Opus Dei und Politik: «Jeder Reisende folge seinem Weg»

Das Opus Dei verfolgt ausschliesslich spirituelle und apostolische Ziele. Seine Mitglieder denken und handeln in beruflicher, sozialer, politischer, wirtschaftlicher Hinsicht vollkommen frei und gemäss ihrer persönlichen Verantwortung und unter Berücksichtigung der Leitlinien der Kirche in dogmatischen und moralischen Aspekten. Der daraus resultierende Pluralismus ist so nicht nur einfach gewahrt – er ist vielmehr gewünscht und wird geschätzt.

Kurz nach Ende des spanischen Bürgerkriegs leitete der Gründer des Werkes im Jahr 1939 eine Einkehr in einer Hochschule in der Nähe von Valencia. Die Gebäude hatten während des Konfliktes als Kaserne gedient, und die Organisatoren waren bemüht, sie so gut wie möglich zu reinigen. Kurz nach seiner Ankunft entdeckte er in einem der Gänge ein großes Schild mit der Aufschrift: Jeder Reisende gehe seinen eigenen Weg. Die Organisatoren wollten das Schild entfernen, doch er hielt sie davon ab und meinte, sie sollten es stehen lassen – es gefalle ihm. Von da an diente dieser Spruch dem hl. Josefmaria häufig als Leitspruch: «Freiheit – jeder Reisende folge seinem Weg. Es ist ungerecht, ja absurd, den Menschen dort ein einziges Kriterium vorzuschreiben, wo Jesus Christus selbst keine Grenzen gesetzt hat.» [1]

Neben der Aufzählung einer Reihe von Aktivitäten des Werkes notierte der hl. Josefmaria 1931: «Keine katholische Partei: Meinungsvielfalt».

Freiheit und Verantwortung im öffentlichen Wirken

Ein entscheidendes Merkmal des Opus Dei ist die vollkommene Freiheit seiner Mitglieder in beruflichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Die diesbezüglichen Aussagen des hl. Josefmaria sind von Anfang an konstant geblieben. Kürzlich wurde ein Band mit vier seiner Briefe veröffentlicht. Im dritten Brief bekräftigt er energisch, dass das Werk politisch nicht aktiv ist und dies nicht zu seinen Zielen gehöre. Die Ziele des Werks seien einzig und allein spiritueller sowie apostolischer Natur und sie seien insofern von der göttlichen Natur geprägt, als sie die Liebe zur Freiheit, welche Jesus Christus uns durch seinen Tod am Kreuz vermittelt habe, widerspiegeln [2].

Wie alle Bürger verfügen die Gläubigen des Werks über eine vollkommene Autonomie, ihre Standpunkte zu kontingenten Themen einzunehmen. Diese Autonomie beinhaltet einen grossen Respekt vor den unterschiedlichen Ansichten anderer Menschen. Auf diese Weise lässt sich ein Gleichgewicht erzielen, wie es der hl. Augustinus in einem ihm zugeschriebenen Diktum ausdrückt: “in necesariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas”: Im Notwendigen herrsche Einmütigkeit, im Zweifelhaften Freiheit, in allem aber Nächstenliebe.

NIEMAND KANN SICH IN WELTLICHEN ANGELEGENHEITEN ANMASSEN, DOGMEN AUFZUSTELLEN, DIE ES NICHT GIBT. 
(Hl. Josefmaria in «DIOS Y AUDACIA» von Julian Herranz)

«In Freiheit – als Kinder (…), nicht als Sklaven – folgen wir dem Weg, den der Herr einem jeden von uns gezeigt hat.» (Freunde Gottes, Nr. 35)

Diese Realität entspricht der Natur des Opus Dei als Einrichtung der katholischen Kirche. Die Kongregation für die Glaubenslehre hält in einerNote zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben fest: «Es ist nicht Aufgabe der Kirche, konkrete - oder gar ausschliessliche - Lösungen für zeitliche Fragen zu entwickeln, die Gott dem freien und verantwortlichen Urteil eines jeden überlassen hat.»

Entsprechend ist jeder Katholik – jeder Gläubige des Opus Dei – frei, die Meinungen oder Projekte anderer zu teilen bzw. sich diesen anzuschliessen; das bedeutet hingegen nicht, dass er etwa verpflichtet sei, sich an einem Projekt oder der Entwicklung eines neuen Vorhabens, auch wenn es gut gemeint ist oder von anderen gefördert wird, zu beteiligen.

Im gleichen Text wird dann aber auch festgehalten: «Es ist freilich Recht und Pflicht der Kirche, moralische Urteile über zeitliche Angelegenheiten zu fällen, wenn dies vom Glauben und vom Sittengesetz gefordert ist.» (Nr. 3).

