Verbürgerlichtes Christentum

„Es gibt Weltkrisen, weil es an Heiligen fehlt“, lautet ein berühmter Satz aus „Der Weg“ (Nr. 301), dem bekanntesten Buch des heiligen Josefmaria Escrivá. Um in der Welt als Christ zu wirken, reichen persönliche Frömmigkeit und apostolisches Bemühen nicht aus: Die geheiligte Arbeit und auch ein gesellschaftliches Engagement im Geiste Christi sind nötig, wenn das Christentum im Leben der Menschen nicht bis zur Unerkennbarkeit verdampfen soll.

In einem seiner Briefe teilt der heilige Josefmaria eine Beobachtung mit, die auch heute noch aktuell ist: „Oft“, so schreibt er, „gibt es selbst unter Katholiken, die verantwortungsbewusst und fromm zu sein scheinen, die irrige Meinung, sie bräuchten nur ihren familiären und religiösen Pflichten nachzukommen. Von bürgerlichen Pflichten wollen sie kaum etwas hören“[1]. Er stellt dann klar, dass es sich in der Regel „nicht um Egoismus handelt, sondern einfach um einen Mangel an Bildung, weil ihnen niemand deutlich gesagt hat, dass die Tugend der Frömmigkeit – die Teil der Kardinaltugend der Gerechtigkeit ist – und der Sinn für christliche Solidarität auch darin bestehen, präsent zu sein, die Probleme zu kennen und zur Lösung der Probleme beizutragen, die die ganze Gemeinschaft betreffen“[2].

Ein individualistisches Christentum?

Dieser Mangel an Bildung des christlichen Gewissens ist nicht nur auf Probleme in der Katechese oder der religiösen Erziehung zurückzuführen, sondern er ist auch das Ergebnis der geistigen und sozialen Veränderungen, die mit der Neuzeit einhergingen. Sie sind zu einem großen Teil die Folge einer neuen Kultur, die die Menschen von Geburt an durch Angleichung erworben haben.

Dies erklärt Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Spe Salvi, wenn er sich fragt, wie in der Moderne die Idee entstanden ist, dass „die Botschaft Jesu streng individualistisch sei und nur auf den Einzelnen ziele“[iii]; oder, wiederum, wie „das ,Heil der Seele‘ dazu gekommen ist, als Flucht vor der Verantwortung für das Ganze interpretiert zu werden und so das Programm des Christentums als eine egoistische Suche nach Erlösung aufgefasst werden konnte“[iv]. Beide Vorstellungen seien das Ergebnis einer Säkularisierung des christlichen Hoffnungsbegriffs. In der Neuzeit führten die großen Möglichkeiten, die der wissenschaftliche Fortschritt und neue Formen der sozialen Organisation eröffneten, zu der Vorstellung, dass der Mensch das „verlorene Paradies“ ausschließlich aus eigener Kraft wiederherstellen könne. So wurde die Erlösung der Welt nicht mehr „vom Glauben, sondern von dem neu gefundenen Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis“ erwartet[v]: Wissenschaft und politische Strukturen sollten uns den Himmel bringen, den die Religion nur für das Jenseits zu versprechen vermochte.

In diesem Säkularisierungsprozess verschwindet die Religion nicht, aber sie wird privatisiert, das heißt, sie wird auf den Bereich des individuellen Lebens beschränkt. In der öffentlichen und sozialen Sphäre scheint Gott nicht mehr notwendig zu sein, um den menschlichen Herausforderungen zu begegnen. Darüber hinaus wird argumentiert, dass die Beschränkung der Religion auf das Privatleben im Laufe der Zeit den Frieden sichern wird in Gesellschaften mit Bürgern, die sich zu verschiedenen Religionen bekennen oder Atheisten sind. Dieses Verständnis vom Stellenwert der Religion im gesellschaftlichen Leben wurde auch von den Gläubigen selbst oft verinnerlicht, bis hin zu einer Haltung, die zur Zielscheibe einer der häufigsten Kritikpunkte an der Religion in der heutigen Zeit geworden ist. Dieser Kritik zufolge bestünde die christliche Hoffnung in einem „puren Individualismus, der die Welt ihrem Elend überlasse und sich ins private ewige Heil geflüchtet habe“[vi]. Den Christen wird vorgeworfen, dass es ihnen nicht um dieses Leben, sondern um die Sicherung eines Platzes im kommenden Leben gehe.

