DER WUNSCH, Jesus zu sehen, ist groß. Noch vor ein paar Tagen drängten sich die Leute vor dem Haus Simons, mittlerweile ist nicht einmal mehr vor der Türe Platz (Mk 2,2). Es erfüllt sich, was Petrus gesagt hatte: Alle suchen den Meister. Jesus hat ihre Herzen berührt und in einem besetzten und unterdrückten Volk die Saat der Hoffnung gesät – einer Hoffnung, die die kühnsten Träume der Menschen übersteigt. Seine Worte und Wunder haben die lange ersehnte Erfüllung der Verheißung des Messias in greifbare Nähe gerückt.
Was, wenn er wirklich der Messias ist?, fragen sich die Leute. Für die einfachen Menschen, die sich um Jesus scharen, gibt es kein größeres Privileg, als demjenigen zu lauschen, der sie mit seiner Lehre erleuchtet. Viele von ihnen, die bisher am Rande der Gesellschaft standen, spüren jetzt, dass sie einen unermesslichen Schatz gefunden haben. Diejenigen, die einst die Letzten waren, sehen sich nun dazu gerufen, das Volk der Verheißung anzuführen.
Inmitten dieser Menschenmenge befinden sich vier Freunde, die Jesus möglicherweise schon einmal gehört oder gesehen haben. Sie haben einen fünften Freund bei sich, der gelähmt ist, und sind der Meinung, dass er geheilt werden könnte, wenn sie ihn zu Jesus bringen. Angesichts der Unmöglichkeit, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, schlägt einer von ihnen – vielleicht derjenige mit einer Vorliebe für unkonventionelle Ideen –, vor, ihren Freund durch das Dach des Hauses hinunterzulassen. Es ist die einzige Möglichkeit, den Gelähmten zu Jesus zu bringen.
Viele Jahrhunderte später können wir weiterhin Ähnliches tun, indem wir unsere Freunde im Gebet vor Gott bringen. Papst Franziskus spornt uns an: „Täglich, ohne Zeit zu verlieren, müssen wir vor Jesus stehen und Menschen und Situationen zu ihm bringen, als stets offene Kanäle zwischen ihm und unseren Leuten.“1
JESUS kennenzulernen und anderen von ihm zu erzählen, sind zwei Seiten einer einzigen Medaille. Papst Franziskus bekräftigt dies: „Das Licht des Glaubens lässt uns die unendliche Barmherzigkeit Gottes erkennen, die Gnade, die er für unser Wohl wirkt. Dasselbe Licht lässt uns aber auch die Verantwortung sehen, die uns anvertraut ist, um mit Gott an seinem Heilswerk mitzuwirken.“2
Ein Apostel ist nicht besser als andere Menschen. Doch die Dankbarkeit und das Bewusstsein seiner Erwählung beflügeln ihn in seiner Kreativität, wie es bei diesen Freunden der Fall war: Sie deckten dort, wo Jesus war, das Dach ab, schlugen die Decke durch und ließen den Gelähmten auf seiner Liege durch die Öffnung hinab (Mk 2,4). Ihr Ziel war klar: Sie wollten ihren Freund vor den Herrn bringen, überzeugt davon, dass sie so ihren Beitrag zum Heilswerk leisteten. Als Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben (Mk 2,5).
Die Freunde oben auf dem Dach sind überwältigt, beglückwünschen sich gegenseitig und wissen sich als stille Helfer Jesu: Sie hatten ihren Freund in das Herz des Meisters geschleust. Das strahlende Gesicht des Geheilten war Beweis genug: Es unterschied sich deutlich von dem angstvollen Ausdruck, den er noch hatte, als sie ihn abseilten. Vielleicht überraschte sie, dass Jesus als erstes die Sünden vergab, doch das Gesicht ihres Freundes sprach Bände – er fühlte sich befreit.
Wir alle wünschen uns, dasselbe Gefühl der Befreiung und Freude zu erfahren, wenn wir von Jesus geheilt werden. Der heilige Josefmaria ermutigt uns: „Lasst den Kopf nicht hängen, wenn ihr eine Dummheit oder sogar dutzende hintereinander gemacht habt. Was dachtet ihr? Dass ihr fehlerfrei seid? (...) Diese Illusion werde ich euch nehmen: Denkt nicht, dass schon alles zur Ruhe kommen wird, wenn ihr einmal alt seid. Die Leidenschaften sind dieselben, vielleicht sogar noch verkehrter. Das gesamte Leben ist also Kampf, allerdings ein leichter Kampf!“3
NACHDEM JESUS über den Gelähmten die Worte der Vergebung ausgesprochen hatte, entbrannte ein Streit. Einige der Anwesenden – Schriftgelehrte – waren empört darüber, dass Jesus sich herausnahm, dem Mann seine Sünden zu vergeben, da dies allein Gott vorbehalten war. Auffällig ist die Körperhaltung dieser Unzufriedenen, die der Evangelist, inspiriert vom Heiligen Geist, festgehalten hat: Einige der Schriftgelehrten saßen dort (Mk 2,6). Während diejenigen, die den Gelähmten wirklich liebten, voller Hingabe und Kreativität auf das Dach geklettert waren, saßen die Kritiker bequem da und klagten die Barmherzigkeit Gottes an.
Der wahre Apostel sitzt nicht einfach abwartend da, sondern handelt, wie die vier Freunde. Er vertraut auf den Heiligen Geist, den Hauptakteur seiner Sendung, und macht sich aktiv auf den Weg, um Gottes Werke in der Welt sichtbar zu machen.
Die Schriftgelehrten zeigten kein Interesse daran, den Gelähmten geheilt zu sehen, noch kümmert es sie, dass Jesus ihm zuerst nur seine Sünden vergibt. Stattdessen hängen sie ihrem Groll nach, unfähig, die Größe der Barmherzigkeit zu erkennen. Jesus stellt ihnen eine direkte Frage: Was für Gedanken habt ihr in eurem Herzen? (Mk 2,8). Und ohne ihre Antwort abzuwarten, wendet sich Jesus erneut an den Gelähmten und sagt: Ich sage dir, steh auf, nimm deine Liege und geh nach Hause (Mk 2,11).
Die Freunde des Gelähmten, die das Geschehen von der Dachöffnung aus verfolgen, brechen in Jubel aus. Sie sehen ihren Freund, wie er aufsteht, seine Liege nimmt und auf eigenen Füßen hinausgeht. Sicherlich laufen sie ihm entgegen, um ihn zu umarmen, erfüllt von Dankbarkeit und Freude über das Wunder. Und wie mag die Dankbarkeit des Geheilten gegenüber seinen Freunden ausgesehen haben? Wie herzlich wird er denjenigen umarmt haben, der die kühne Idee hatte, ihn an einem Seil hinabzulassen?
Wir alle brauchen Freunde, die uns zu Jesus führen – und niemand erfüllt diese Rolle besser als die Mutter Jesu. Ihr Einfallsreichtum und ihre Nähe helfen uns, den Weg zu ihrem Sohn zu finden. Der heilige Josefmaria formulierte es so: „Unsere Mutter, wir danken dir dafür, dass du Fürbitte für uns einlegst bei Jesus; ohne dich wären wir nicht bis zu ihm gelangt. Wie wahr ist es doch, dass wir zu Jesus gehen und zu ihm zurückkehren immer durch Maria!“4
1 Franziskus, Ansprache, 12.9.2019.
2 Ders., Audienz, 29.9.2021.
3 Hl. Josefmaria, Notizen von einem Familientreffen, 5.4.1970.
4 Ders., Notizen einer Betrachtung, 10.4.1937.