Die Fassade der Geburtsbasilika in Betlehem lässt noch heute die Spuren ihres alten Portals erkennen, das mit der Zeit auf ein Türchen verkleinert wurde, das kaum eineinhalb Meter hoch ist. Auf diese Weise wurde verhindert, dass man zu Pferd hineinreiten konnte, und man schützte so die heilige Stätte. Die geringen Abmessungen dieser Tür sind auch eine Aufforderung an den heutigen Besucher: sie sagen ihm ohne Worte, dass „wir klein werden, geistlich zu Fuß gehen müssen, um durch das Portal des Glaubens eintreten und Gott finden zu können, der von unseren Vorurteilen und Vorstellungen verschieden ist: der Gott, der sich in der Demut eines neu geborenen Kindes verbirgt“ (1).
Wir sind Söhne und Töchter Gottes
In seiner zweiten Enzyklika erinnert uns Papst Franziskus an die tiefen Gründe der Demut. Es geht um eine einfache und große Wahrheit, auf die wir allzu leicht im Trubel des Alltags vergessen: „Wir sind nicht Gott“ (2). Die Schöpfung ist tatsächlich der feste Ausgangspunkt unseres Seins: Wir haben unsere Existenz von Gott empfangen. Wenn wir diese fundamentale Wahrheit annehmen, lassen wir uns von der göttlichen Gnade verwandeln; dann erkennen wir die Realität, vervollkommnen sie und opfern sie Gott auf. Die Liebe zur Welt, die uns der heilige Josefmaria vermittelt, lässt in uns den Wunsch aufkommen, dort wo wir uns befinden und entsprechend unseren Möglichkeiten, das, was wir lieben, zu verbessern. Und im Zentrum dieser unermesslichen Aufgabe befindet sich die Demut, „die uns gleichzeitig zur Erkenntnis der eigenen Armseligkeit wie der eigenen Größe verhilft“ (3): der Erbärmlichkeit, deren wir uns häufig bewusst werden, und der Größe, durch die Taufe Töchter und Söhne Gottes in Christus zu sein.
Die Demut ist „die Tugend der Heiligen und der von Gott erfüllten Menschen (…): Je mehr ihre Bedeutung wächst, desto mehr nimmt das Bewusstsein ihrer Nichtigkeit zu, und dass sie ohne die Gnade Gottes nichts tun können (vgl. Joh 15,8)“ (4). So sind die kleinen Kinder, und so sind wir vor Gott. Es ist daher gut, zum Wesentlichen zurückzukehren: Gott liebt mich. Wenn sich ein Mensch von Gott geliebt weiß – eine Liebe, die er in der Liebe entdeckt, die ihm andere Personen erweisen -, so kann er alle lieben.
Die Demut den anderen gegenüber
Die Demut führt uns dazu, die Wirklichkeit so anzunehmen, wie sie ist und vor allem die Menschen, die uns durch familiäre Bande, durch Verbundenheit im Glauben, durch die Lebensumstände näherstehen. „Deshalb wollen wir, solange wir noch Zeit haben, allen Menschen Gutes tun, besonders aber denen, die mit uns im Glauben verbunden sind“ (Gal 6,10). Der Apostel lehrt uns, nicht müde zu werden, eine geordnete Liebe zu leben. Jene, die wie wir das Geschenk der Taufe empfangen haben – wie sollten wir sie nicht als Brüder, Kinder desselben Vaters der Güte und der Barmherzigkeit betrachten? „Die Demut ist es, die uns sacht und wie selbstverständlich die beste Art des Umgangs mit unseren Mitmenschen lehrt: jeden verstehen, annehmen, entschuldigen; weder Spaltungen herbeiführen noch Schranken aufrichten, sondern - immer! - die Eintracht fördern“ (5).