In einem Artikel über die Gewissensbildung in moralischen und politischen Angelegenheiten wird ebenfalls festgehalten, dass nach Auffassung des hl. Josefmaria die Gläubigen moralisch verpflichtet sind, diese dogmatischen Lehren zu vertreten und in ihrem Tun und Handeln umzusetzen.

Im ersten Band der «Cartas» nennt der hl. Josefmaria einige Leitlinien für das öffentliche Auftreten der Katholiken: Er ermuntert die Laien, sich einzubringen und am öffentlichen Leben teilzunehmen, die Gleichgültigkeit gegenüber den menschlichen und sozialen Problemen der Welt (Armut, Erziehung, Wahrung der Menschenwürde, Friedensförderung usw.) aufzugeben. Dabei ist jeder einzelne gehalten, seine Intelligenz zu nutzen und entsprechend zu entscheiden, auf welche Weise er sich diesen Herausforderungen stellen möchte. So erwähnt der Gründer des Werkes auch die eigene Bereitschaft, sein Leben zu geben, um die Freiheit anderer Menschen zu verteidigen. Er legt grossen Wert darauf, dass diese Freiheit jeweils in sorgfältiger Abwägung der Entscheidungen ausgeübt wird. Dies hat er bei zahlreichen Gelegenheiten immer wieder zum Ausdruck gebracht, zum Beispiel in einem Interview aus dem Jahr 1967, in dem er erklärt, niemand dürfe sich anmassen, in weltlichen Angelegenheiten Dogmen aufzustellen, die es nicht gebe. Die Lösung für ein bestimmtes Problem, wie auch immer es aussehen mag, bestehe darin, es zu analysieren und, in persönlicher Freiheit und persönlicher Verantwortung, gemäss dem eigenen Gewissen zu handeln. [5].

« Ich bin weder rechts noch links! Ich bin ein Priester Christi!»

Die Kunst der Begegnung

«Das Leben ist die Kunst der Begegnung, auch wenn es so viele Auseinandersetzungen im Leben gibt»: Papst Franziskus zitiert diesen Ausschnitt aus dem Lied Samba de la bendición des brasilianischen Musikers und Poeten Marcus Vinícius de Moraes in seiner jüngsten Enzyklika Fratelli tutti. Er lädt uns erneut ein, eine Kultur der Begegnung zu pflegen und zeichnet als Ziel das Bild einer «Gesellschaft, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn. Denn man kann von jedem etwas lernen, niemand ist nutzlos, niemand ist entbehrlich» [6].

Wie es sich unter Geschwistern - Kindern desselben Vaters - gehört, fordert Franziskus auf: «Aufeinander zugehen, sich äussern, einander zuhören, sich anschauen, sich kennenlernen, versuchen, einander zu verstehen, nach Berührungspunkten suchen – all dies wird in dem Wort Dialog zusammengefasst. Um einander zu begegnen und sich gegenseitig zu helfen, müssen wir miteinander sprechen. Es versteht sich von selbst, wozu der Dialog dient. Man braucht nur daran zu denken, was die Welt ohne dieses geduldige Gespräch so vieler hochherziger Menschen wäre, die Familien und Gemeinschaften zusammengehalten haben» [7].

Die Kongregation für die Glaubenslehre hält fest: «Es ist nicht Aufgabe der Kirche, konkrete Lösungen - oder gar ausschliessliche Lösungen - für zeitliche Fragen zu entwickeln, die Gott dem freien und verantwortlichen Urteil eines jeden überlassen hat. Es ist freilich Recht und Pflicht der Kirche, moralische Urteile über zeitliche Angelegenheiten zu fällen, wenn dies vom Glauben und vom Sittengesetz gefordert ist.»

Der Pluralismus in dem, was Gott der freien Überlegung der Menschen überlassen hat, ist eine überprüfbare Realität, und es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass er nicht zu einem Problem wird. Die Diversität ist Reichtum. So gilt es gemäss dem Prälat des Werkes, Fernando Ocáriz, « von den unterschiedlichen Positionen das Richtige zu übernehmen, mit anderen im Gespräch zu bleiben, von allen zu lernen und die Freiheit aller gewissenhaft zu respektieren, erst recht in diskutablen Fragen» [8].

