EIN UMS ANDERE MAL berichten die Evangelien, wie sich Jesus Menschen zuwendet, die in Not sind. Heute erleben wir eines der wenigen Wunder, die Jesus bekanntermaßen in Jerusalem wirkte. Es handelt sich um die Heilung eines gelähmten Mannes, der sein Lager wohl schon vor langer Zeit am Teich von Betesda aufgeschlagen hatte. Archäologische Ausgrabungen bestätigen die Beschreibung des Johannes: Es handelte sich um eine – künstliche – Teichanlage, um die herum fünf Säulengänge errichtet worden waren. Hier lagen viele Kranke, darunter Blinde, Lahme und Verkrüppelte (Joh 5,3-4). Es gab damals den Glauben, dass ein Engel des Herrn von Zeit zu Zeit herabstieg, um das Wasser zu bewegen, und dass derjenige, der als erster in den Teich tauchte, geheilt wurde.
Jesus ging auf jene erbarmungswürdige Menschenansammlung zu. Da fiel sein Blick auf den Gelähmten, der vielleicht zu den hilflosesten und verlassensten unter allen zählte. Aus eigener Initiative bot der Herr ihm an, ihn zu heilen. Er fragte ihn: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein. Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm deine Liege und geh! Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Liege und ging (Joh 5,6-9).
„Du sagtest mir“, schrieb der heilige Josefmaria, „im Leben Jesu gebe es Szenen, die dich besonders ergreifen: So wenn er mit leidenden Menschen zusammentrifft ... Wenn er den an Leib und Seele Geschundenen Frieden und Genesung bringt ... Es sei ergreifend zu sehen, wie er den Aussatz heilt, das Augenlicht wiederschenkt, den Gelähmten am Teich gesund macht, den armen Teufel, den alle vergessen haben ... Er erscheint dir dann so ganz und gar menschlich, so nah! Ja, und er ist es, denn er bleibt stets derselbe wie damals.“1 Durch die Sakramente kann uns Christus noch näher sein als bei einer solchen Begegnung. Und wie dem Gelähmten im Evangelium bietet er uns beständig Heilung an.
JENER GELÄHMTE war achtunddreißig Jahre lang krank, und sein Leben war ein einziges langes Hoffen – bis Jesus bei ihm vorbeikam. Wir können von seiner Geduld lernen, denn, so schrieb ein Kirchenlehrer, „die ganze Zeit über blieb er standhaft und ausdauernd und hoffte, von seiner Krankheit befreit zu werden“2. Wie der Gelähmte sind auch wir aufgerufen, ausdauernd zu sein, was unser inneres Leben anlangt, das uns oft kraftlos erscheint. Und wie er benötigen wir Zuversicht und Geduld, um nicht aufzugeben, sondern unseren christlichen Kampf zu führen und uns zu bemühen, die verschiedenen Tugenden zu erwerben. Es wird Aspekte geben, in denen wir, zumindest zeitweise, kaum Fortschritte zu machen scheinen, und andere, in denen sogar ein Leben lang nichts weitergeht – so war es auch bei dem Gelähmten, der mit seinem Gebrechen ein hohes Alter erreichte und Jesus schließlich von Angesicht zu Angesicht begegnen durfte.
Ungeduld, innere Spannung, ein bis zur Sorge reichender Eifer, unsere Besserungen beurteilen zu wollen, können Ausdruck eines Hangs zum Perfektionismus sein. Doch das ist nicht, was der Herr erbittet. Er möchte, dass wir unseren Kampf demütig und mit kindlichem Vertrauen führen. Natürlich dürfen wir nicht bei frommen Wünschen stehen bleiben, sondern sollen bei unseren Vorhaben auch letzte Steine setzen. Doch ebenso wahr ist: Wir werden nicht immer erfolgreich sein. Wir sollten deshalb aber die Gelassenheit nicht verlieren.
