Das Antlitz Jesu

Der Autor dieses Leitartikels sagt: „Dein Antlitz möchte ich suchen, möchte lernen, es zu finden und herzuzeigen, möchte es in allen gewöhnlichen Ereignissen meines Lebens zu entdecken verstehen, möchte wahrnehmen, dass wirklich Du es bist“.

Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? 1

Die Augen der Apostel waren auf die Stelle fixiert, an der Jesus ihren Augen entschwunden war. Ein Engel musste sie daran erinnern, dass das Leben weitergeht.

Der Bote Gottes beabsichtigte keineswegs, das Interesse jener Männer an ihrem Meister zu schmälern, aber möglicherweise wollte er sie sehr wohl dazu bringen, zu lernen, dass sie nun in anderer Weise an Ihn zu denken haben: dass sie Ihn mit ihrem Blick in den anderen und im alltäglichen Geschehen des Lebens entdecken müssen.

Der heilige Paulus hat jene Sehnsüchte der Apostel verstanden, da auch er sich danach sehnte, Christus von Angesicht zu Angesicht zu sehen 2. Aber vor die Wahl gestellt, zog er es vor, so lange Gott will, Ihn wie in einem Spiegel und verschwommen zu betrachten 3, wenn er dadurch anderen dazu verhelfen konnte, in diesem Licht zu leben 4.

Der Zielgruppe seiner apostolischen Sendung empfahl er durch sein Beispiel und mit der Kraft seiner Worte, ihren Blick - solange sie auf Erden wandeln - nach dem Himmel zu richten, denn da ihr mit Christus auferweckt (seid), so strebt nach dem, was oben ist, wo Christus zur Rechten Gottes ist 5.

Quae sursum sunt quaerite!6 Strebt nach dem, was oben ist! Wir wollen uns diesem Ruf anschließen, müssen das aber lernen. Bei vielen Gelegenheiten finden wir uns mit dem Blick nach unten, zu sehr auf Vergängliches fixiert.

Wir merken, dass wir einen größeren Scharfsinn brauchen, um das Wirken Christi in jedem Moment unseres Lebens zu entdecken. Wir lieben diese, unsere Welt, als den Ort, an dem wir Gott begegnen 7. Wir würden gerne eine größere Leichtigkeit entwickeln, um den Blick Jesu Christi inmitten unserer gewöhnlichen Beschäftigungen wahrzunehmen. Wir wollen auch, dass andere in uns Christus erkennen können. Die wunderbare Möglichkeit, unseren Freunden das Angesicht Christi nahezubringen, erfüllt uns mit Freude.

Wir werden Ihm sagen: Vultum tuum, Domine, requiram!8. Ich will dein Angesicht suchen, o Herr! Dein Antlitz möchte ich suchen, ich möchte lernen, es zu finden und herzuzeigen, möchte es in allen gewöhnlichen Ereignissen meines Lebens zu entdecken verstehen, möchte wahrnehmen, dass wirklich Du es bist.

Hören wir dazu den folgenden Hinweis des heiligen Josefmaria: Der Christus, den du siehst, ist nicht Jesus. – Es ist höchstens das traurige Bild, das deine getrübten Augen dir zeigen... – Läutere dich. Reinige deinen Blick mit Hilfe der Demut und der Buße. Dann . . . fehlt dir das klare Auge der Liebe nicht. Dein Blick wird schärfer. Dein Bild wird dann wirklich sein Bild: Er !9

Die Evangelien verweisen bei verschiedenen Gelegenheiten auf den Blick Jesu Christi. Ein wohlwollender und herzlicher Blick, ergreifend und bewegend, ein durchdringender, die geheimsten Gedanken erkennender Blick, der lehrt und bessert, zur Reue anregt und Großzügigkeit auslöst 10.

Vielleicht haben wir oft versucht, uns im Gebet diesen Blick vorzustellen, mit der Absicht herauszufinden, wie wir ihn einfangen könnten, um ihn in unserem gewöhnlichen Leben präsent zu haben. Einige der Persönlichkeiten, die Jesus während seiner Passion begegnet sind, können uns helfen, diesem Wunsch näherzukommen.

Während des Kreuzwegs haben drei Personen eine besondere Beziehung zum Antlitz Jesu: nur zwei suchen es, aber alle drei begegnen ihm. Von allen dreien können wir lernen, jede von ihnen lehrt uns auf andere Weise, wie wir dieses Streben, das Antlitz Jesu zu sehen, verwirklichen können.