Nichts ist jedoch weiter von der Realität des Evangeliums entfernt, das uns zu Nächsten aller Bedürftigen macht (vgl. Lk 10,36-37). Unser Glaube „impliziert immer den tiefen Wunsch, die Welt zu verändern, Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen“[vii]. Der heilige Josefmaria drückt es eindringlich aus: „Ein Christ sollte sich dafür einsetzen, dass es jeden Tag weniger Arme, weniger Unwissende, weniger Seelen ohne Glauben, weniger Verzweifelte, weniger Kriege, weniger Unsicherheit, mehr Nächstenliebe und mehr Frieden gibt“[viii]. Gleichzeitig ist die Kirche, wie Papst Franziskus uns in Erinnerung gerufen hat, keine NGO und muss auf der Hut sein, um die verschiedenen Formen der Weltlichkeit zu vermeiden[ix], indem sie immer Christus in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt – auch ihres sozialen Handelns.

Der Aufruf, zur Entwicklung des Reiches Gottes beizutragen, muss also zwei Prinzipien miteinander in Einklang bringen: einerseits das Bewusstsein, dass dieses Reich ein Geschenk ist[x] und nicht etwas, das wir allein aus eigener Kraft erreichen können; andererseits die Überzeugung, dass Gott nicht gleichgültig ist gegenüber unserem Bestreben, ihm in unserem Leben immer mehr Raum zu geben. Es liegt in der Tat in unserer Macht, dazu beizutragen, „die Welt für das Hereintreten Gottes zu öffnen: die Wahrheit, die Liebe und das Gute (...) Wir können unser Leben und die Welt von Vergiftungen und Verunreinigungen befreien, die die Gegenwart und die Zukunft zerstören könnten“[xi]. Und selbst wenn wir „scheinbar erfolglos oder machtlos gegenüber überlegenen feindlichen Kräften sind“[xii], ermöglicht uns die Tugend der Hoffnung die Erfahrung, dass es Gott ist, der letztlich die Geschichte lenkt.


Globale Krisen

Seit den Anfängen des Opus Dei lud der heilige Josefmaria die Menschen, die sich an ihn wandten, ein, ihr Leben der Arbeit für das Reich Gottes zu widmen, mit dem glühenden Motto: Regnare Christum volumus! In einer Predigt über die christliche Hoffnung schrieb er: „Der Herr hat uns nicht geschaffen, damit wir hier eine endgültige Stadt bauen ... Als Kinder Gottes dürfen wir jedoch die irdischen Tätigkeiten nicht vernachlässigen, in die Gott uns gestellt hat, um sie zu heiligen. (...) Das ist meine ständige Predigt seit 1928: Es ist dringend notwendig, die Gesellschaft zu christianisieren; allen Schichten dieser unserer Menschheit den übernatürlichen Sinn zu vermitteln, damit alle danach streben, die tägliche Arbeit, den Beruf oder das Gewerbe in die Ordnung der Gnade zu erheben. Auf diese Weise werden alle menschlichen Beschäftigungen von einer neuen Hoffnung erleuchtet“[xiii].

Um dies zu erreichen, ist es entscheidend, dass Christus im Herzen eines jeden Menschen regiert, denn das Reich Gottes lässt sich nicht auf eine bestimmte Form der sozialen Organisation reduzieren und ist auch nicht das Ergebnis einer Reihe von menschlichen Strukturen[xiv]. Damit Christen Salz und Sauerteig in der Zivilgesellschaft sein können, müssen sie zunächst ihre Beziehung zu Gott pflegen. „Die Herrschaft Christi soll vor allem in den Herzen errichtet werden (...), aber nicht, damit jeder unabhängig von den anderen Gott die Ehre gibt, sondern in Gemeinschaft mit ihnen in der Kirche (...) und in der Zivilgesellschaft selbst, wo die Christen Salz und Sauerteig sein sollen (...). Christus regiert nur im Herzen derjenigen, die wollen, dass er auch in der Gesellschaft, in der sie leben, regiert.“[xv]