Der Demütige entwickelt eine Empfindsamkeit in Bezug auf die Gaben Gottes, sowohl in seinem eigenen Leben als auch in dem der anderen; er begreift, dass jede Person eine Gabe Gottes ist, und so nimmt er alle an, ohne Vergleiche noch Rivalitäten: jeder Einzelne ist in den Augen Gottes einzigartig und trägt etwas bei, das die anderen nicht geben können. Die Demut führt dazu, sich über die Freude der anderen zu freuen, über die Tatsache, dass sie existieren und dazugehören. Der Demütige lernt, einer mehr zu sein: einer unter den anderen. Die Familie spielt in diesem Sinn eine wesentliche Rolle: Das Kind gewöhnt sich daran, Umgang mit den anderen zu pflegen, zu sprechen und zuzuhören; unter seinen eigenen Brüdern und Schwestern ist es nicht immer der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; es lernt, sich zu bedanken, denn nach und nach wird ihm klar, was die Dinge kosten. So entdeckt es angesichts eines persönlichen Erfolgs, dass so viele Dinge dank der Hingabe seiner Familienangehörigen und Freunde, der Personen, die es umsorgen, ihm zu essen geben und ein Zuhause schaffen, möglich gewesen sind. Die Demut wächst mit der Dankbarkeit und auch mit dem Verzeihen: vergeben, um Verzeihung bitten, Verzeihung erlangen. Wer bin ich, dass man zu mir sagt: „Verzeihe mir“? Die Demut dessen, der um Verzeihung bittet – vielleicht jemand, der Autorität hat -, ist liebenswert und ansteckend. Sie ist es zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern.
Ohne deshalb naiv zu sein, hat der Christ eine wohlwollende Haltung gegenüber seinen Mitmenschen, denn tatsächlich zählt jede Person und hat einen Wert; jede Form der Intelligenz, ob sie nun mehr spekulativ ist oder vom Herzen kommt, spendet Licht. Das Bewusstsein der Würde der anderen hindert ihn daran, „der Gleichgültigkeit, die demütigt“ (6) zu verfallen. Der Christ ist seiner Berufung nach den anderen zugewendet: er öffnet sich ihnen, ohne sich zu sehr darum zu kümmern, ob er lächerlich wirkt oder ein schlechtes Bild abgibt. Es gibt Menschen, die sich einschüchtern lassen, weil sie schüchtern sind, anstatt Licht und Wärme zu vermitteln; sie denken zu viel an sich selbst, an das, was die anderen sagen werden… vielleicht wegen eines übertriebenen Ehrbegriffs, wegen der Sorge um das eigene Image, was Stolz oder Mangel an Einfachheit verdecken kann.
Die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken, ständig übertrieben konkrete und spezielle Wünsche äußern, mehr oder weniger gewöhnliche Gesundheitsprobleme hervorheben; oder im Gegenteil auf eine übertriebene Weise eine Krankheit verbergen, die die anderen kennen sollten, um durch ihr Gebet und ihre Unterstützung besser helfen zu können: Alle dieser Haltungen verlangen möglicherweise eine Läuterung. Die Demut zeigt sich auch in einer gewissen Flexibilität in der Art und Weise, in der wir mitteilen, was wir sehen oder fühlen. „Du besitzt nicht den Geist der echten Abtötung, wenn du überempfindlich bist, wenn du nur auf deine egoistischen Wünsche bedacht bist, wenn du die anderen ausnützt, wenn du es nicht fertigbringst, dir Überflüssiges, manchmal auch Nötiges zu versagen; wenn du traurig wirst, nur weil dies oder jenes nicht nach deinen Vorstellungen geschieht. Echten Geist der Abtötung hast du hingegen, wenn du es verstehst, allen alles zu werden, um alle zu retten (1 Kor 9,22)“ (7).
Das Gute sehen und zusammenleben
„Wir haben für euch auf der Flöte gespielt, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt euch nicht an die Brust geschlagen“ (Mt 11,17): Der Herr bedient sich eines Liedes oder vielleicht eines volkstümlichen Spieles, um zu veranschaulichen, dass einige seiner Zeitgenossen ihn nicht zu erkennen wissen. Wir sind aufgerufen, Christus in den Ereignissen und in den Personen zu entdecken; wir müssen die göttlichen Handlungsweisen respektieren: Gott erschafft, befreit, erlöst, vergibt, ruft… „Wir dürfen daher nicht Gefahr laufen, uns der völligen Freiheit der Liebe entgegenzustellen, mit der Gott in das Leben jedes Menschen eintritt“ (8).