Mit der heiligen Maria ein Herz und eine Seele

Kaum hat sich der Herr nach seinem ersten Sturz wieder erhoben, da begegnet Er seiner heiligsten Mutter, die am Wegesrand steht 11. Das Evangelium berichtet uns nichts über diese Begegnung. Aber dieses Schweigen der Schrift hat im Lauf der Jahrhunderte die Vorstellungskraft der Christen angeregt. Unser Vater stellt das so dar: Mit unermeßlicher Liebe schaut Maria auf Jesus und Jesus auf seine Mutter. Ihre Blicke begegnen sich, und jeder ergießt seinen Schmerz in das Herz des anderen 12.

Ihre Liebe ist so tief, dass eine Begegnung der Augen ausreicht, damit beide wissen, dass sie auf den anderen zählen können und dass beide ihre immensen Schmerzen auf die andere Person ausschütten können, weil ihre beiden Herzen sie aufzunehmen imstande sind. Inmitten dieses Leidens wird ihnen der tiefe Trost zuteil, sich begleitet und verstanden zu wissen.

Das bittere Leiden Christi überflutet die Seele Mariens13. Die Bitterkeit, welche die Seele Mariens erfüllt, ist die ihres Sohnes, so wie die Seele Jesu von der Bitternis Mariens erfüllt wird. Ihr Einssein ist so stark, dass beide den Schmerz der anderen Person fühlen. So stützen sie sich gegenseitig und halten sich aufrecht.

Wenn wir doch auch zu einer derartigen Identifikation mit den Gedanken und Gefühlen Christi gelangen könnten! Sicherlich sind wir noch weit entfernt davon, aber wir wünschen es uns sehr. Wir wissen, dass uns auf diesem Weg weder Schmerzen noch Leiden erspart bleiben, so wie sie jedes menschliche Leben begleiten. Aber wir werden immer genügend Licht finden, um ihnen zu begegnen. Niemals wird uns diese feste Stütze fehlen, so dass wir den Schwierigkeiten nicht unterliegen, sondern sie mit Gelassenheit angehen.

Simeon hat der Jungfrau angekündigt, dass ein Schwert ihr Herz durchbohren wird 14. Ab der Ankündigung der Passion wird diese Wunde des Schwertes nie von Maria weichen. Sie hat immer gegenwärtig, dass man sie nur durch die ihrem Sohn zugefügten Beschimpfungen beleidigen kann. Sie ist sich dessen bewusst, dass alles Leid - aber auch alle Freude - nur aus der Beziehung zu Ihm hervorgehen kann.

Die Jungfrau zeigt uns, dass wir das Angesicht Christi in den Bitternissen und kleinen Enttäuschungen in Beruf, Familie und Gesellschaft suchen und entdecken können. Daraus folgt, dass wir selbst inmitten von Schmerzen von innerem Frieden erfüllt sein können.

Veronika hat ein gutes Herz

Die Überlieferung der Kirche erzählt, dass etwas später eine Frau auf den Herrn zugeht, um Ihm das Antlitz abzuwischen. Das ist alles, was wir von Veronika wissen, die uns unter diesem Namen bekannt ist.

Vielleicht hatte sie vorher nie bewusst daran gedacht, das Antlitz Jesu Christi sehen zu wollen. Aber selbst, wenn sie das gewünscht hätte, mag sie dieses Antlitz nun aus einem viel einfacheren Grund gesucht haben: sie beabsichtigte nur, diesem leidenden Menschen eine Aufmerksamkeit zu erweisen. Und doch hat diese nicht einmal im Evangelium erwähnte Frau der Sehnsucht nach einer Betrachtung des Antlitzes Gottes einen Namen gegeben.

Eure Augen aber sind selig, weil sie sehen, (...). Denn, amen, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben sich danach gesehnt zu sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen 15. Diese Worte treffen auf Veronika in besonderer Weise zu. Für sie ist dieses Verlangen, das im Lauf der Geschichte das Herz so vieler Heiliger erfüllt hat, durch ihre schlichte Güte gestillt worden. Denn das Herz einer gütigen Frau „lässt sich von der Brutalität der Soldaten nicht anstecken, von der Angst der Jünger nicht lähmen“ 16, sie lässt sich von der Gelegenheit zu einer kleinen Dienstleistung nicht abhalten. Und dieser „Akt der Liebe prägt ihrem Herzen das wahre Bild Jesu ein“ 17.

Das Antlitz des menschgewordenen Gottes prägt sich diesem Leinentuch ein. Ja, aber vor allem verbleibt es als Abbild der inneren Güte. „Der Retter der Welt hinterlässt Veronika ein wahres Abbild seines Antlitzes. Das Tuch mit dem darauf verbleibenden Bild Christi vermittelt uns eine Botschaft. Es sagt uns gewissermaßen, dass jede gute Handlung, jede Geste wahrer Liebe zum Nächsten, in dem, der sie ausführt, die Ähnlichkeit zum Retter der Welt steigert. Liebesakte vergehen nicht. Jedwede Geste von Güte, Verständnis und Dienstbereitschaft hinterlässt in der Seele des Menschen ein unauslöschliches Zeichen, das ihn dem ähnlicher macht, der ‚sich (entäußerte) und (wie ein Sklave) wurde’ ( Phil 2,7). So kommt es zur Ausbildung der Identität wahren menschlichen Seins“ 18.

