Betrachtungstext: 8. Dezember – Hochfest Maria Unbefleckte Empfängnis

Das Dogma der Unbefleckten Empfängnis – Maria ist die Verheißung – Die Schönheit eines heiligen Lebens

ZUM HEUTIGEN HOCHFEST der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria – kurz: der Unbefleckten Empfängnis – erklingt vielerorts das Tota pulchra. Dieses Gebet, das bereits im vierten Jahrhundert belegt ist und seither mehrfach vertont wurde, bringt eine tiefe Überzeugung der frühen Christenheit zum Ausdruck: „Ganz schön bist du, Maria, und der Makel der Erbsünde haftet dir nicht an. Dein Gewand ist leuchtend weiß wie Schnee, und dein Gesicht wie die Sonne.“ Seine Wurzeln hat dieses alte Gebet in einem Vers aus dem Hohelied: Alles an dir ist schön, meine Freundin, kein Makel haftet dir an (Hld 4,7).

Das heutige Fest lenkt unseren Blick auf das Wunder, das Gott an Maria schon im ersten Augenblick ihres Daseins gewirkt hat. Was uns in der Taufe geschenkt wird, wurde ihr im Voraus, im Augenblick ihrer Empfängnis zuteil. Und das ist noch nicht alles: Maria erhielt die Fülle der Heiligkeit mit allen Gaben und Früchten des Heiligen Geistes, noch bevor Christus die Erlösung vollbrachte. Es war ein einzigartiges Gnadengeschenk Gottes, das sie befähigte, Mutter des Erlösers zu werden. Wie der selige Papst Pius IX. in der dogmatischen Bulle Ineffabilis Deus (1854) schrieb, blieb „die allerseligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis auf Grund einer besonderen Gnade und Auszeichnung vonseiten des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Jesu Christi, des Erlösers der ganzen Menschheit, von jeder Makel der Erbsünde bewahrt“ – eine Lehre, die, wie der Papst betont, „von Gott geoffenbart ist und deshalb von allen Gläubigen fest und unabänderlich zu glauben ist“1

Die Verkündigungsszene enthält den Schlüssel. Als der Engel in das Haus in Nazaret eintritt, wendet er sich so an Maria: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir (Lk 1,28). Die Ansprache, du Begnadete, weist auf das wunderbare Werk der Liebe Gottes hin, der Gruß offenbart die Gnadenfülle Marias. Und dann kann die Botschaft des Engels erfolgen: Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn wirst du gebären; dem sollst du den Namen Jesus geben (Lk 1,28,31). Papst Franziskus kommentiert: „Es ist eine Szene, die das größte Staunen und die größte Ergriffenheit erweckt.“ Und er betont: „In Maria gibt es nichts, was dem göttlichen Willen Widerstand leistet, nichts, was sich der Wahrheit und der Liebe widersetzt. Das ist ihre Seligkeit, die von allen Generationen besungen wird. Freuen auch wir uns, denn die Unbefleckte Jungfrau hat uns Jesus geschenkt, der unser Heil ist!“2


DIE ERSTE LESUNG der heutigen Messe führt uns zurück an den Anfang der Menschheitsgeschichte: zum Sündenfall und zur Vertreibung aus dem Paradies. Die Passage enthält die entscheidende Verheißung. Zu der Schlange spricht Gott: Feindschaft setze ich zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen. Er trifft dich am Kopf und du triffst ihn an der Ferse (Gen 3,15). Für die Menschheit war dies der erste Hoffnungsschimmer: die erste Ankündigung der Erlösung, die deshalb Proto-Evangelium genannt wird.