Ein bekannter Punkt des Weges drückt diese Überzeugung auf lapidare Weise aus: „Ein Geheimnis. – Ein offenes Geheimnis: Es gibt Weltkrisen, weil es an Heiligen fehlt – Gott wünscht eine Handvoll ,seiner‘ Leute in jeder menschlichen Tätigkeit. Dann ... pax Christi in regno Christi – der Friede Christi im Reich Christi“[xvi]. Es ist klar, dass der heilige Josefmaria das christliche Leben nicht nur als etwas ausschließlich Persönliches betrachtete, sondern als einen Impuls, der alle menschlichen Dimensionen umfasst, auch die sozialen[xvii]. An anderer Stelle schreibt er: „Das ist deine Aufgabe als christlicher Bürger: Dazu beizutragen, dass die Liebe und die Freiheit Christi alle Erscheinungsformen des modernen Lebens durchdringen: die Kultur und die Wirtschaft, die Arbeit und die Erholung, das Familienleben und das soziale Zusammenleben“[xviii]. Indem sie die Freiheit der anderen respektieren, sind die Christen aufgerufen, das Licht des Evangeliums in jeden Winkel zu bringen.

Der Kern der Botschaft des Opus Dei, die Suche nach Gott in der Arbeit und im gewöhnlichen Leben, geht davon aus, dass die Welt ein Ort der Begegnung mit Gott ist. Das Zweite Vatikanische Konzil erinnert daran, wenn es lehrt, dass die Christen dazu berufen sind, die zeitlichen Strukturen von innen heraus zu erneuern, durch die berufliche Arbeit und durch die Zusammenarbeit mit anderen Bürgern[xix]. Die Wurzel dieser Lehre ist die Schöpfungswahrheit: „Wenn die Welt und alles, was in ihr ist – mit Ausnahme der Sünde –, gut ist, weil sie das Werk Gottes, unseres Herrn, ist, dann muss sich der Christ, der ständig darum ringt, Verstöße gegen Gott zu vermeiden – ein positiver Kampf der Liebe –, Seite an Seite mit den anderen Bürgern für alles Irdische einsetzen; er muss alle Güter verteidigen, die sich aus der Würde der Person ergeben. Und es gibt ein Gut, das er immer besonders anstreben muss: das der persönlichen Freiheit“[xx].

Wenn der heilige Josefmaria von der Arbeit als Ort der Begegnung mit Gott sprach, sagte er, es gehe darum, „die eigene Arbeit zu heiligen, sich selbst in der Arbeit zu heiligen und die anderen durch die Arbeit zu heiligen“[xxi]. Die Arbeit formt und verwandelt sowohl die Person, die sie ausführt, als auch die Wirklichkeit, auf die sie einwirkt, das heißt die Welt[xxii]. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Heiligung der Arbeit für den Menschen gleichzeitig ein Weg ist, sich Gott zu nähern und die zeitlichen Strukturen zu erlösen: an der Bewegung mitzuwirken, mit der der Herr alle zu sich zieht (vgl. Joh 12,32).


Die Gefahr eines verbürgerlichten Christentums steckt im Verlust des Sendungsbewusstseins

„Werde nicht zum Spießer“, pflegte der heilige Josefmaria zu sagen[xxiii] und warnte vor einer Gefahr des geistlichen Lebens: der Gefahr, dass man am Ende alles vermeidet, was Anstrengung verlangt und die Forderung ignoriert, die das Evangelium von der ersten bis zur letzten Zeile durchzieht. Die folgenden Worte aus der Spur des Sämanns geben mit einem Hauch von Ironie dieses verbürgerlichte Christentum wieder: „Rein theoretisch bist du sehr katholisch. Die Atmosphäre in unserem Hause sagt dir zu ... Schade, dass die Messe nicht mittags stattfindet und dass die Vorlesungen und Kurse nicht nachmittags, und dass nicht nach dem Abendessen bei einem oder zwei Gläsern Cognac studiert wird! Deine Art von ,Katholizismus‘ ist bloß Schau, ist einfach spießig.“[xxiv]

Es ist wichtig zu bedenken, dass man von einem verbürgerlichten Christentum noch in einem anderen Sinne sprechen kann, der den ersten ergänzt. Es handelt sich um eine Konzeption des religiösen Lebens, in der der starke Sendungsgedanke der Botschaft des Evangeliums verdunkelt oder vergessen wurde. Bei diesem Ansatz wird das geistliche Leben auf die persönliche Erfüllung moralischer Normen und eine Reihe frommer Praktiken reduziert. Wir scheinen die Bitte des Vaterunsers – „Dein Reich komme“ – zu vergessen, die die Gläubigen dazu auffordert, die Welt durch ihre Arbeit und ihr Gebet zu verändern. Um es mit den Worten des heiligen Josefmaria zu sagen, würde die Aufforderung, „die anderen durch die Arbeit zu heiligen“, bestenfalls auf ein individuelles Apostolat reduziert, ohne den Horizont, die Welt zu verändern. Oder sie würde hinter den Aufforderungen – „die Arbeit heiligen und sich selbst durch die Arbeit heiligen“ – versteckt, die dadurch den größten Teil ihrer Daseinsberechtigung verlieren würden.

