Nur ein reines Herz kann Gottes Liebe aufnehmen

Wenn wir unsere Erbärmlichkeiten erkennen und bekennen, werden wir ohne Hadern verzeihen können. Eine Betrachtung zum Beginn der 40 tägigen Fastenzeit von Andreas Kuhlmann

Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider! (Joel 2,13). Prophetische Worte, die Jesus Christus uns am Beginn der Fastenzeit einmal mehr vorhält. Das Zerreißen der Kleider stand damals für den öffentlichen Skandal, die zur Schau gestellte Empörung. Als der Herr vor dem Hohen Rat der Juden offen bekennt, dass er der Messias ist, zerreißt der Hohenpriester Kajaphas vor Entsetzen über die vermeintliche Gotteslästerung sein edles Gewand und fällt zusammen mit den anderen Zeugen das Todesurteil (vgl. Mt 26,65).

Wenn wir am Aschermittwoch zu Beginn der Fastenzeit die Worte des Propheten Joel hören, sollten wir uns dieses Wort Gottes zu Herzen nehmen und in uns wirken lassen.

Gott teilt uns Menschen durch seine Boten und nun durch seinen Sohn immer wieder mit, dass ihn ein äußeres Gehabe und der Anschein von Frömmigkeit – also eine scheinbar gute Beziehung zu Ihm, die aber in Wirklichkeit nicht besteht –nicht beeindrucken und sogar zuwider sind. Jesus sagt es den Pharisäern und Schriftgelehrten direkt ins Gesicht: „Ihr Heuchler!“ Und dann erinnert er an das Gotteswort bei dem großen Propheten Jesaja: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir.“ (Mt 15,8). Es ist eine sehr schmerzliche Feststellung, die Jesus später über Jerusalems Bewohner weinen lässt, die sich nicht bekehren wollen (vgl. Lk 13,34).

Die Worte Jesu sind eine ungeheure Anklage, denn das Herz steht nach dem semitischen Sprachverständnis für das Zentrum des Menschen. Das Herz definiert den Menschen. Und den gläubigen Menschen definiert seine Nähe zu Gott. Ist sein Herz weit weg von Gott, dann befindet er sich in einem erbärmlichen und kritischen Zustand. Er hätte das erste und wichtigste Gebot nicht befolgt, den eigenen Lebensgrund verlassen.

Jesus spricht oft vom Herzen des Menschen. „Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen!“ (Mt 5,8). Man kann diese Worte Jesu als Seligsprechung verstehen: Du hast ein reines Herz, deshalb findest du den Weg zu Gott!

Die Güte des Herzens macht in Gottes Augen den Menschen aus. Die Qualität des Herzens ist für Gott das Gütesiegel des Menschen (vgl. Mt 12,34f). Hat der Mensch ein gutes Herz, ist er gut. Er ist gut, und er handelt gut (vgl. Mt 12,33). Gott schaut in die Herzen der Menschen, und keiner kann ihn täuschen. Aus dem Innern des Herzens kommt Gutes und Böses hervor (vgl. Mt 15,18f).

Das eigene Herz zerreißen. Dieses Bild enthält viele Botschaften. Wenn jemand „herzzerreißend“ lacht oder weint, bezeugt er seine innere Anteilnahme an einer Freude oder einem Leid, das er in seiner Umgebung – bei konkreten Menschen, einem bewegenden Ereignis – wahrgenommen hat. Es lässt ihn nicht gleichgültig, sondern trifft ihn ins Herz. Er nimmt es sich zu Herzen. Der barmherzige Samariter ist so ein Mensch, dem das Schicksal eines Menschen in Not zu Herzen geht (vgl. Joh 15). Genau das erwartet Gott von uns.

Die Fastenzeit ist eine Zeit der Gnade, in der Gott uns Christen durch seine Kirche helfen will und wird, nicht zuerst den Splitter im Auge des anderen zu suchen, sondern den Balken im eigenen Auge zu entdecken und ihn entschlossen zu entfernen. Statt uns über Fehler und schlechtes Verhalten anderer zu empören, sollen wir auf unser Leben schauen. Wenn wir unsere Erbärmlichkeiten erkennen und vor Gott bekennen – unser Herz zerreißen –, dann können wir Gottes Liebe in unser geöffnetes Herz aufnehmen, dann werden wir keinen Anstoß am Verhalten anderer nehmen und ohne Hadern verzeihen können. Jesus verzeiht allen, sogar seinen Mördern, denn seine Liebe zu uns Menschen kennt keine Grenzen. Wer wirklich liebt, hat keine Schwierigkeiten zu verzeihen. In der Liebe zu Gott und den Menschen zu wachsen, indem wir das Verzeihen üben – dazu ruft die Fastenzeit auf.

Mit autobiografischem Hintergrund – denn der Freund im nachfolgenden Aphorismus war er selbst – notierte der heilige Josefmaria: „Unser gemeinsamer Freund sagte mit ungeheuchelter Demut: ‚Wie man es schafft zu verzeihen, brauchte ich nicht extra zu lernen, denn der Herr hat mich gelehrt zu lieben.‘ “ (Die Spur des Sämanns, Nr. 804)

Jesus trägt uns auf zu lieben, wie er geliebt hat (vgl. Joh 13,34). Als Mensch hat er die uneingeschränkte Liebe seiner Mutter Maria erfahren, die ganz von Gottes Liebe erfüllt war. So stellt uns der Gründer des Opus Dei die Gottesmutter als einen Menschen vor Augen, der wirklich zu lieben wusste und der uns diese Liebe lehren und beim Herrn erbitten kann: „Kein Menschenherz kann ‚menschlicher‘ sein als eines, das übervoll ist vom Verlangen nach dem Göttlichen... Denke nur an Maria, die Gnadenvolle, die Tochter Gottes, des Vaters, die Mutter Gottes, des Sohnes, die Braut Gottes, des Heiligen Geistes: In ihrem Herzen findet die ganze Menschheit Raum – unterschiedslos und uneingeschränkt. – Jedes Menschengeschöpf ist ihr Sohn, ist ihr Tochter...“ (Die Spur des Sämanns, Nr. 801)

Die Fastenzeit lädt uns ein, unser verengtes Herz für Gottes Liebe aufzureißen und so von ihm weiten zu lassen, dass alle Menschen darin Platz finden. Wir alle sind Maria ein Herzensanliegen. Bitten wir Maria um Hilfe! Sie nimmt sich unserer Herzen an und führt sie heran an das geöffnete Herz ihres göttlichen Sohnes.

Andreas Kuhlmann