„Manchmal“, so tröstet uns der heilige Josefmaria, „gibt sich Gott mit unseren bloßen Wünschen zufrieden, andere Male sogar schon mit unseren Wünschen, Wünsche zu haben – wenn wir die Demütigung freudig ertragen, uns als kleine Wichte zu erkennen. Das ist es, was uns hoch in den Himmel bringen wird. Denn wenn einer erkennt, dass er vorankommt – und noch dazu gut –, wie gefährlich wird da der Stolz! Es gibt viele wunderbare Menschen, die sich selbst für vollkommen gewöhnlich halten, für unfähig, zu tun, was Gott, unser Herr, ihrem Dafürhalten nach will. Dabei sind sie hervorragend, außergewöhnlich. Macht euch nicht allzu viele Gedanken darüber, ob ihr vorankommt oder nicht, ob ihr euch bessert oder auf der Stelle tretet. Worauf es ankommt, ist, dass ihr euch bessern möchtet, dass ihr den Wunsch habt, zu wollen, und dass ihr aufrichtig seid und euer Herz weit öffnet. Dann wird Gott euch Licht schenken.“3
DIE GEDULD mit uns selbst, die daher kommt, dass wir stets zuerst auf Gott blicken und immer mehr mit seiner Hilfe rechnen, wird uns zugleich dazu bewegen, „mit unseren Mitmenschen verständnisvoll zu sein, denn wir begreifen, dass die Seelen – wie der gute Wein – mit der Zeit besser werden“4. Manchmal fällt es uns schwer, dieses geduldige Verständnis gerade jenen gegenüber aufzubringen, die uns am nächsten stehen, weil wir dazu neigen, zu sehr auf einzelne Mängel zu achten, statt all das Gute wertzuschätzen, das sie in sich vereinigen. Und andere Male fällt es uns nicht leicht, jene zu entschuldigen, zu begrüßen und zu lieben, die scheinbar weit von Gott entfernt sind oder aufgrund ihrer Bildung Anschauungen vertreten, die dem Glauben fremd sind.
Im Evangelium sehen wir, dass der Gelähmte nach seiner Heilung durch Jesus seine Bahre nimmt und nach Hause geht. Doch dann begegnet er einigen – möglicherweise hochgestellten – Juden, die ihn anschuldigen, am Sabbat einen Gegenstand zu tragen; sie nehmen Anstoß daran, dass Jesus an diesem Tag geheilt hat. „Das ist eine Geschichte, die sich im Leben sehr oft wiederholt“, sagte Papst Franziskus in einer Morgenbetrachtung, „jemand, der sich seelisch krank fühlt, der traurig ist, der im Leben zahlreiche Fehler begangen hat, spürt an einem gewissen Punkt, dass das Wasser in Bewegung gerät, dass der Heilige Geist da ist, der etwas bewegt. Oder er vernimmt ein Wort und reagiert: ,Ich möchte da hingehen!‘ Er fasst Mut und geht. Doch wie oft stößt dieser Mensch heute bei den christlichen Gemeinschaften auf verschlossene Türen.“ Und der Papst betont: „Die Kirche hat immer offene Türen! Sie ist das Haus Jesu, und Jesus heißt willkommen – und nicht nur das: Er geht hinaus zu den Menschen, genauso, wie er hinging, um diesem Mann zu begegnen. Und wenn die Menschen verletzt sind, was tut Jesus dann? Tadelt er sie dafür, dass sie verletzt sind? Nein, er geht und nimmt sie auf seine Schultern.“5
Der heilige Josefmaria ermunterte seine Söhne und Töchter, „mit einem Herzen und offenen Armen zu leben, die bereit sind, jeden aufzunehmen, denn“, wie er erklärte, „wir haben nicht die Aufgabe, zu richten, sondern die Pflicht, allen Menschen brüderlich zu begegnen. Es gibt keine Seele, die wir von unserer Freundschaft ausschließen“, fuhr er fort, „und niemand darf sich dem Werk Gottes nähern und mit leeren Händen wieder von dannen ziehen: Alle müssen sich geliebt, verstanden und liebevoll behandelt fühlen.“6 Wir bitten Maria, die Mutter der Barmherzigkeit, uns zu helfen, Gottes Liebe, Verständnis und Erbarmen unter den Menschen um uns herum zu verbreiten.
1 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 233.
2 Hl. Johannes Chrysostomus, Homilien über das Johannesevangelium, S. 36.
3 Hl. Josefmaria, Notizen aus einem Familientreffen, 19.3.1972.
4 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 78.
5 Franziskus, Tagesmeditation, 17.3.2015.
6 Hl. Josefmaria, Briefe 4, Nr. 25.