Das verbürgerlichte Christentum in diesem zweiten Sinne wäre eine der Erscheinungsformen der individualistischen Auffassung von Religion, vor der Benedikt XVI. gewarnt hat. Auch hier haben wir es nicht so sehr mit der Frucht einer individuellen Entscheidung zu tun, als mit dem Ergebnis einer Lebensauffassung, die die Mentalität der Menschen fast unmerklich durch Kultur und Erziehung geprägt hat. Der Begriff „bürgerlich“ bezieht sich zwar auf einen sozialen Status (wohlhabende Menschen, die in ihrem Leben keine großen Entbehrungen erlitten haben und sich nicht besonders anstrengen mussten, um zu bekommen, was sie wollen), aber wenn wir hier vom „verbürgerlichten Christentum“ sprechen, meinen wir nicht, dass es etwas Spezifisches für diese soziale Gruppe ist. Vielmehr handelt es sich um eine Mentalität, die bei Menschen verschiedener sozialer Schichten anzutreffen ist, der zufolge der höchste Wert, den es im Leben zu erreichen gilt, die Stabilität ist. In seinen Schriften fordert der heilige Josefmaria die Menschen auf, sich von dieser Auffassung zu lösen: „Ihr habt die Pflicht, auf die Menschen in eurer Umgebung zuzugehen, sie aus ihrem Schlummer aufzurütteln, ihrer bürgerlichen und egoistischen Existenz andere und weite Horizonte zu eröffnen, ihnen auf liebenswerte Art das Leben schwerzumachen, damit sie lernen, sich selbst zu vergessen und die Probleme der anderen zu verstehen.“[xxv]

Aus religiöser Sicht ist die bürgerliche Mentalität problematisch, weil sie dazu neigt, den Sinn für die Mission auszulöschen. Ein verbürgerlichter Christ strebt vor allem nach Mäßigung und Sicherheit. Wer dagegen entdeckt, dass er eine Mission, eine wichtige Aufgabe im Leben hat, ist bereit, Risiken einzugehen und sich auf Abenteuer mit ungewissem Ausgang einzulassen. Das Evangelium ist in dieser Hinsicht sehr anschaulich. Zum Beispiel, wenn es uns zeigt, wie Petrus, Jakobus und Johannes „alles verlassen und ihm nachfolgen“ (Lk 5,11); wenn es das Reich Gottes mit einem verborgenen Schatz vergleicht, für den man bereit ist, alles zu verkaufen (Mt 13,44); oder wenn es die Worte Jesu an den Schriftgelehrten aufgreift, der sagt, er sei bereit, ihm zu folgen, wohin er auch gehe: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel Nester, aber der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Mt 8,20).

Sicherlich brauchen wir Menschen immer ein Mindestmaß an Sicherheit, vor allem in unsicheren Zeiten wie den jetzigen. Das Problem entsteht, wenn Sicherheit oder Stabilität zu den vorherrschenden Werten, zum erstrebenswerten Ziel im Leben werden. Diejenigen, die sich eine solche Mentalität zu eigen machen, verspüren kaum das Bedürfnis, die Dinge zu verbessern, und neigen dazu, sich mit dem zufrieden zu geben, was sie haben, weil sie ihr Leben nicht verkomplizieren wollen. Das Sendungsbewusstsein hingegen, das zur DNA des Christentums gehört, führt dazu, das Leben als Abenteuer zu leben und darüber nachzudenken, wie man Gott und anderen Menschen mit seinem Beruf am besten dienen kann.

Die Begegnung Jesu mit dem reichen Jüngling ist in dieser Hinsicht nicht weniger beredt. Dieser junge Mann ist der Prototyp des bürgerlichen Christen: jemand, der die Gebote hält, der guten Willen und sogar edle Wünsche hat, aber nicht in der Lage ist, Risiken einzugehen, um dem Ruf Jesu zu folgen. Das Hindernis ist der Reichtum, der sowohl im wörtlichen Sinne von materiellen Gütern als auch im Sinne von sozialer Stellung oder Sicherheit verstanden werden kann. Als Jesus zu ihm sagt: „Eines fehlt dir noch. Geh, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen; dann komm und folge mir nach“ (Mk 10,21), fordert er ihn auf, seine Sicherheiten aufzugeben und ihm ganz zu vertrauen.

