Immanuel ist Gott mit uns (Jesaja 7, 14) (Teil I)

Was das Eintreten Gottes als Kind in diese Welt für den Christen bedeutet, erläutert Johannes Vilar in einer Besinnung zur Weihnachtszeit.

Gott gewährte Abraham eine besondere Freundschaft. Sein vertrauensvoller Umgang mit Jahwe bei den Eichen von Mamre ist beeindruckend (vgl. Gen 18, 16-33). Im Gespräch mit den Ältesten der Stadt (Jdt 8, 11-36) sagte Judith: Sie mögen eingedenk sein, wie unser Vater Abraham versucht worden und, durch viele Trübsale bewährt, Gottes Freund geworden ist. (Hieronymus übersetzt: Dei amicus effectus est. Jdt 8, 22 Vg). Die Nova Vulgata von 1979 folgt diesem Text nicht so, aber diese einzigartige Freundschaft wird auch in anderen Stellen bestätigt. Zu Israel sagt Jahwe: Du, mein Knecht Israel, du, Jakob, den ich erwählte, Nachkomme meines Freundes Abraham (Jes 41, 8). Und der Apostel Jakobus konnte in seinem Brief schreiben: So hat sich das Wort der Schrift erfüllt: Abraham glaubte Gott, und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet, und er wurde Freund Gottes genannt (Jak 2, 23).

Ähnliches geschah bei Moses. Moses durfte auf dem Berg viele Tage mit Jahwe zusammen sein. Das zweite Buch Moses berichtet: Der Herr und Mose redeten miteinander Auge in Auge, wie Menschen miteinander reden (Ex 33, 11; vgl. Dtn 34, 10). Konsequenter Weise wünschte er sich, Gott zu sehen, und er durfte sogar den Rücken sehen, bekam aber vom Herrn gesagt: Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben (Ex 33, 20). Das Volk begegnete Gott in Furcht und Zittern unter dem Eindruck von Blitzen, Beben und Donnern (vgl. Ex 19, 16-19), beziehungsweise der Wolke und des Feuers (vgl. Ex 40, 34-38). Auch im Leben des Moses kam beides hervor, denn im Hebräerbrief steht auch:Ja, so furchtbar war die Erscheinung, dass Mose rief: Ich bin voll Angst und Schrecken (Hebr 12, 21; vgl. Dtn 9, 19).

So ist es, solange der Mensch auf Erden ist. Diesseits kommt man nicht weiter.

Weh‘ mir, ich bin des Todes; denn ... ich habe den Herrn der Heerscharen mit meinen Augen gesehen! (Jes 6,5). Und trotzdem fordert der Psalmist die Gläubigen auf: Suchet den Herrn... suchet immerdar sein Angesicht! (Ps 104,4). Was gilt Tod, was gilt Leben, wenn wir nur Gottes Angesicht schauen können? Diese Frommen des Alten Bundes wollen einfach Gott schauen; denn sie wissen, daß darin ihr Glück und ihre Seligkeit, ihre Rettung und Erlösung liegt.

Menschwerdung des Sohnes Gottes – ein Kind, das man sehen kann

Als aber Jesus auf die Erde kam, hat er alldem neue Dimensionen gebracht. Jesaja kündigte im Voraus an: Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens (Jes 9, 1.5).