Sich den andern zu öffnen, setzt voraus, dass man sich ihnen anpasst; zum Beispiel, indem man mit denjenigen einen Gemeinschaftssport ausübt, die darin weniger gut sind; oder indem man auf die eigenen Vorlieben verzichtet, um sich mit anderen so zu erholen, wie sie es möchten. Im Zusammenleben wird die demütige Person immer versuchen, positiv zu sein. Der Stolze neigt dagegen dazu, das Negative zu betonen. In der Familie, in der Arbeit, in der Gesellschaft erlaubt es die Demut, die anderen unter dem Gesichtspunkt ihrer Tugenden zu sehen. Wer dagegen dazu neigt, häufig von den Dingen zu sprechen, die „ihm auf die Nerven gehen“ oder ihn ärgern, tut es gewöhnlich, weil ihm Weitblick, Nachsicht, Offenheit des Geistes und des Herzens fehlen. Vielleicht muss er lernen, die anderen mit ihren Fehlern zu lieben. Auf diese Weise wird eine Pädagogik der Liebe in die Tat umgesetzt, die nach und nach eine unwiderstehliche Dynamik schafft: Man macht sich kleiner, damit die anderen wachsen. So war es bei dem Vorläufer: „Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden“ (Joh 3,30), sagte der Täufer. Das Wort machte sich noch kleiner: „Die Kirchenväter lasen in ihrer griechischen Übersetzung des Alten Testaments ein Wort des Propheten Jesaja, das dann auch Paulus zitiert, um zu zeigen, wie die neuen Wege Gottes im Alten Testament schon vorhergesagt waren. ’Gott hat sein Wort kurz gemacht, es abgekürzt’, hieß es da (Jes 10,23; Röm 9,28). … Der Sohn selbst ist das Wort, der Logos; das ewige Wort hat sich klein gemacht – so klein, dass es in eine Krippe passte. Es hat sich zum Kind gemacht, damit uns das Wort fassbar werde“ (9).
Jesus Christus machte sich allen zugänglich: er unterhielt sich mit seinen Jüngern, gebrauchte Gleichnisse, sprach mit ihnen auf Augenhöhe – als er zum Beispiel das Problem der Steuer an den Kaiser löst, zögert er nicht, sich mit Petrus auf eine Ebene zu stellen (vgl. Mt 17,27) (10) -, mit den Frauen, den heiligen und den weiter von Gott entfernten, mit den Pharisäern, mit Pilatus. Es ist wichtig, sich von der eigenen Art zu lösen, um auf den anderen zuzugehen: So entwickelt man eine gewisse Fähigkeit, sich den anderen anzupassen und vermeidet, sich von fixen Ideen und Manien leiten zu lassen; man wird in jedem Menschen etwas Liebenswertes entdecken, diesen Funken der göttlichen Liebe, man wird sich damit zufrieden geben, einer mehr unter den anderen zu sein, in Bezug auf die Art, wie man in unserem Haus oder Land feiert, auch im Licht der liturgischen Zeit, die den Rhythmus unseres Lebens als Söhne und Töchter Gottes prägt. Der Demütige lebt aufmerksam, offen für die Bedürfnisse der Menschen in seiner Umgebung. Diese Haltung ist Grundlage der guten Erziehung und zeigt sich in vielen Details, wie im Vermeiden, ein Gespräch, eine Mahlzeit und noch weniger das Gebet zu unterbrechen, um auf einen Anruf zu antworten, außer in wirklichen Notfällen. Die Liebe entspringt letztlich dem humus – dem fruchtbaren Erdreich – der Demut: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf“ (1 Kor 13,4).
Demut bei der Arbeit
In seiner Enzyklika Laudato si’ weist der Papst darauf hin, dass jede Arbeit „eine Vorstellung über die Beziehung, die der Mensch mit den umgebenden Dingen und Personen aufnehmen kann oder muss, voraussetzt“ (11). Die Arbeit bietet nicht wenige Gelegenheiten, in der Demut zu wachsen.