Ist das nicht ein gangbarer Weg zur Suche nach dem Antlitz Jesu? Ist es nicht auch eine Möglichkeit, um Ihn in unserer Umgebung gegenwärtig zu machen?

Es ist durchaus denkbar, in unserem Leben Gelegenheiten zu großen Diensten an anderen zu entdecken, auf etwas Wertvolles zu verzichten, um anderen zu helfen. Aber unabhängig davon, ob sich solche Gelegenheiten finden, sollen wir den Herrn bitten, dass Er uns ein gutes Herz gebe, fähig, auf das Leid anderer mit Mitleid zu antworten und zu verstehen, dass die Qual, die das Menschenleben auf Erden begleitet und oft viele Seelen ängstigt, nur durch die Liebe gelindert werden kann. Alles andere bringt höchstens eine kurze Ablenkung, die dann wieder der Bitterkeit und der Verzweiflung weicht 19.

In vielen Fällen ist es für die Menschen die größte Hilfe zur Entdeckung des liebevollen Antlitzes des Herrn, wenn sie bemerken, wie seine Jünger trotz aller ihrer Beschränkungen zu erfassen verstehen, was die anderen benötigen: sie sind imstande jene Kleinigkeiten zu bemerken, die, wenn man sie übersieht, niemand reklamieren würde, die aber, wenn sie Beachtung finden, herzliche Dankbarkeit auslösen.

Wenn wir mit übernatürlichem Sinn auf diese Weise handeln, dann stillen wir, soweit das in diesem Leben möglich ist, die Sehnsucht das Antlitz Jesu zu betrachten. Zugleich erleichtern wir aber auch anderen Menschen die Begegnung mit Ihm.

Mag sein, dass sie sich nicht gleich darüber im Klaren sind und eine gewisse Zeit benötigen, um Jesus zu entdecken. Aber vom ersten Augenblick an werden sie empfinden, dass an denen, die sie mit so einfacher Güte behandeln, etwas Besonderes ist.

Wenn wir anderen dazu verhelfen wollen, das überaus wohlwollende Antlitz des Meisters zu entdecken, müssen wir danach trachten, Wohlwollen, Gelassenheit, Frieden, Geduld, Respekt, Höflichkeit und Herzlichkeit auszustrahlen, selbst dann, wenn wir nicht damit rechnen können, dass das honoriert wird. Wenn wir an anderen das Antlitz Jesu sehen wollen, müssen wir ihnen mit offenem Herzen begegnen, mit einem Herzen, das sich Eltern, Kindern, Freunden, jedem Einzelnen mit Wertschätzung, Bewunderung und Liebe zuwendet. Dann entdeckt man, wie jeder von ihnen auf seine Art die Güte Gottes widerspiegelt.

Simon von Kyrene, Begegnung mit dem Kreuz

Die synoptischen Evangelien berichten von einer weiteren Person, die am Kreuzweg auf Jesus Christus stößt. Die heilige Maria und Veronika haben Ihn gesucht, sind aus Eigeninitiative auf Ihn zugegangen. Bei Simon von Kyrene war das nicht so, er wurde gezwungen das Kreuz zu tragen 20. Die Ausdrucksweise der Evangelisten deutet an, dass er sich anfangs diesem Ansinnen vielleicht widersetzt hat.

Das ist verständlich. Niemand lässt sich gerne zwingen, das Kreuz eines anderen zu tragen, schon gar nicht am Ende eines harten Arbeitstages. Der heilige Markus gibt zu verstehen, dass die Kinder dieses Mannes später als Christen bekannt waren 21. Alles begann durch eine unerwartete Begegnung mit dem Kreuz 22. Ein scheinbar unglücklicher Vorfall führte zu großem Glück.

Die Haltung des Kyreners änderte sich wohl nicht plötzlich, sondern nach und nach. Man geht wohl nicht fehl anzunehmen, dass das in Zusammenhang mit dem Antlitz Jesu stand. Er dachte zunächst, dass er es mit einem Verbrecher zu tun hatte, aber der freundlich dankbare und friedliche Blick entwaffnete ihn. Trotz des anfänglichen Widerwillens mag er wohl bemerkt haben, dass es sich lohnt, mit diesem Verurteilten gemeinsam das Kreuz zu tragen.

