen und Bemühungen vertraut. Selbst wenn wir versagen, dürfen wir unseren inneren Frieden bewahren, denn er kennt die tiefsten Absichten unseres Herzens. Deshalb wollte uns der heilige Josefmaria jegliche Angst nehmen, uns so zu sehen, wie wir vor Gott sind: „Wie du offen und einfach wirst? Vernimm und betrachte in deinem Herzen die Worte des Petrus: Domine, tu omnia nosti ... – Herr, du weißt alles!“1 Nichts gibt uns mehr Frieden als diese Nähe zu Gott, dem auch nicht die kleinste Absicht der Liebe entgeht.


DIE AUFRICHTIGKEIT im Umgang mit Gott führt uns dazu, dass wir uns selbst genau kennen, unsere Persönlichkeit und unsere Wesensart, mit all ihren Möglichkeiten, den anderen zu dienen, und auch ihren Grenzen. Beim heiligen Josefmaria lesen wir: „Du hast begriffen, was Aufrichtigkeit ist, da du schreibst: ,Ich versuche, mich daran zu gewöhnen, die Dinge beim Namen zu nennen und vor allem, keine Bezeichnungen für Dinge zu suchen, die es gar nicht gibt.‘“2

Der Apostel Johannes mahnt zur Selbsterkenntnis: Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre und die Wahrheit ist nicht in uns (1 Joh 1,8). Und Papst Franziskus fährt fort: „Denn wir haben alle gesündigt, wir sind alle Sünder.“ Doch diese Einsicht genügt nicht, erklärt der Papst, denn „hier gibt es etwas, das uns täuschen kann: Wenn wir sagen ,Wir sind alle Sünder‘, wie andere ,Guten Morgen‘, ,Guten Tag‘ sagen, wie eine Gewohnheit oder sogar eine soziale Gepflogenheit, dann haben wir kein wirkliches Bewusstsein der Sünde.“3 Wenn wir in diese versteckte Routine geraten, kann es uns schwer fallen, einzelne Fehler zuzugeben und uns bedürftig zu zeigen. Doch gerade in diesem aufrichtigen Eingeständnis finden wir Vergebung und Gottes Hilfe, um uns zu läutern, wie Johannes ergänzt: Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht; er vergibt uns die Sünden und reinigt uns von allem Unrecht (1 Joh 1,9).

Aufrichtigkeit führt zur Konkretheit. Die Sünde ist keine abstrakte Idee, sondern eine Realität, die sich im täglichen Leben äußert. Im Dialog mit Gott können wir die Haltungen benennen, die uns von ihm und von den anderen entfremden, und oftmals können wir diese Erkenntnisse in Vorsätze ummünzen, die unser Streben nach Heiligkeit nähren werden. Wir bitten den Herrn um die Weisheit des Konkreten, um uns selbst gegenüber aufrichtig zu sein und so Gott und unsere Mitmenschen jeden Tag besser zu lieben.


IN DER STUNDE der Selbsterkenntnis kann eine gewisse Schwierigkeit in der mangelnden Perspektive liegen. Die Volksweisheit bringt dies in folgendem Sprichwort zum Ausdruck: „Ein guter Arzt behandelt nicht sich selbst.“ Aufgrund der Sünde oder einfach aufgrund des fehlenden Abstands trifft unsere Selbstbeurteilung zuweilen nicht wirklich ins Schwarze: Uns fehlt der Raum, um in Ruhe und Gelassenheit zu beurteilen, wie wir bestimmte Phasen unseres Lebens angehen sollen. Deshalb stellt Gott uns Menschen zur Seite, die uns helfen können, bestimmte Abschnitte des Weges zu erhellen. Wenn wir mit jemandem über unser Leben reden, der unser Vertrauen gewonnen hat, schafft das, wie Papst Franziskus sagte, „eine der schönsten und innigsten Formen der Kommunikation, (...). Es lässt uns bis dahin unbekannte Dinge entdecken, kleine und einfache Dinge, aber, wie es im Evangelium heißt, gerade aus den kleinen Dingen entstehen die großen Dinge.“4

In der geistlichen Führung finden wir die Begleitung durch einen Menschen, der uns manchmal bloß durch seine Anwesenheit und manchmal durch die Weisheit seiner Erfahrung helfen kann, Gott und uns selbst besser kennenzulernen. Der heilige Josefmaria gab uns einen Ratschlag für solche Gespräche: „Wenn du dein Herz öffnest, bring zuerst das zur Sprache, wovon du nicht möchtest, dass es bekannt wird. Auf diese Weise wird der Teufel jedes Mal besiegt. Öffne die Tore deiner Seele sperrangelweit, sei ganz klar und einfach, damit die Sonne der Liebe Gottes sie bis in den letzten Winkel hinein erleuchten kann.“5

Die Hilfe der geistlichen Führung wird sich nicht immer in Form von konkreten Vorschlägen für den Umgang mit einem Problem niederschlagen. Manchmal finden wir Licht, dadurch dass wir einfach aufrichtig sind, dadurch dass wir ein Anliegen in Worte fassen und demütig zugeben, dass wir Hilfe brauchen. Auch der heilige Josefmaria bemerkte nach vielen Jahren der Erfahrung des geistlichen Begleitens und Begleitetwerdens: „In aller Aufrichtigkeit hast du in der Gegenwart Gottes deinem Leiter das Herz ausgeschüttet ... Und es war wunderbar zu sehen, wie du von allein allmählich die rechten Antworten auf deine ,Ausweichmanöver‘ fandest.“6 Bitten wir Maria, dass sie uns jene Aufrichtigkeit gegenüber Gott, gegenüber uns selbst und gegenüber den anderen schenkt, die uns zu immer einfacheren Seelen macht.


1 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 326.

2 Ebd., Nr. 332.

3 Franziskus, Predigt, 29.4.2020.

4 Franziskus, Audienz, 19.10.2022.

5 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 126.

6 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 152.

Foto: Stephen Leonardi (unsplash)