Und bezüglich der Herausforderungen eines harmonischen Zusammenlebens mit echter Wertschätzung und Rücksichtnahme auf andere Gedanken weist der Prälat in einem der Freundschaft gewidmeten Brief darauf hin, dass «bestimmte Arten, sich auszudrücken, eine Atmosphäre der Freundschaft stören oder sie erschweren [können]. Wenn wir zum Beispiel die persönliche Meinung zu kategorisch darlegen und den Anschein erwecken, als hielten wir die eigenen Vorstellungen für die einzig richtigen, oder wenn wir uns nicht aktiv für das interessieren, was die anderen sagen, dann führt eine solche Haltung dazu, dass wir uns in uns selbst verschließen. Manchmal offenbaren diese Verhaltensweisen die Unfähigkeit zu unterscheiden zwischen dem, was der freien Meinung überlassen ist, und anderem, was es nicht ist, oder die Schwierigkeit, Themen zu relativieren, bei denen es keine Einheitslösungen gibt [9].».

WIR GEHEN DEN WEG, DEN DER HERR FÜR JEDEN VON UNS GEZEICHNET HAT, ALS FREIE SÖHNE – NICHT ALS SKLAVEN. 
(Hl. Josefmaria, “Freunde Gottes”, Nr. 35)

Wegweiser

Es mangelt nicht an Zielen, die die Gläubigen im Rahmen ihrer Autonomie anstreben müssen, um die konkreten Wege ihrer Wahl zu gehen. Einige davon sind, wie der hl. Josefmaria betont, wesentlich: “Wir müssen eintreten für das Recht aller Menschen auf Leben, auf das Notwendige für ein menschenwürdiges Dasein, auf Arbeit und auf Erholung, auf die Wahl des eigenen Standes, auf die Gründung einer Familie, auf Kinder in der Ehe und auf deren Erziehung, auf die Gewährleistung der menschlichen Würde in Krankheit und Alter, auf die Kulturgüter, auf freie Vereinigung mit anderen Staatsbürgern zu legitimen Zwecken — und vor allem haben die Menschen das Recht, in voller Freiheit Gott zu erkennen und zu lieben; denn ein richtig gebildetes Gewissen wird in allen Dingen die Spuren des Schöpfers entdecken.” [10]. (Hl.Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 171)

Ein Katholik soll sich aber von den Schwierigkeiten des gewählten Wegs nicht entmutigen lassen, sondern voll Zuversicht auf Gott vertrauen. Der Heilige Vater nannte in seiner letzten Botschaft zum Weltfriedenstag verschiedene Wegweiser, um sicher die verschiedenen Wege zu gehen, wobei er auf die Schifffahrt verwies: «In dieser Zeit, in der das Boot der Menschheit, vom Sturm der Krise gebeutelt, auf der Suche nach einem ruhigeren und friedlicheren Horizont mühsam vorankommt, ermöglichen uns das Ruder der Menschenwürde und der „Kompass“ der sozialen Grundprinzipien einen sicheren und gemeinsamen Kurs» [11].

« DAS LEBEN IST DIE KUNST DER BEGEGNUNG, AUCH WENN ES SO VIELE AUSEINANDERSETZUNGEN IM LEBEN GIBT.» DIESER AUSSCHNITT AUS DEM LIED 'SAMBA DE LA BENDICIÓN' GEFIEL PAPST FRANZISKUS, UND ER ZITIERT IHN IN SEINER ENZYKLIKA 'FRATELLI TUTTI'.

Die Instrumente Ruder und Kompass helfen uns, in den Stürmen des täglichen Lebens den Weg zu erkennen, den der Herr uns in den Beziehungen zu unserem Nächsten weisen möchte. Auf diese Weise können wir in Freiheit voranschreiten, unsere christliche Identität stärken und auf dieser Grundlage die bedingungslose Liebe zu unserem Nächsten zu leben.

Franziskus zeigt uns allen einen Weg mehr, sinnreich und lichtvoll: «Blicken wir als Christen auf die Jungfrau Maria, Stern des Meeres und Mutter der Hoffnung»[12].


[1] Hl. Josefmaria, Brief 9-I-59, Nr. 35

[2] Hl. Josefmaria, Briefe (I), 3, Nr. 42

[3] Lehrmässige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20021124_politica_ge.html)

[4] Artikel zum Thema “La formación de la conciencia en materia social y política según las enseñanzas del Beato Josemaría Escrivá”.

[5] Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, Nr. 77

[6] Papst Franziskus, Enzyklika Fratelli tutti, Nr. 215.

[7] Ders., Nr. 198.

[8] Brief 14.02.2017, Nr. 17.

[9] Brief 1.11.2019, Nr. 9.

[10] Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 171.

[11] Papst Franziskus, Botschaft zur Feier des Weltfriedenstags vom 8.12.2020.

[12] Ders., Nr. 9.