Wenn sich zum Beispiel ein Vorgesetzter zu autoritär verhält, kann man eine Entschuldigung suchen und denken, dass er viel zu tragen hat, oder einfach, dass er schlecht geschlafen hat. Wenn sich ein Mitarbeiter irrt, kann man den Irrtum korrigieren, ohne die Person zu verletzen. Wegen der Erfolge anderer traurig zu werden, wäre ein Zeichen mangelnder Demut, aber auch des Glaubens: „Alles gehört euch; ihr aber gehört Christus, und Christus gehört Gott“ (1 Kor 3,22-23). Dem Demütigen ist nichts fremd: Wenn er sich zum Beispiel bemüht, seine berufliche Bildung zu verbessern, dann tut er es, abgesehen vom natürlichen Interesse für sein Spezialgebiet, um den anderen besser zu dienen. Das setzt Läuterung der Absicht voraus, Rückkehr zur übernatürlichen Sicht, sich nicht von einem oberflächlichen oder sogar verdorbenen Ambiente mitreißen zu lassen, ohne deshalb die anderen von oben herab zu betrachten. Der Demütige flieht den Perfektionismus, erkennt seine persönlichen Beschränkungen und rechnet damit, dass andere das verbessern können, was er gemacht hat. Der Demütige versteht es zu berichtigen und um Verzeihung zu bitten. Wenn er die Leitung innehat, so ist es die Erkenntnis seiner Autorität, mehr als eine gewisse, festgelegte Macht, die ihm den Führungsanspruch verleiht.
Gott hat uns aus ungeschuldeter Liebe ins Sein gerufen; gelegentlich scheint es uns jedoch notwendig, unsere eigene Existenz zu rechtfertigen. Das Verlangen sich zu unterscheiden, die Dinge auf eine andere Weise zu machen, um die Aufmerksamkeit zu wecken, eine exzessive Sorge, sich nützlich zu fühlen und sogar im Dienen hervorzustechen, können Symptome einer Krankheit der Seele sein, die nach Hilfe verlangt, die fügsam gegenüber der Gnade angenommen werden soll. „Mit einem getrübten Blick für das Gute und einem durchdringenden für das, was dem eigenen Ich schmeichelt, sammelt der laue Wille in der Seele Rückstände und Unrat von Egoismus und Stolz (…), das substanzlose oder auf sich selbst zentrierte Gespräch, (…) dieses non cogitare nisi de se, das sich im non loqui nisi de se äußert (…), die Liebe erkaltet und der apostolische Schwung geht verloren“ (12). Man denkt viel an sich selbst, redet nur von sich selbst… Die demütige Person vermeidet es, die Gespräche auf ihre Geschichte, auf ihre Erfahrung, auf das, was sie getan hat, zu lenken: sie vermeidet es, unangemessen danach zu streben, dass ihre Verdienste anerkannt werden. Ganz anders ist es dagegen, an die Wohltaten Gottes zu erinnern und das eigene Leben der Vorsehung zu überlassen. Wenn jemand von dem spricht, was er getan hat, dann damit der andere sich selbst weiterentwickeln kann. So kann also das Zeugnis einer persönlichen Begegnung mit Christus, mit der legitimen Scham der Seele, dem anderen helfen zu entdecken, dass Jesus auch ihn liebt, ihm vergibt und ihn vergöttlicht. Welche Freude bringt das! „Ich bin geliebt, also existiere ich“ (13).
Es gibt Augenblicke, in denen es besonders angebracht ist, den Wunsch nach Demut zu erneuern. Zum Beispiel, wenn man befördert wird oder eine Arbeit mit gewisser öffentlicher Bedeutung übernimmt. Dann ist die Stunde gekommen, Entscheidungen zu treffen, die einem christlichen Arbeitsstil entsprechen: Diese Stellung als von Gott gebotene Gelegenheit sehen, um noch mehr zu dienen; jeden unnötigen persönlichen Vorteil vermeiden; unsere Aufmerksamkeit für die Schwächeren intensivieren, ohne der Versuchung zu erliegen, sie zu vergessen, jetzt da man Umgang mit Menschen hat, zu denen man früher keinen Zugang hatte. Dann ist auch der Moment gekommen, ein Beispiel der Loslösung von Gewinn und Ehren, die mit diesem Amt oder dieser Arbeit verbunden sind, zu geben; Lob, das Personen in leitenden Funktionen zu empfangen pflegen, seine Bedeutung zu nehmen, aber dagegen für Kritik, die oft verborgen bleibt und der Wahrheit entspricht, offen zu sein. Es gibt viele Äußerungen dieser Einfachheit bei der Arbeit: über uns selbst lachen, wenn wir uns dabei ertappen, dass wir zum Beispiel gleich gesucht haben, ob wir auf einer Fotografie erscheinen oder in einem Text zitiert werden; die Neigung überwinden, überall unsere Unterschrift zu hinterlassen; oder ein Problem daraus zu machen, wenn man uns nicht um einen Rat gebeten hat, so als müsste man uns immer konsultieren…
Nachgeben lernen
Im beruflichen, familiären Ambiente und sogar bei der Erholung werden Treffen organisiert, in denen vielleicht auch entgegengesetzte Meinungen ausgetauscht werden. Gehören wir zu jenen Menschen, die unbedingt wollen, dass die anderen sich unseren Auffassungen anpassen? Was sein müsste, was zu tun wäre… Die übertriebene Tendenz, auf dem eigenen Standpunkt zu beharren, kann ein Zeichen geistiger Starrheit sein. Zweifellos ist Nachgeben nicht etwas Automatisches, aber auf jeden Fall oftmals ein Zeichen der Klugheit. Die Gelegenheiten zu nützen, das eigene Urteil zu unterwerfen, ist in den Augen Gottes wohlgefällig (14). Kurz und bündig kommentierte Benedikt XVI. bei einer Gelegenheit die traurige Wende, die Tertullian in den letzten Jahren seines Lebens vollzog: „Wenn man nur die Größe des eigenen Denkens sieht, verliert man schließlich eben diese Größe“ (15).
