Betrachtungstext: 12. Woche im Jahreskreis – Dienstag

Die Gabe der Gottesfurcht – Das Reich Gottes auf Erden – Großherzigkeit, um zu vielen zu gelangen

DER ALLERERSTE Psalm des Psalters ist ein Lob auf den Menschen, der sich seiner Geschöpflichkeit bewusst ist und die Größe Gottes anerkennt: Glücklich der Mann, der sein Gefallen hat an der Weisung des Herrn, bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt (Ps 1,2). Betont wird die Haltung dessen, der erfasst hat, worin die Gottesfurcht besteht: jene Gabe des Heiligen Geistes, die nichts mit Angst zu tun hat, sondern uns dazu führt, die Weisheit und Größe des Schöpfers anzuerkennen. Der Psalmist preist denjenigen, dessen Herz in dem verankert ist, was er wahrhaft ersehnt, dessen ganzes Streben auf das gerichtet ist, was er liebt, und der sich für all das nicht interessiert, was ihn vom Herrn trennen könnte. Diese Haltung wünschen wir uns auch für uns selbst: jene feste Bereitschaft, unser Leben in der Betrachtung der Größe Gottes und in der Erfahrung seiner Liebe zu den Menschen zu leben.

Beachten wir die in der Schrift überlieferte Haltung Hiskijas, des Königs von Juda, beim Erhalt eines Drohbriefes des syrischen Königs. Dann ging er zum Haus des Herrn hinauf, breitete das Schreiben vor dem Herrn aus und betete vor dem Herrn; er sagte: Herr, Gott Israels, der über den Kerubim thront, du allein bist der Gott aller Reiche der Erde. Du hast den Himmel und die Erde gemacht. Neige, Herr, dein Ohr und höre! Öffne, Herr, deine Augen und sieh her (2 Kön 19,14-16). Das Vertrauen, mit dem Hiskija sich an Gott wendet, rührt. Er war es wohl gewohnt, Gott zu loben und ihm zu danken, und daher suchte er auch im Augenblick höchster Not sofort Zuflucht bei Gott. Der Bericht bezeugt, dass ein Engel des Herrn noch in derselben Nacht einhundertfünfundachzigtausend Mann im syrischen Lager schlug.

Gott wartet stets auf uns. Er wartet darauf, dass wir mit ihm unsere Sorgen teilen, vor allem aber wartet er darauf, dass wir ihm unsere Liebe zeigen. Nicht weil er sie nötig hätte, sondern weil diese Haltung in uns die heilige Gottesfurcht wachsen lässt, die seine Größe anerkennt.


GROSS IST DER HERR, und hoch zu loben in der Stadt unseres Gottes, jubelt der Psalmist. Sein heiliger Berg ragt herrlich empor; er ist die Freude der ganzen Erde (Ps 48,2-3). Diese Verse sind ein Hymnus auf das himmlische Jerusalem, unsere Mutter, die wie ein Leuchtturm emporragt, allen Feinden trotzt und ihre Kinder auf ihrem Weg durch die Zeit beschützt und beschirmt.1 Der heilige Augustinus widmete sich am Ende seines Lebens in einem eigenen Werk dem Thema der Stadt Gottes, ebenso der heilige Thomas Morus. Das zeigt, welche Bedeutung das Nachsinnen über die Natur des Reiches Gottes für die Heiligen hatte und dass wir alles tun sollten, damit es auch in unserem Leben Wirklichkeit werde. 

Der heilige Josefmaria sagte: „Wahrheit und Gerechtigkeit, Frieden und Freude im Heiligen Geist, das ist das Reich Christi: das göttliche Handeln, das die Menschen erlöst und das sich vollenden wird am Ende der Zeiten. Dann wird der Herr, der im Paradies herrscht, wiederkommen, um endgültig die Menschen zu richten.“2 Das Reich Christi auf Erden bezieht sich vor allem auf die Art und Weise, wie er in den Herzen der Menschen gegenwärtig ist. Wenn sich Christus im Zentrum unseres Herzens befindet, dann wird unser Handeln unter unseren Geschwistern der Art entsprechen, wie Gott die anderen sieht und wie er in der Welt herrschen will.

Christliches Leben spielt sich immer in Gemeinschaft ab, es ist kein Weg, den man allein zurücklegt. Die von Christus gegründete Kirche ist sein eigener mystischer Leib, dem alle Christen angehören. Sein Wirken und damit seine Königsherrschaft erstreckt sich auf alle Orte, wo sich Glieder seines Leibes befinden. Papst Franziskus betont: „Im Gegensatz zur menschlichen Gesellschaft, in der man dazu neigt, die eigenen Interessen unabhängig von anderen oder sogar auf deren Kosten zu vertreten, verbannt die Gemeinschaft der Gläubigen den Individualismus, um das Teilen und die Solidarität zu fördern. In der Seele eines Christen ist kein Platz für Egoismus.“3 Ein Zeichen der Gegenwart des Reiches Gottes wird immer die solidarische Verbundenheit unter allen seinen Söhnen und Töchtern sein.


IM EVANGELIUM findet Jesus Worte, um zu beschreiben, was passieren kann, wenn die Größe Gottes auf Menschen trifft, die nicht in der besten Verfassung sind, sie zu empfangen: Gebt das Heilige nicht den Hunden und werft eure Perlen nicht den Schweinen vor, denn sie könnten sie mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen! (Mt 7,6). Das will nicht heißen, dass es Menschen gibt, für die das Reich Gottes nicht bestimmt ist. Im Gegenteil, alle können es empfangen, alle sind zu dieser Glückseligkeit berufen, doch müssen wir überlegen, wie wir ihnen diese Einladung am besten übermitteln können. Darum fährt der Herr fort: Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen (Mt 7,12). Es geht darum, den für jeden Menschen geeignetsten Weg zu finden, die Art und Weise, wie wir uns an die Situation des anderen anpassen können.

In der Absicht, uns bestmöglich auf die große Freude des Evangelisierens vorzubereiten, empfiehlt der heilige Josefmaria als erstes das Gebet: „Denkt nicht nur an euch selbst: weitet euer Herz, bis es die ganze Menschheit umfasst. Denkt zuallererst an eure nächsten Mitmenschen – Angehörige, Freunde, Kollegen – und fragt euch, wie ihr in ihnen ein tieferes Gespür für die Freundschaft mit unserem Herrn wachrufen könnt (…). Und betet auch für die vielen Menschen, die ihr nicht kennt, denn wir sind alle an Bord desselben Schiffes.4

Wie eng ist das Tor und wie schmal der Weg, der zum Leben führt (Mt 7,14), fährt Jesus fort. Der Weg zum Leben wird eng werden, wenn wir ihn in Begleitung von so vielen Menschen gehen wollen. „Großherzigkeit, das bedeutet großes Herz, weite Seele, für viele offen“, sagte gerne der heilige Josefmaria. „Die Großherzigkeit bewirkt, dass wir aus uns heraustreten, um bereit zu sein, zum Wohl aller wertvolle Projekte in Gang zu bringen.“5 Die heilige Maria hat das Reich Gottes wohl als erste verstanden und wollte darin leben. Schauen wir auf ihren Großmut, durch den sie zur Mutter Gottes wurde, und bitten wir sie um diese Tugend, damit wir Christus zu vielen Menschen in unserer Umgebung bringen.


1 Vgl. Hl. Johannes Paul II., Audienz, 17.10.01.

2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 180.

3 Franziskus, Audienz, 26.6.2019.

4 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 175.

5 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 80.