„DER HERR ist nahe.“1 Die Erwartung wächst von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde. Unser Herz sehnt sich nach der Ankunft des Immanuel. Das heutige Evangelium zeigt uns die lange Kette der Generationen, die den Messias erwartet haben: von Abraham bis David und von David bis zum heiligen Josef. Wir wurden viel später geboren, sind aber Erben derselben Verheißung. Es ist nicht leicht, sich die tiefe Sehnsucht so vieler Generationen des jüdischen Volkes vorzustellen, die auf den verheißenen Messias warteten. Die Liturgie zeigt uns einen Weg, indem sie die unbeschreibliche Freude über die nahe Ankunft Jesu in Worte zu fassen sucht: Jubelt ihr Himmel, jauchze, o Erde (Jes 49,13).
Abraham ist der Beginn dieser langen Kette, der Erste einer Familie, die für immer bestehen wird. Er vertraute auf den Herrn, und dessen Verheißung erfüllte sich: Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst! (Gen 15,5). Gott hat sich seiner Treue und der so vieler anderer bedient, um uns seinen Sohn zu senden und die Vertrautheit Gottes mit den Menschen wieder möglich zu machen. Unsere Würde wurde wiederhergestellt und zu unvorstellbarer Höhe erhoben: Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben (1 Kor 2,9). Unsere Seele wird mit tiefer Freude erfüllt, weil wir uns gerettet, erlöst und geheilt wissen: „Darum singen wir mit den Engeln und Erzengeln, den Thronen und Mächten und mit allen Scharen des himmlischen Heeres den Hochgesang von deiner göttlichen Herrlichkeit.“2
Vielleicht klingt unser Gesang nicht immer harmonisch, doch der Heilige Geist umhüllt uns mit seinen unaussprechlichen Seufzern (vgl. Röm 8,26). Wir stellen Tag für Tag fest, wie sehr es uns gefiele, Gott mit demselben Maß antworten zu können. Weder der göttliche Wunsch, uns zu begegnen, noch seine nachdrückliche Wiederholung lassen es bei Worten bewenden: 14 Generationen von Abraham bis David, 14 bis zur Deportation nach Babylon und weitere 14 bis Christus (vgl. Mt 1,17). Sofort kommt uns der göttliche Ruf zu Hilfe: „Fürchte dich nicht.“ Gott selbst wird sich in uns freuen und durch uns Dank sagen.
WIR ALLE haben unseren Stammbaum, und auch Jesus Christus wollte den seinen haben. Und in Maria, seiner Mutter, trifft er sich mit dem Weg der Menschen und vereint sich mit uns für immer. Er nimmt die Hoffnung der ganzen Menschheit aller Epochen auf sich. In der Menschwerdung weist Gott nichts Menschliches zurück und nimmt die Geschichte jedes Einzelnen auf sich, um allen einen Platz im ewigen Leben zu schenken. Der Schöpfer des Himmels und der Erde wollte der menschlichen Familie angehören.
„Im Stall zu Bethlehem berühren sich Himmel und Erde. Der Himmel gehört nicht der Geographie des Raums, sondern der des Herzens an. Und das Herz Gottes hat sich in der Heiligen Nacht in den Stall hinabgebeugt: Die Demut Gottes ist der Himmel. Und wenn wir auf diese Demut zugehen, dann berühren wir den Himmel. Dann wird auch die Erde neu.“3 Wie oft meinen wir, Gott könne nicht dort sein, wo Schwäche, Gebrechlichkeit oder Mittelmäßigkeit herrschen. Wenn wir uns nicht mit der Sünde begnügen, sondern die wahren Güter des Lebens erlangen wollen, wird Gott in seiner Demut den Stall unseres Herzens nicht zurückweisen. Er bringt den Himmel in unser gewöhnliches Leben, in unser Zuhause, in jeden Augenblick.
Diese lange Liste von Namen hat über Generationen hinweg eine tiefe Sehnsucht geweckt, die nur das neugeborene Kind von Bethlehem erfüllen kann. Einige haben möglicherweise gar nicht ganz begriffen, was sie erhofften. Andere wandten sich in ihrer Verwirrung Götzen zu, die ihnen greifbarer und zugänglicher erschienen. Dieselbe Sehnsucht nach Erlösung ist heute weiter in allen Menschen vorhanden, oft ohne dass die Betreffenden sie in Worte fassen können oder es ihnen gelingt, sie klar zu verstehen. Wir haben das Glück, die frohe Botschaft von Weihnachten zu kennen, wir erwarten Jesus, und wir wären glücklich, wenn sie auch noch das bedürftigste Herz im entlegensten Winkel der Erde erreichen würde.
„WIR PREISEN DICH, Herr, Herr, höchster Gott, der du dich um unseretwillen deiner Herrlichkeit entäußert hast. Du bist unermesslich und wurdest klein; du bist reich und wurdest arm; du bist allmächtig und wurdest schwach.“4 Häufig tun wir genau das Gegenteil: Wir halten uns für groß und mächtig. Der heilige Augustinus wusste das sehr wohl: „Du, o Mensch, wolltest Gott sein und starbst. Er, Gott, wollte Mensch werden und rettete dich. So viel vermochte der menschliche Stolz, dass er der göttlichen Demut bedurfte, um sich zu heilen!“5
Christus ist es, der uns auf seinen Schultern bis zum Himmel trägt. Der Stolz bringt nur eine flüchtige Ehre – sie währt nur wenige Augenblicke und fordert sogleich ihren Preis. Schnell folgt die Unruhe. Der Hochmut sucht ständig neue Gründe, um andere zu übertreffen. Er bringt weder Frieden noch Sättigung. Der heilige Josefmaria war sich dieser unserer Schwäche bewusst: „Ich kenne einen so erbärmlichen, kleinen Esel, der, wenn er in Betlehem neben dem Ochsen gewesen wäre, statt den Schöpfer ehrfurchtsvoll anzubeten, das Stroh der Krippe gefressen hätte …“6
Die Liebe Gottes allein kann unser Herz erfüllen, wie es niemand sonst vermag. Wenn wir von seiner Liebe sprechen, bleibt ihre Größe immer unermesslich. Was wir von seiner Liebe nicht wissen, ist immer viel mehr, als wir von ihr verstehen können. In der heutigen Präfation heißt es: „Die jungfräuliche Mutter trug ihn voll Liebe in ihrem Schoß.“ In der Vertrautheit des Gebets wird die heilige Maria uns diese Geheimnisse anvertrauen, die sie aus erster Hand kennt. Eine Mutter vermag es stets – mit einer Geste, einer Liebkosung –, zu zeigen, was Worte nicht ausdrücken können.
1 Stundengebet, Antiphon zum Invitatorium, 17. Dezember.
2 Präfation vom Advent II.
3 Benedikt XVI., Predigt, 24.12.2007.
4 Franziskus, Predigt, 24.12.2014.
5 Hl. Augustinus, Sermo 183.
6 Hl. Josefmaria, Persönliche Aufzeichnungen, Nr. 181 (25.3.1931).