Der Christ ist „ganz wesentlich sozial“

Die Szene des reichen jungen Mannes zeigt, dass eines der Hauptprobleme des verbürgerlichten Christentums darin besteht, dass es das Christentum auf die Moral reduziert. Obwohl das Evangelium in der Moral zum Ausdruck kommt und praktische Konsequenzen hat, ist dies nicht der Kern des christlichen Lebens. Das Wesen des Christentums besteht nicht darin, ein „guter Mensch“ zu sein, sondern darin, einer Person, Jesus Christus, zu begegnen und sich mit ihr zu identifizieren: dem Einzigen, der wirklich gut ist (vgl. Mk 10,18). Was Petrus, Jakobus und Johannes bewegte, alles zu verlassen, war nicht ein ethisches Ideal, sondern die Faszination, den Messias entdeckt zu haben.

Man könnte sagen, dass das religiöse Leben im verbürgerlichten Christentum etwas Langweiliges und Vorhersehbares ist: fromme Praktiken, Sakramente, die Notwendigkeit zu kämpfen und die Beichte als „Fleckenentferner“[xxvi]. Echte Religiosität hingegen ist immer von Überraschungen begleitet, von aufeinanderfolgenden Bekehrungen und der Entdeckung neuer Perspektiven, die in der Regel nicht das Ergebnis außergewöhnlicher Erfahrungen, sondern der Beharrlichkeit in der Beziehung zu Gott sind[xxvii].

Das verbürgerlichte Christentum kann auch zu einer Verzerrung des Evangeliums führen, vor der Benedikt XVI. in Spe Salvi warnt: zu denken, dass es nur darauf ankommt, dass ich gerettet werde[xxviii]. Gewiss, das Gericht Gottes wird persönlich sein, und man kann nicht von uns verlangen, dass wir die Verantwortung für die Entscheidungen übernehmen, die jemand anderes aus freien Stücken getroffen hat. Das christliche Leben führt jedoch nicht zu einer „egoistischen“ Vollkommenheit, die uns auf uns selbst beschränkt, sondern setzt das Zentrum des Lebens außerhalb des eigenen Ich: in der Hingabe, dem Dienst, dem Verzicht, der Nachfolge. Der Mensch wird nicht allein gerettet, in dem Sinne, als wäre er unabhängig von den anderen. Deshalb wird man uns beim persönlichen Gericht fragen, auf welche Weise wir dazu beigetragen haben, die Welt zu Gott zu führen, indem wir uns in das Leben derer, die an unserer Seite sind, eingebracht haben (vgl. Mt 25, 31-46). Wir müssen uns also fragen, wie wir uns um das Wohl unserer Nächsten kümmern: wie wir sie begleiten, sie trösten, sie ermutigen.

In dem eingangs zitierten Brief bekräftigt der heilige Josefmaria, dass „ein Christ nicht individualistisch sein kann, die anderen nicht vernachlässigen darf, nicht egoistisch und mit dem Rücken zur Welt leben soll: Er ist wesentlich sozial, ein verantwortliches Glied des mystischen Leibes Christi. (...) Unsere apostolische Arbeit wird zum Frieden beitragen, zur Zusammenarbeit der Menschen untereinander, zur Gerechtigkeit, zur Vermeidung von Kriegen, zur Vermeidung von Isolation, zur Vermeidung von nationalem Egoismus und persönlichen Egoismen: denn alle werden erkennen, dass sie Teil der großen Menschheitsfamilie sind, die von Gottes Willen zur Vollkommenheit geführt wird. Auf diese Weise werden wir dazu beitragen, diese Angst, diese Furcht vor einer Zukunft des Brudermordes zu beseitigen und den Frieden und die Harmonie in den Seelen und in der Gesellschaft zu bestätigen: Toleranz, Verständnis (...), Liebe.“[xxix]

Auf denselben Seiten teilt der heilige Josefmaria einen seiner großen Wünsche mit: „Ich möchte, dass der Katechismus der christlichen Lehre für die Kinder klar lehrt, was die festen Punkte sind, bei denen man nicht nachgeben darf, wenn man auf die eine oder andere Weise im öffentlichen Leben handelt. Und gleichzeitig bekräftigt er die Pflicht zu handeln, seine Mitarbeit zu leisten, um mit Treue und persönlicher Freiheit dem Gemeinwohl zu dienen.“[xxx]