Manchmal sollen wir auf Jüngere hören, die weniger Erfahrung haben, aber vielleicht mehr Gaben des Verstandes oder des Herzens besitzen, oder die Funktionen innehaben, in denen ihnen die Gnade Gottes beisteht. Gewiss hat es niemand gern, dumm zu erscheinen, oder als Mensch ohne Herz, aber wenn wir uns viele Sorgen darüber machen, was die anderen von uns denken, dann fehlt uns Demut. Das Leben Jesu, des Sohnes Gottes, ist eine unerschöpfliche Lektion für jeden Christen, der mit einer Verantwortung bekleidet ist, die die Welt hoch einschätzt. Die Jubelrufe Jerusalem ließen den König der Könige nicht vergessen, dass andere ihn kreuzigen würden, und er auch der Leidensknecht war (vgl. Joh 12,12-19).
Der heilige König Ludwig riet seinem Sohn, wenn er einmal König sein würde, in den Versammlungen des königlichen Rats seine Meinung nicht energisch zu verteidigen, ohne vorher die anderen angehört zu haben: „Die Mitglieder deines Rates könnten Angst haben, dir zu widersprechen; und das sollte man nicht wünschen“ (16). Es ist sehr heilsam, zu lernen, seine Meinung nicht leichtfertig zu äußern, vor allem wenn man nicht die letzte Verantwortung hat und den Hintergrund einer Angelegenheit nicht kennt, und außerdem die Standesgnade und die Kenntnis der Daten fehlen, die vielleicht jemand besitzt, der mit Autorität ausgestattet ist. Andererseits: so wichtig Abwägen und Überlegen sind; ebenso wichtig ist die Bereitschaft, ein Urteil mit Noblesse und Großherzigkeit zurückzunehmen: Manchmal wird man die Tugend der Klugheit üben, indem man auf Berater hört und seine Auffassung ändert; und darin zeigt sich, dass Demut und Hausverstand den Menschen größer und wirksamer machen. Die Klugheit beim Urteilen wird durch die Teamarbeit gefördert: ein Team bilden, die Kräfte vereinen, eine Idee ausarbeiten und mit den anderen zu einer Entscheidung kommen: All das ist auch eine Übung der Demut und der Vernunft.
Die Demut des unnützen Knechts
Bei pastoralen Initiativen, in den Pfarren, in wohltätigen Vereinigungen, bei Hilfsprojekten für Migranten sind die Lösungen für die Probleme oft nicht evident oder es gibt einfach verschiedene Weisen, sie anzugehen. Eine demütige Haltung führt dazu, die eigene Meinung zu äußern, auf geeignete Weise zu sagen, wenn irgendein Punkt nicht klar ist, und sogar eine Auffassung, die von der eigenen abweicht, zu akzeptieren, im Vertrauen darauf, dass die Gnade Gottes jenen beisteht, die ihre Funktion mit lauterer Absicht ausüben und dabei mit der Hilfe von Experten rechnen.