Durch Jesus Christus nahm die Haltung des Menschen Gott gegenüber neue Perspektiven an, denn unsere Haltung ist die eines Sohnes dem Vater gegenüber geworden (vgl. 1 Joh 3, 1-3). Paulus spricht von derMenschenfreundlichkeit Gottes (vgl. Tit 3, 4f). Die Geburt Jesu brachte den lebendigen Gott, so nahe, dass sein Mensch-Sein und Wirken gesehen werden kann, ein Kind, das man sehen kann, halten kann und sogar küssen kann. Die Hirten wurden aufgefordert, hinzugeh, um ihn zu sehen (vgl. Lk 2, 8-11.15f). Ein Gemälde von Morgan Weistling (*Kalifornien 1964) zeigt eine sehr schöne Mutter und einen Säugling mit offenen und strahlenden Augen. Die Mutter Jesu küsst das Gesicht des Kindes. Das Bild trägt den Titel: »Kissing the Face of God«. Das Angesicht Gottes küssen!, traumhaft, unvorstellbar, wenn es nicht wahr wäre. Der Apostel Johannes legte seinen Kopf an die Brust Jesu beim letzten Abendmahl (vgl. Joh 13, 25) und konnte seinen ersten Brief mit der Feststellung anfangen: Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens(1 Joh 1, 1). Das macht es aus, dass ein Christ ganz anders als die Heiden und als die Israeliten über Gott sprechen kann. Daher betonte Bernhard von Clairvaux (um 1090-1134): »(Gott) war unbegreiflich, unnahbar, unsichtbar und völlig unausdenkbar. Aber jetzt wollte er begriffen werden, wollte gesehen, wollte gedacht werden.«1

Jesus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes

Jesus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung, (...) er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand (Kol 1, 15.17). »Dieses sichtbare Ebenbild sollte auf Erden den unsichtbaren Schöpfer gegenwärtig machen. (...) Und er bewirkte, dass ein Mensch im eigentlichen Sinn des Wortes Gott war, nachdem der Mensch es vorher nur in der Ähnlichkeit sein durfte.«2 Nach der Erwähnung von Hebr 13, 8 (Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit) sagte der heilige Josefmaria Escrivá: »Hier ist der Gipfel des Fortschritts schon erreicht: Christus, Alpha und Omega, der Anfang und das Ende (Offb 21, 6)«.3Joachim Kardinal Meisner schrieb in seinem Weihnachtsbrief 2010: »Die Kirchenväter bekennen sich immer wieder zu diesem Vorgang, gleichsam außer sich vor Staunen und Bewunderung, indem sie schreiben: ›Gott wird Mensch, damit der Mensch wie Gott werde‹ (...). Der Mensch hat durch die Menschwerdung Gottes eine andere Qualität bekommen. Da der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen worden ist, ist er – trotz aller Möglichkeit zur Sünde – gottfähig geworden und gottfähig geblieben, sodass auch Gott Mensch werden konnte. Das Urbild hat sich im Abbild verwirklicht.« Es ist die Kenose (gr. Kénosis, Selbstentäußerung) Gottes, deren Bedeutung Paulus beschreibt: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen (Phil 2, 6f).

Diese Ambivalenz zwischen Vorher (Altes Testament) und Nachher (Ankunft Christi) veranlasste Franz von Sales (1567–1622), sich in das Geheimnis der Geburt Jesu zu versenken, ein Geheimnis, das uns übersteigt: »Um das möglichst gut zu machen, werden wir vor allem unseren Verstand demütigen und anerkennen, dass er in keiner Weise fähig ist, auf den Grund dieses großen Geheimnisses vorzudringen, das ein wahrhaft christliches Mysterium ist. Ich sage christlich, weil nur die Christen jemals begreifen konnten, dass Gott Mensch und der Mensch vergöttlicht wurde. (...) Was uns daran hindert, das Geheimnis der hochheiligen Geburt unseres Herrn zu begreifen, liegt nicht daran, dass es in sich dunkel wäre, sondern daran, dass es nichts als helles Licht ist. Unser Verstand, der das Auge unserer Seele ist, kann es nicht lange betrachten, ohne sich zu trüben, und muss demütig bekennen, dass er dieses Geheimnis nicht ergründen kann, um zu begreifen, wie Gott im jungfräulichen Schoß der allerseligsten Jungfrau Fleisch angenommen hat und Mensch geworden ist, uns gleich, um uns Gott ähnlich zu machen.«4