Der Vers aus dem Buch Genesis hat viele Darstellungen der Unbefleckt Empfangenen inspiriert, die die Schlange unter ihren Füßen zertritt. Laut dem hebräischen Text ist es allerdings nicht die Frau, die der Schlange den Kopf zermalmt, sondern der Nachkomme. Der Sieg über Satan wird also nicht Maria, sondern ihrem Sohn zugeschrieben. Doch bleibt die Bildsprache wegen der einzigartigen Verbindung von Mutter und Sohn, wie die biblische Tradition sie sieht, dennoch gültig: die Unbefleckt Empfangene triumphiert über die Schlange nicht aus eigener Kraft, aber durch die Gnade des Sohnes. Daher entspricht diese klassische Darstellung doch dem tiefsten Sinn der Verheißung.3

Die Präfation der heutigen Messe führt uns wiederum in den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Geheimnis des heutigen Festes und der Kirche ein: „Gott, du hast Maria vor der Erbschuld bewahrt, du hast sie mit der Fülle der Gnade beschenkt, da sie erwählt war, die Mutter deines Sohnes zu werden. In unversehrter Jungfräulichkeit hat sie Christus geboren (...). Sie ist Urbild und Anfang der Kirche, der makellosen Braut deines Sohnes.“ Mit dem Geheimnis der Unbefleckten Empfängnis Marias beginnt die Zeit der Kirche. Marias Privileg ist der Anfang jener Geschichte, in die auch wir hineingerufen sind. Beim alljährlichen Gebetsakt des Papstes am 8. Dezember am Spanischen Platz in Rom bat der heilige Johannes Paul II. die Unbefleckt Empfangene einmal mit diesen Worten: „Monstra Te esse matrem! Beschütze, o Maria, die große Familie der Kirche, damit alle Gläubigen als wahre Jünger deines Sohnes im Lichte seiner Gegenwart voranschreiten mögen.“4


PAPST BENEDIKT XVI. hat am heutigen Festtag einmal einen nicht wenig verbreiteten Verdacht angesprochen: Ist ein Mensch, der niemals sündigt, nicht zwangsläufig langweilig? Fehlt seinem Leben nicht das Drama, die Spannung der Entscheidungen, die uns zutiefst menschlich erscheinen lässt? Auch uns kann manchmal die Sorge beschleichen, dass Heiligkeit – zu der wir wie Maria berufen sind – unser Menschsein mindert.

Benedikt XVI. nimmt diese Sorge ernst und hebt sie ins Licht: „Wenn wir uns die Welt um uns herum anschauen, können wir sehen, dass es eben nicht so ist; dass das Böse den Menschen vielmehr stets vergiftet, ihn nicht erhöht, sondern ihn erniedrigt und demütigt, ihn nicht größer, reiner und reicher macht, sondern ihm schadet und ihn kleiner werden lässt.“ Und er fährt fort: „Das müssen wir vor allem am Tag der Unbefleckt Empfangenen lernen: Der Mensch, der sich vollkommen in die Hände Gottes übergibt, wird keine Marionette Gottes, keine langweilige, angepasste Person; er verliert seine Freiheit nicht. Nur der Mensch, der sich ganz Gott anvertraut, findet die wahre Freiheit, die große und schöpferische Weite der Freiheit des Guten.“5

Kurz gesagt: Wer wie Maria die Heiligkeit sucht, wird nicht weniger Mensch, sondern mehr; nicht unfreier, sondern wahrhaft frei; nicht angepasst, sondern schöpferisch und authentisch. Die Reinheit ihres Herzens hält Maria nicht auf Distanz, sondern macht sie zutiefst nahbar – eine Frau, die anderen mit Liebe, Mut und einem wachen Herzen begegnet.

Dieser Weg der Freiheit ist Gottes Traum für jeden von uns, ein Traum, der in Maria voll aufgegangen ist. Im heutigen Evangelium sehen wir, wie sie ihre Berufung annimmt (Lk 1,26-38) und damit den Weg des rückhaltlosen Vertrauens in Gottes Plan eröffnet. Was dieser Plan bedeutet, führt Paulus in der zweiten Lesung aus: In ihm hat er uns erwählt vor der Grundlegung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor ihm (Eph 1,4).


1 Pius IX., Apostolisches Schreiben Ineffabilis Deus, Nr. 18.

2 Franziskus, Angelus-Gebet, 8.12.2024.

3 Vgl. hl. Johannes Paul II., Audienz, 29.5.1996.

4Hl. Johannes Paul II., Gebet am Spanischen Platz, 8.12.2001.

5 Vgl. Benedikt XVI., Predigt, 8.12.2005.