In der Stunde vor Damaskus

Zum Fest der Bekehrung des Apostels Paulus eine Betrachtung von Josef Arquer

Das Geschehen unweit von Damaskus im Spätherbst des Jahres 31 "um die Mittagszeit" hat eine große Bedeutung. Kein anderes Ereignis hat die Entwicklung der apostolischen Urkirche so tief geprägt. Die Apostelgeschichte berichtet dreimal darüber (vgl. 9,3-19; 22,6-11; 26, 12-18), einmal in dritter Person und zweimal mit Worten des Apostels selbst.

Es war der Augenblick, "da Gott, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, mir in seiner Güte seinen Sohn offenbarte" (Gal 1,15). Gleichsam verwundert betrachtet der Apostel rückblickend jene vergangene Zeit, da er in der Treue zum jüdischen Gesetz die meisten Altersgenossen übertraf und sich mit dem größten Eifer für die Überlieferung seiner Väter einsetzte (vgl. Gal 1,13-14). Er empfand es nicht als nötig, nach der Wahrheit zu suchen, wie etwa später Augustinus. Er lebte und bewegte sich im Raum der Gewissheiten. Und doch: In der Stunde vor Damaskus erfuhr Paulus, dass Jesus der Vollender aller messianischen Hoffnungen und der Schlüssel zu der Geschichte Israels ist. Alles in der Vergangenheit dunkel Vorausgesagte erhielt seinen Sinn. Uralte Worte der Propheten und Zeichen der Geschichte wurden aktuell.

Im ungestümen Eifer des Saulus für die Glaubensreinheit und die Gesetzestreue Israels hatte etwas Unheimliches gelegen. Er war in zerstörender Wut umhergezogen und versuchte nicht nur, die Kirche zu vernichten, "er drang in die Häuser ein, schleppte Männer und Frauen fort und lieferte sie ins Gefängnis ein" (Apg 8,3). Beschämt wird er später bekennen: "Ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe. Doch durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir ist nicht ohne Wirkung geblieben." (1 Kor 15,9-10)

Im gleissenden Licht den Namen erfahren

"Unterwegs aber, als er sich bereits Damaskus näherte, geschah es, dass ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie ein Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich?" Vom Licht umstrahlt stürzte Saulus zu Boden. Wer bist du, Herr? – Verwunderung, Ratlosigkeit ... Er steht vor den Trümmern seiner Ideale und Vorstellungen. – " Ich bin Jesus, den du verfolgst." Paulus erfährt Jesus als den Christus, den erwarteten Gesalbten, der die Sendung Israels vollkommen erfüllt.

Paulus selbst spricht nicht von einer Bekehrung. Warum? Papst Benedikt XVI. antwortet: "Für mich ist der Grund sehr deutlich. Diese Wende seines Lebens, diese Verwandlung seines ganzen Seins war nicht das Ergebnis eines psychologischen Prozesses, einer intellektuellen und moralischen Reifung oder Evolution, sondern sie kam von außen: Sie war nicht Ergebnis seines Denkens, sondern der Begegnung mit Jesus Christus. In diesem Sinne handelte es sich nicht einfach um eine Bekehrung, um ein Reifen seines "Ich", sondern es war Tod und Auferstehung für ihn selbst: eine seiner Existenzen starb, und eine neue entstand daraus mit dem auferstandenen Christus." (3. Katechese über den Völkerapostel Paulus, 03.09.2008)

Die Stunde der kleinen Leute

Wer die Apostelgeschichte betend oder einfach nur so liest, mag vielleicht aufatmen, wenn das Geschehen wieder mehr alltägliche Züge bekommt – wenn nun die eher bescheidene Gestalt des Hananias eine Wende vom Außergewöhnlichen zum Normalen einleitet. Dieser unscheinbare Jünger Jesu in der Diaspora, von dem wir sonst nichts wissen, wird zum Werkzeug für Gottes große Pläne. "Er war ein frommer und gesetzestreuer Mann, der bei allen Juden dort in gutem Ruf stand." Ihm war der Glaube der Väter nicht wie Paulus ein Hindernis, sondern die Brücke zu Jesus gewesen.

Paulus kapituliert: "Was soll ich tun?" Doch wird ihm nicht gleich gesagt, was Gott von ihm erwartet, sondern: "Steh auf und geh in die Stadt; dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst." Er soll den Weg weitergehen, den er sich vorgenommen hatte; aber nicht mehr als arroganter Christenhasser, sondern als ein Bedürftiger, der auf fremde Hilfe angewiesen ist: "Sie nahmen ihn bei der Hand und führten ihn nach Damaskus hinein. Und er war drei Tage blind, und er aß nicht und trank nicht."

Hananias sieht sich überfordert, aber Gott bestärkt ihn: "Geh nur! Denn dieser Mann ist mein auserwähltes Werkzeug." Und so geht er und sagt zu Paulus: "Der Gott unserer Väter hat dich dazu erwählt, seinen Willen zu erkennen, den Gerechten zu sehen und die Stimme seines Mundes zu hörten; denn du sollst vor allen Menschen sein Zeuge werden für das, was du gesehen und gehört hast". An der Hand des Hananias beginnt das neue Leben des Paulus. Auch er muss lernen. Er erfährt, "dass in Christus Gott in der Weise zu dem Menschen kommt, die innerlich erfasst, löst, öffnet, frei macht, umwandelt, umschafft: als Gnade" (Romano Guardini).

Wie Hananias für Paulus, wie Paulus für die ganze Christenheit: Jeder soll zum Werkzeug Gottes für andere werden. Es gibt einen Austausch geistlicher Güter. Irgendjemand braucht mein Gebet – wissend oder nicht. Jemand ist auf meine Treue angewiesen. Jemand macht mich reich durch sein Opfer. Es ist die neue Sicht, die sich dem Apostel in der Damaskus-Stunde auftat und die er später im Licht des Heiligen Geistes eindrucksvoll formulierte: "Christus ist Haupt des Leibes, der Leib aber ist die Kirche" (Kol 1,18); und die Kirche "ist sein Leib und wird von ihm erfüllt, der das All ganz und gar beherrscht" (Eph 1,23).