Gott bleibt in der Menschheit Jesu verborgen

Josefmaria Escrivá bemerkt: »Die ganze Macht, die ganze Majestät, die unendliche Schönheit und Harmonie Gottes, die unermeßliche Tiefe seines Reichtums, ja Gott selbst bleibt in der Menschheit Jesu Christi verborgen, um uns zu dienen. Der Allmächtige erscheint unter uns, er verdunkelt eine Zeitlang seine Herrlichkeit, um die erlösende Begegnung mit seinen Geschöpfen zu erleichtern. Niemand hat Gott je gesehen, schreibt Johannes in seinem Evangelium, der Eingeborene, der Gott ist, der Seiende im Schoß des Vaters, er hat Kunde gebracht (Joh 1, 18), indem er sich den fassungslosen Blicken der Menschen stellte.«5 So konnte der Herr sagen: wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat (Joh 12, 45). Und als Philippus zu ihm sagte: Herr, zeig uns den Vater; das genügt uns, antwortete ihm Jesus: Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater? (Joh 14, 8f).

Daher ist die Menschheit Christi das sichtbare Tor, der Gehweg, der effiziente Pfad – Gottes Geschenk –, um zu ihm zu gelangen. Am Ende des liturgischen Kalenders des Jahres 1967 predigte der heilige Josefmaria: »Um Gott näher zu kommen, müssen wir den rechten Weg einschlagen, den Weg der heiligsten Menschheit Jesu Christi.«6

1 Sermo in Nativitate B. V. Mariae – De aquaeductu, 11. Tyrolia, Innsbruck, Sämtliche Werke (lt.-dt.). Bd. VIII, 635. – Aelred von Rievaulx (auch in dieser Zeit und auch Zisterzienser Abt) kommentiert: »Bis dahin war er der Gott über uns, oder unser großes Gegenüber. Doch nun ist er der Gott mit uns. In unserer Natur, in unserer Schwachheit, mit uns in seiner Güte, mit uns in unserem Elend, mit uns in seiner Barmherzigkeit, mit uns durch die Liebe, durch die Familienbande, durch sein Mitleiden. Ihr habt nicht in den Himmel steigen müssen, um mit Gott zu sein. Gott steigt vom Himmel herab, um mit uns zu sein. Klein wie ich, schwach wie ich, nackt wie ich, arm wie ich – in allem ist er mir ähnlich geworden. Er nimmt an sich, was mir gehört, und gibt, was sein ist.« Sermo I (in Adventu Domini). PL 195, 209ff.

2 Petrus Chrysologus († 451): Sermo 148. PL 52, 597.

3 Christus begegnen. Adamas, Köln, 6. Aufl. 2006, Nr. 104. Die Menschwerdung des Logos veredelt alle irdischen Wirklichkeiten, weil er die menschliche Natur in seine göttliche Person aufgenommen, sich mit dem Leben einer Familie, eines Volkes, eines Berufes identifiziert und vom Kreuz aus alles angezogen hat (vgl. Joh 12, 32 Vg). Nichts bleibt ausgeschlossen. Antonio Orozco, mit seinen dichterischen Gaben, sagte zu der Geburt des Herrn: »Este Niño líndo y límpio ha venido a redimirnos también de la zafiedad« (Dieses schöne und saubere Kind ist gekommen, um uns auch von den Grobheiten (bzw. Schlampereien) zu erlösen). Los tres soles. Arvo, Salamanca 1999, 21.

4 Predigt zur Vigil von Weihnachten, in: Werke des heiligen Franz von Sales (Reisinger, Franz, Hrsg.), Bd. 9. Eichstätt-Wien 1977, 207f.

5 Freunde Gottes. Adamas, Köln, 2. Aufl. 1980, Nr. 111. Daher spornte Escrivá seine Zuhörer immer wieder an, auf das Kind in der Krippe zu schauen, sein Leben anhand der Heiligen Schrift zu meditieren und fähig zu werden, es wie einen Film vor den Augen vorbeiziehen zu lassen.

6 Freunde Gottes. Nr. 299

Johannes Vilar