Die Frucht des Weinstocks

Zu Fronleichnam eine Betrachtung von Josef Arquer

Die Obstblüte, deren Schönheit wir zu Ostern bewunderten, ist längst vorbei, und nun nach Pfingsten ist auch das Grün der Blätter nicht mehr so lichthell wie Anfang Mai. Vielleicht weil sie die Lebenssäfte aus den Wurzeln mit den schon schwellenden Früchten teilen müssen. Bald zeigen die Obstbäume die Schönheit ihre Früchte und nicht allein die Augen werden sich daran ergötzen, auch der Gaumen.

Das Blut und der Weinstock

Wie in der Natur folgen auch im Kirchenjahr verschiedene Lebensphasen aufeinander: erst Sprossen und Knospen, dann Blüten und endlich reife Früchte... Als der Herr im Abendmahlssaal die Eucharistie einsetzte, sprach er von der „Frucht des Weinstocks“. Am Gründonnerstag selbst scheute sich die Liturgie, in Jubel auszubrechen, denn nach der Einsetzung begann noch am selben Abend im Ölgarten die Passion des Herrn. Da lag es nahe, dass die Kirche nach einer anderen Gelegenheit suchte, ihrem Jubel freien Lauf zu lassen. So entstand in der Mitte des 13. Jahrhunderts das Fest Fronleichnam, in altem Deutsch Fron-Lichnam – Herren-Leib, das nun „Hochfest des Leibes und Blutes Christi“ heißt. Es wird am Donnerstag nach dem Dreifaltigkeitssonntag gefeiert. Seine liturgischen Texte verfasste damals der heilige Thomas von Aquin. Die Sequenz vor dem Evangelium ist ein Lobpreis des Herrn:

Preis nach Kräften seine Würde,

da kein Lobspruch, keine Zierde

seinem Ruhm genügen kann.

Im Lateinischen heißt es in schönem Rhythmus:

Quantum potes, tantum aude:

quia maior omni laude,

nec laudare sufficis.

Ja, wage zu loben, nach Kräften zu preisen, so viel du vermagst; nie wirst du genug loben können.

An Fronleichnam richtet sich unser Blick auf die reichen Früchte des Leidens Jesu am „Baum des Kreuzes“, wie Kirchenväter und Dichter sagen. Wir feiern die ständige Gegenwart des Herrn im Sakrament des Altares. In theologischer Sprache erklärt der Katechismus der Katholischen Kirche: „Weil Christus seiner sichtbaren Gestalt nach die Seinen verließ, wollte er uns seine sakramentale Gegenwart schenken; weil er sich am Kreuz darbrachte, um uns zu retten, wollte er, dass wir das Zeichen des Gedächtnisses der Liebe bei uns haben, mit der er uns ‚bis zur Vollendung' liebte (Joh 13,1), bis zur Hingabe seines Lebens. In seiner eucharistischen Gegenwart bleibt er geheimnisvoll in unserer Mitte als der, welcher uns geliebt und sich für uns hingegeben hat, und er bleibt unter den Zeichen gegenwärtig, die diese Liebe zum Ausdruck bringen und mitteilen." (Nr. 1380) Die Worte und Taten des Herrn damals bei Letzten Abendmahl bleiben geheimnisvoll, aber im nachpfingstlichen Licht doch fassbar für Herz und Gemüt.

„Ich bin der wahre Weinstock“ (vgl. Joh 15,1-8). Auch wenn die Weinstöcke, die wir an den Rebhängen sehen, nicht etwa „unwahr“ sind, relativiert dieses Wort Jesu das Materielle, das wir sehen und schmecken können. Hinter dem Augenfälligen, dem Fassbaren, scheint ein Bild und Gleichnis für eine geistliche Wirklichkeit auf, die uns verheißen, aber noch verborgen ist.

So war das Wort vom Weinstock den Israeliten als Sinnbild für ihr Volk vertraut. Jesus gibt dem Bild eine tiefere Bedeutung. Jetzt ist er selbst das wirksame Zeichen. Sein Blut ist in der sakramentalen Gemeinschaft mit ihm unser Lebenselixier geworden. Durch das Gebet und die Sakramente bleiben wir mit dem Weinstock verbunden und werden so fruchtbar. „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“ (Joh 15,5).

Wie frische Rebzweige

Jesus spricht davon, wie Gott den Weinstock pflegt: „Mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab.“ Es gibt also Christen, die „an ihm“ sind und doch unfruchtbar bleiben und schließlich ganz von ihm getrennt sind. Andere gibt es – und darauf will der Herr hinaus – die unter der Pflege des Winzers reiche Frucht tragen: „Jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt.“ Der göttliche Winzer bereitet dem Wachstum der Gnade den Boden. Er lockert die Verhärtung aus Egoismus und stumpfer Sinnenlust, er beschneidet den Wildwuchs trügerischen Begehrens und der Menschenfurcht. Wenn nicht, würde das Leben der Seele von wilden Trieben überwuchert und müsste verkümmern. Immer wieder jätet er das Unkraut der Unlust und der Nachlässigkeit. So verhilft er fruchtbaren Schösslingen zum Wachstum, zur Blüte und schließlich zur Reife der vollen, süßen Traube.

„Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“. Auf vielfältige Weise sind wir mit ihm verbunden, durch die Sakramente, durch Anbetung und Bittgebet, durch Güte im Umgang miteinander und Zivilcourage in der Gesellschaft...

Christus in die Welt tragen

Die Freude über das Geheimnis der realen Gegenwart des Herrn unter uns drängt nach außen im guten Beispiel, im freimütigen Bekenntnis und heute sogar auf der Straße. Die Fronleichnams-Prozession entstand in den siebziger Jahren des 13. Jahrhunderts. Sie macht öffentlich sichtbar „wie Eucharistie die Welt umspannt und sie verwandelt. Eucharistie gehört nicht bloß in den Kirchenraum und zu einer geschlossenen Gemeinde. Die Welt soll eucharistisch werden (...) Das aber ist Fronleichnam: Eucharistie kosmisch feiern.“ (Joseph Ratzinger, Bilder der Hoffnung).

Der in der Hostie sakramental gegenwärtige Herr wird durch die Strassen getragen – an jeder Station eine kurze Andacht und ein Segen mit dem Allerheiligsten. Passanten bekreuzigen sich oder knien nieder oder gehen gleichgültig weiter. So geht die Prozession auch am ahnungslosen Bistrobesucher vorbei und an der verschlafenen Fensterguckerin. Überrascht betrachten sie den Zug oder halten ihn für katholische Folklore – und ahnen nichts vom göttlichen Spiel mit den Grenzen der Zeit und der Sehnsucht der Menschen. „Christus geht, in der Hostie verborgen, durch die Straßen und Gassen – wie in seinem Erdenleben – und begegnet allen: denen, die Ihn sehen wollen, und denen, die Ihn nicht suchen. Jesus ist wieder einmal unter den Seinen. Wie stellen wir uns zu diesem Ruf des Meisters?“ (Josemaria Escrivá, Christus begegnen, Nr. 156)

von Josef Arquer