Es ist wenig bekannt, dass die katholische Kirche, dank einer wunderbaren kollektiven Demut, die Institution ist, die auf der ganzen Welt die meisten Initiativen betreibt, um Armen und Kranken zu helfen. Gerade im Volk Gottes, in dem das Menschliche und das Göttliche nebeneinanderstehen, ist die Demut besonders notwendig. Wie schön ist es, danach zu streben, das Kuvert zu sein, das weggeworfen wird, wenn der Brief gelesen wurde, oder die Nadel zu sein, die den Faden zurücklässt und verschwindet, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hat! Der Herr lädt uns ein, zu sagen: „Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan“ (Lk 17,10). So wird der Priester die Demut haben, „zu lernen, nicht modisch zu sein“ (17), nicht versuchen, immer auf dem neuesten Stand zu sein, die Vorhut von allem zu bilden; auf fast instinktive Weise die Geltungssucht zurückweisen, die leicht mit einer Mentalität des Eigentümers der Seelen Hand in Hand geht. Zugleich wird der gläubige Laie, wenn er demütig ist, die Kultdiener wegen des Heiligen, das sie repräsentieren, achten: er wird nicht seinen Pfarrer oder die Priester im Allgemeinen kritisieren, sondern ihnen diskret helfen. Die Söhne Noachs bedeckten die Nacktheit ihres betrunkenen Vaters (vgl. Gen 9,23). „Wie die guten Söhne des Noach, sollst du mit dem Mantel der Liebe die Erbärmlichkeiten zudecken, die du an deinem Vater, dem Priester, bemerkst“ (18). Der heilige Thomas Morus wendete diese Erzählung sogar auf den Papst an, für den das christliche Volk hätte beten sollen, anstatt ihn zu verfolgen! (19).
Die Zeit gehört Gott: Glaube und Demut
„Das Zeugnis der Schrift lautet einstimmig: Die Fürsorge der Vorsehung ist konkret und unmittelbar; sie kümmert sich um alles, von den geringsten Kleinigkeiten bis zu den großen weltgeschichtlichen Ereignissen. Die heiligen Bücher bekräftigen entschieden die absolute Souveränität Gottes im Lauf der Ereignisse: ’Unser Gott ist im Himmel; alles, was ihm gefällt, das vollbringt er’ (Ps 115,3). Und Christus ist der, ’der öffnet, so dass niemand mehr schließen kann, der schließt, so dass niemand mehr öffnen kann’ (Offb 3,7). ’Viele Pläne fasst das Herz des Menschen, doch nur der Ratschluss des Herrn hat Bestand’ (Spr 19,21)“ (20). Und die geistliche Leitung ist ein hervorragendes Mittel, um uns besser in diesen Horizont zu stellen. Der Heilige Geist wirkt geduldig und rechnet mit der Zeit: Der empfangene Rat muss seinen Weg in der Seele machen. Gott erwartet die Demut eines für seine Stimme empfänglichen Gehörs; dann ist es möglich, aus den in der Pfarre gehörten Homilien Nutzen zu ziehen, nicht nur um etwas zu lernen, sondern vor allem, um sich zu bessern: sich während eines Bildungsvortrags oder einer Weile des Gebets, einige Notizen zu machen, um sie dann mit jemandem zu besprechen, der unsere Seele gut kennt, bedeutet auch, die Stimme des Heiligen Geistes zu erkennen.
Glaube und Demut gehen Hand in Hand: Auf unserer Pilgerschaft zur himmlischen Heimat müssen wir uns vom Herrn führen lassen, indem wir uns an ihn wenden und sein Wort hören (21). Die aufmerksame Lesung des Alten und des Neuen Testaments, mit theologisch-geistlichen Kommentaren, hilft uns zu verstehen, was Gott uns in jedem Augenblick sagt, indem er uns zur Bekehrung einlädt: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des Herrn“ (Jes 55,8; vgl. Röm 11,33). Die Demut des Glaubens kniet vor Jesus Christus, der in der Eucharistie gegenwärtig ist, nieder, betet das inkarnierte Wort an wie die Hirten von Betlehem. So geschah es der heiligen Theresia Benedicta vom Kreuz, Edith Stein: Nie vergaß sie jene Frau, die mit ihrer Einkaufstasche in eine Kirche ein-trat und sich niederkniete, um ihr persönliches Gebet zu halten, in einem vertrauten Gespräch mit Gott (22).