Was anfangs eine Unannehmlichkeit schien, die ihn von seiner Ruhe abhielt, entpuppte sich durch das Angesicht jenes Mannes als eine einmalige Gelegenheit, durch die sich sein Leben änderte.

Für ihn wurde das Kreuz - wie für jeden Christen - zum Zeichen des Glaubens und zum Werkzeug der Erlösung, das mit der Sendung Christi untrennbar verbunden ist. Die Christen werden das Kreuz im Lauf der Jahrhunderte liebe- und hoffnungsvoll betrachten, als Mittelpunkt ihres Lebens und es sollte aus dem gleichen Grund „in der Mitte des Altares stehen und der gemeinsame Blickpunkt für den Priester und für die betende Gemeinde sein“ 23.

Manchmal ragt plötzlich das Kreuz vor uns auf, ohne dass wir es gesucht haben: es ist Christus, der nach uns fragt 24. Vor einem unerwarteten Kreuz schreckt man zurück. Das ist eine natürliche Reaktion, die uns nicht bekümmern soll. Sie darf uns aber nicht daran hindern, es nach und nach anzunehmen.

Wir wissen, dass uns Gott in solchen Situationen, in denen wir uns verlassen fühlen könnten, nicht im Stich lässt. Er ist an unserer Seite, vielleicht sehen wir Ihn sogar und sind in der Lage, uns irgendwie an Ihn zu wenden. Aber wir sollten einen Schritt weiter gehen und sein Angesicht suchen. Wenn wir uns mit dem Sehen nicht begnügen und danach trachten, Christus zu betrachten, der das Kreuz mit uns trägt, wenn wir Ihn reden lassen, dann gewinnt das, was ein Unglück zu sein schien, eine andere Farbe und führt zu einer Änderung unseres Lebens.

Wenn wir bemerken, dass eine Widerwärtigkeit eine engere Begegnung mit Jesus Christus bedeuten kann, die uns hilft sie anders zu betrachten, dann wird unser Kreuz nicht mehr irgendein Kreuz sein ..., sondern das Heilige Kreuz 25.

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Vultum tuum, Domine, requiram!26 Am Kreuzweg gibt es drei Personen mit einem besonderen Bezug zum Antlitz Christi. Nur zwei suchen es, aber alle drei begegnen ihm. Keine von ihnen lässt das gleichgültig, keine geht mit leeren Händen weg. Von jeder können wir etwas lernen. Und das möchten wir auch, denn wir sehnen uns danach, dieses Antlitz auf unserem Weg durch die Welt zu betrachten und auch anderen dazu zu verhelfen.

Wir möchten jene Einheit der Herzen erlangen, die zwischen Maria und ihrem Sohn besteht. Wir sind uns darüber im Klaren, dass das unsere Kräfte übersteigt, geben aber diesen Wunsch nicht auf, denn das würde bedeuten, auf die Liebe zu verzichten. Andererseits können wir sicher in diesem Streben vorankommen.

Ein Weg dazu ist die Lehren der beiden anderen zu befolgen: einfache Güte bietet vielen – und zuallererst uns selbst – Gelegenheit zu einer Begegnung mit dem Herrn, zur Suche seines Blicks in den Widerwärtigkeiten und Bitternissen des Lebens, wodurch wir uns immer mehr mit dem Willen Gottes identifizieren. Dann erst werden wir fähig, das Antlitz Jesu aufleuchten zu lassen.

1 Apg 1,11.

2 Vgl. Phil 1,23.

3 Vgl. 1 Kor 13,12.

4 Vgl. Phil 1,25.

5 Kol 3,1.

6 Ebd.

7 Vgl. Gespräche, Nr. 113.

8 Vgl. Ps 26,8 (Vg).

9 Der Weg, Nr. 212.

10 Vgl. Mk 10,21, Mk 12,41, Mt 4,18-22, Joh 1,42, Mt 19,16, Mk 3,5, Lk 22,61, Joh 1,38-47.

11 Der Kreuzweg, IV. Station.

12 Ebd.

13 Ebd.

14 Vgl. Lk 2,35.

15 Mt 13,16-17.

16 J. Ratzinger, Benedikt XVI., Der Kreuzweg unseres Herrn, Freiburg – Basel – Wien, 2000, Seite 73.

17 Ebd.

18 Johannes Paul II., Kreuzweg im Kolosseum am Karfreitag 2000.

19 Christus begegnen, Nr. 167.

20 Vgl. Mk 15,21.

21 Vgl. Mk 15,21.

22 Der Kreuzweg, V. Station.

23 Kard. Ratzinger, Einführung in den Geist der Liturgie, S. 73.

24 Der Kreuzweg, V. Station.

25 Der Rosenkranz, IV. schmerzhaftes Geheimnis.

26 Ps 26,8 (Vg).