Dies sind in der Tat die Kanäle, durch die die Soziallehre der Kirche fließt, die sich von einer Auffassung des christlichen Lebens entfernt, die sich auf die religiösen und familiären Pflichten konzentriert, aber die bürgerlichen Pflichten vergisst[xxxi]. Das geistliche Leben ist nicht etwas „Intimes“, und die Berufung zur Verwirklichung des Reiches Gottes kann nicht nur mit persönlichem apostolischem Eifer identifiziert werden. Es muss auch der Wunsch vorhanden sein, die Welt durch die eigene Arbeit zu verbessern, sei es im öffentlichen Bereich oder zu Hause. Und das setzt voraus, dass man seinen Beruf als Dienst versteht, das heißt als ein Mittel, um Gott und den anderen zu dienen. „Wir benötigen den Herrn, um unser Herz zu erweitern, um uns ein Herz nach Seinem Maß zu geben, damit alle Nöte, Schmerzen und Leiden der Männer und Frauen unserer Zeit, besonders die der Schwächsten, in diesem Herzen Platz finden können.“[xxxii]

Die Tatsache, dass sich manche Gesetze und Lebensweisen von der Botschaft des Evangeliums entfernt haben, sollte uns dazu veranlassen, darüber nachzudenken, was wir Christen noch tun können. Und auch, was wir hätten besser machen können, warum wir es vielleicht manchmal versäumt haben, Sauerteig, Salz, Licht zu sein. Wenn dies, wie der heilige Josefmaria sagt, nicht auf Egoismus oder bösen Willen zurückzuführen ist[xxxiii], sondern auf einen Mangel an Bildung, dann lohnt es sich zu fragen: Woran könnte es bei der Weitergabe des Glaubens fehlen? Dort, wo sich das verbürgerlichte Christentum ausgebreitet hat, müssen wir den Sinn für die Sendung wiedererwecken, um uns in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen, das bereits unter uns ist[xxxiv].

[1] Hl. Josefmaria, Brief 3, Nr. 46.

[ii] Ebd.

[iii] Benedikt XVI., Spe salvi, Nr. 16.

[iv] Ebd., Nr. 16.

[v] Ebd., Nr. 17.

[vi] Ebd., Nr. 13.

[vii] Franziskus, Evangelii gaudium, Nr. 183.

[viii] Hl. Josefmaria, Brief 8, Nr. 1.

[ix] Franziskus, Predigt, 16. Mai 2020.

[x]Spe salvi, Nr. 35.

[xi] Ebd.

[xii] Ebd.

[xiii] Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 210.

[xiv] Vgl. Spe salvi, Nr. 24-25.

[xv] E. Burkhart – J. Lopez, Alltag und Heiligkeit in der Lehre des Heiligen Josefmaria, Rialp, Madrid 2011, Bd. I, S. 411-412.

[xvi] Hl. Josefmaria, Weg, Nr. 301.

[xvii] E. Burkhart – J. Lopez, Alltag und Heiligkeit in der Lehre des Heiligen Josefmaria, Rialp, Madrid 2011, Bd. I, S. 412.

[xviii] Hl. Josefmaria, Spur des Sämanns, Nr. 302.

[xix] Vgl. Lumen gentium, Nr. 36.

[xx] Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 184.

[xxi] Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 55.

[xxii] Vgl. Joh. Paul II., Laborem Exercens, Nr. 5-6.

[xxiii] Hl. Josefmaria, Feuer der Schmiede, Nr. 936.

[xxiv]Sämann, Nr. 716.

[xxv]Schmiede, Nr. 900.

[xxvi] Vgl. Franziskus, Predigt, 21.03.2017.

[xxvii] Vgl. Schmiede, Anm. 570.

[xxviii]Spe salvi, Nr 13-14.

[xxix] Hl. Josefmaria, Brief 3, Nr. 37-38.

[xxx] Ebd., Nr. 45.

[xxxi] Ebd., Nr. 46.

[xxxii] F. Ocáriz, Im Lichte des Evangeliums, S. 199-200.

[xxxiii] Hl. Josefmaria, Brief 3, Nr. 46.

[xxxiv] Vgl. Lk 17, 20.