Die Demut lässt uns eine von der Zukunft unbelastete Gegenwart leben, denn wir Christen gehören zu jenen, „die sehnsüchtig auf sein Erscheinen warten“ (2 Tim 4,8). Wenn wir wegen widriger Umstände ärgerlich werden, müssen wir im Glauben und in der Demut wachsen. „Wenn du dich wirklich auf den Herrn verlässt, wirst du lernen, dich zufrieden zu geben mit allem, was auf dich zukommen mag. Du wirst die Gelassenheit nicht verlieren, selbst wenn ein Vorhaben trotz deines persönlichen Engagements und trotz des Einsatzes aller vernünftigen Mittel nicht deiner Erwartung gemäß gelungen ist... Es wird eben nur insoweit seine Erfüllung gefunden haben, als es den Plänen Gottes entspricht“ (23). Auf diese Weise vermeidet man eine übertriebene Unzufriedenheit, oder die Neigung die Demütigungen im Gedächtnis zu bewahren: Ein Kind Gottes verzeiht die Beleidigungen, es verharrt nicht im Groll, sondern geht vorwärts“ (24). Und wenn jemand denkt, dass ihn ein anderer beleidigt hat, versucht er sich nicht an die Beleidigungen zu erinnern, er trägt nicht nach: er schaut auf Jesus, wissend, dass „er mir noch mehr vergeben hat; wie viel mehr Liebe schulde ich dann ihm!“ (25). Der Demütige sagt mit dem heilige Paulus: „Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung, die Gott uns in Christus Jesus schenkt“ (Phil 3,13-14).
Diese Haltung hilft uns, die Krankheit anzunehmen und sie in eine fruchtbare Aufgabe zu verwandeln: Sie ist eine Sendung, die Gott uns anvertraut. Und ein Teil dieser Sendung besteht darin, zu lernen, es den anderen leichter zu machen, dass sie uns helfen können, unseren Schmerz und die möglichen Ängste zu lindern: sich helfen, heilen, begleiten zu lassen, ist ein Beweis des Sich-Überlassens in die Hände Jesu, der in unseren Brüdern präsent wird. Wir sollen ergänzen, „was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, die Kirche“ (Kol 1,24).
Das Bewusstsein unserer Schwäche führt uns dazu, dass wir uns helfen lassen, nachsichtig mit den anderen sind, die menschliche Natur verstehen, heuchlerisches Erstaunen vermeiden. Unsere Schwäche öffnet uns Verstand und Herz, um die anderen zu verstehen: Man kann zum Beispiel die Absicht läutern oder denken, dass sich eine Person in einer sehr schwierigen Situation befand; auch wenn das offensichtlich nicht bedeutet, dass man die Wahrheit ignoriert, indem „das Böse gut und das Gute böse“ genannt wird, und „das Bittere in Süßes und das Süße in Bitteres verwandelt wird“ (Jes 5,20). Andererseits kann es gelegentlich vorkommen, dass jemand dazu neigt, sich zu unterschätzen. Diese in vielen Bereichen häufig vorkommende, niedrige Selbsteinschätzung ist auch nicht heilsam, weil sie nicht der Wahrheit entspricht und jemandem, der berufen ist, hoch zu fliegen, die Flügel stutzt. Es gibt keinen Grund, den Mut zu verlieren: Die Demut führt uns dazu, anzunehmen, was uns gegeben ist, in der tiefen Überzeugung, dass der Herr uns auf Wegen der Barmherzigkeit führen möchte (vgl. Hebr 3,10; Ps 95,10); aber er führt uns auch eben deshalb dazu, kühn zu träumen: „Sich als zerbrochenen und wieder zusammen geklammerten Ton zu wissen ist ja gerade die ständige Quelle der Freude, denn es bedeutet, sein Kleinsein vor Gott anzuerkennen: als Kind, als Sohn. Kann man sich eine tiefere Freude als die eines Menschen vorstellen, der sich arm und schwach, aber auch Kind Gottes weiß?“ (26).
Die Öffnung zur Vorsehung
Der demütige Mann und die demütige Frau sind offen für das Wirken der Vorsehung in der Zukunft. Sie versuchen weder, noch wollen sie alles kontrollieren und Erklärungen für alles haben. Sie achten das Geheimnis der menschlichen Person und vertrauen auf Gott, auch wenn der nächste Tag unsicher erscheint. Sie versuchen nicht, die geheimen göttlichen Absichten zu erkennen, noch das, was ihre Kraft übersteigt (vgl. Sir 3,21). Ihnen genügt die Gnade Gottes, denn „sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit“ (2 Kor 12,9). Wir finden diese Gnade im Umgang mit Jesus Christus: sie ist Teilhabe an seinem Leben. Nach einer bewegenden Danksagung an Gott Vater, lädt Jesus seine Jünger aller Zeiten ein, sich ihm zu nähern, quia mitis sum et humilis corde (Mt 11,29): der Herr ist gütig und von Herzen demütig, und deshalb finden wir bei ihm Verständnis und Gelassenheit. Wir nähern uns Christus in der Eucharistie, seinem verwundeten und auferstandenen Leib: in humilitate carnis assumptae , heißt es in der 1. Präfation des Advents – er kommt in seiner ersten Ankunft in der Demut unseres Fleisches. Wir berühren die unaussprechliche Demut Gottes. „Demut Jesu: in Bethlehem, in Nazareth, auf Kalvaria. Aber mehr Demütigung und Erniedrigung in der heiligen Hostie; mehr als im Stall, als in Nazareth und als am Kreuz“ (27). Die Jungfrau Maria begleitet uns, damit wir ihn mit der Demut empfangen, mit der sie ihren Sohn Jesus empfing. Salve radix, salve porta, ex qua mundo lux est orta (28): Ave, Wurzel, der das Heil entsprossen, Tür, die uns das Licht erschlossen, um eine Welt zu erleuchten, die ins Dunkel des Stolzes getaucht ist; Jesus Christus, Licht vom Licht (29), offenbart uns die Barmherzigkeit Gottes, des Vaters.
(1) Benedikt XVI., Homilie, 24.12.2011.
(2) Franziskus, Enz. Laudato si’ (24.5.2015), 67.
(3) Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, 94.
(4) Franziskus, Ansprache an die Römische Kurie, 21.12.2015.
(5) Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, 233.
(6) Franziskus, Bulle Misericordiae Vultus (11.4.2015), 15.
(7) Hl. Josefmaria, Christus begegnen, 9.
(8) Franziskus, Apost. Schreiben Misericordia et misera (30.11.2016), 2.
(9) Benedikt XVI., Nachsynodales Schreiben Verbum Domini, 12.
(10) Vgl. Guillaume de Saint Thierry, Exposé sur le Cantique des Cantiques , 109, in Sources Chrétiennes 82, 243.
(11) Vgl. Franziskus, Laudato si’, 125.
(12) Sel. Álvaro del Portillo, Hirtenbrief, 9.1.1980 (zitiert in Álvaro del Portillo, Orar. Como sal y como luz , Barcelona: Planeta, 2013, 207).
(13) Franziskus, Misericordia et misera , 16.
(14) Vgl. hl. Josefmaria, Der Weg, 177.
(15) Benedikt XVI., Audienz, 30.5.2007.
(16) Hl. Ludwig von Frankreich, Geistliches Testament an seinen Sohn, den künftigen Phi-lipp III., in Acta Sanctorum Augustii 5 (1868), 546.
(17) Hl. Josefmaria, Gespräche, 59.
(18) Ders., Der Weg, 75.
(19) Vgl. hl. Thomas Morus, Responsio ad Lutherum , in The Yale Edition of The Complete Works of St. Thomas More , Bd. 5, S. 142 (CW5, 142/1-4).
(20) Katechismus der Katholischen Kirche, 303.
(21) Vgl. Sagrada Biblia, Traducción y notas de la Facultad de Teología de la Universidad de Navarra, Kommentar zu Ps 95.
(22) Vgl. hl. Theresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein), Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Das Leben Edith Steins: Kindheit und Jugend , 1965 (Gesamtausgabe 1985), S. 362.
(23) Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, 860.
(24) Vgl. Javier Echevarría, Hirtenbrief, 4.11.2015, Nr. 21.
(25) Vgl. hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, 210.
(26) Ders., Freunde Gottes, 108.
(27) Ders., Der Weg, 533.
(28) Hymnus Ave Regina Coelorum.
(29) Vgl. Römisches Messbuch, Credo.