„Dazu erwählt, die allgemeine Berufung zur Heiligkeit und zum Apostolat zu verkünden“

Predigt von Regens Dr. Franz Joseph Baur zum Gedenktag des hl. Josefmaria am 26. Juni in der Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig in München

Ich gestehe, dass ich zur Vorbereitung auf den heutigen Gottesdienst und auf die Predigt so ziemlich bei Null anfangen musste. Man hat mich auf die Homepage des Opus Dei verwiesen, um etwas über das Leben, das Wirken und die geistliche Botschaft des Hl. Josemaría Escrivá zu erfahren. Eine außerordentlich gute Homepage, reich bestückt und trotzdem übersichtlich, sehr kommunikativ mit persönlichen Zeugnissen, technisch und grafisch raffiniert … Ich habe mich richtig festgelesen darin.  

In all dem Reichtum und der Vielfalt fiel mir dann aber schnell auf, dass all die einzelnen Elemente, die Texte, Video-Sequenzen, Erfahrungsberichte und Zeugnisse von Begegnungen, redaktionellen Überschriften, Zeitstrahlen immer wieder auf eine zentrale Botschaft hinausliefen: die Heiligung des Alltags, die Berufung aller zur Heiligkeit inmitten ihrer alltäglichen Tätigkeiten, ihres beruflichen oder häuslichen Alltags. Prägnant auf eine Formel bringt es das Tagesgebet: Der Hl. Josemaría Escrivá ist „erwählt, die allgemeine Berufung zur Heiligkeit und zum Apostolat zu verkünden“. 

Das weckte zuerst mein Misstrauen. Wird da nicht eine Lebensgestalt zur Ikone stilisiert? Eine solche Eindeutigkeit, Sicherheit, Profilierung, gibt es das im heutigen Leben? Kann jemand von irgendeinem Zeitpunkt seiner Existenz an wissen, wofür er da ist? Kann er eine klare Vorstellung haben von dem Werk, dessen Gründung ansteht? Ich zitiere aus der Lebensbeschreibung auf der Homepage: „Da ließ ihn Gott am 2. Oktober 1928 erkennen, wozu er ihn berufen hatte: Das Opus Dei war geboren. Von da an arbeitete Escrivá mit all seinen Kräften an der Verwirklichung dieser von Gott verlangten Gründung.“ Darauf führten alle Erfahrungen vorher hin, darauf konzentrierte sich alle Arbeit, alles Predigen, alles Organisieren danach. Aber ist eine solche Konzentration, eine solche Unbedingtheit glaubhaft? Oder ist dieses Bild des Heiligen das Ergebnis einer professionellen Retusche, die eine moderne Biographie mitten in der ganzen Unübersichtlichkeit unserer Zeit so lange bearbeitet, bis sie die gewünschte eindeutige Verkörperung einer Botschaft darstellt?

"Jedem ist sein Wort zugesprochen, das heißt, jedem in seiner Lebenssituation, in seinem Alltag, in seinen Verhältnissen."

Liebe Schwestern und Brüder, wir haben hier in dieser Kirche das Grab von Romano Guardini, einem Mann von höchster geistlicher Urteilskraft (1). Von ihm gibt es einen berühmten kurzen Text: „aus einem Traum“, eine Notiz, die er mit 80 Jahren niedergeschrieben hat, die dann von einigen Autoren über Guardini und Herausgebern von Guardini-Schriften zum Emblem gemacht wurde. Ich zitiere diesen Text: „Heute Nacht, aber es war wohl morgens, wenn die Träume kommen, dann kam auch zu mir einer. Was darin geschah, weiß ich nicht mehr, aber es wurde etwas gesagt, ob zu mir oder von mir selbst, auch das weiß ich nicht mehr. Es wurde also gesagt, wenn ein Mensch geboren wird, wird ihm ein Wort mitgegeben, und es war wichtig, was gemeint war: nicht nur eine Veranlagung, sondern ein Wort. Das wird hineingesprochen in sein Wesen, und es ist wie das Passwort zu allem, was dann geschieht. Es ist Kraft und Schwäche zugleich. Es ist Auftrag und Verheißung. Es ist Schutz und Gefährdung. Alles, was dann im Gang der Jahre geschieht, ist Auswirkung dieses Wortes, ist Erläuterung und Erfüllung. Und es kommt alles darauf an, dass der, dem es zugesprochen wird – jeder Mensch, denn jedem wird eins zugesprochen – es versteht und mit ihm ins Einvernehmen kommt. Und vielleicht wird dieses Wort die Unterlage sein zu dem, was der Richter einmal zu ihm sprechen wird.“(2)

Mit diesem Gedanken von Romano Guardini gelingt es mir, das Leben des Hl. Escrivá zu verstehen, oder genauer noch: die Heiligkeit im Leben des Josemaría Escrivá zu verstehen und damit etwas vom Heilswirken Gottes zu verstehen. „Alles, was im Gang der Jahre geschieht, ist Auswirkung dieses Wortes, ist Erläuterung und Erfüllung.“ Ja, so eine Konzentration eines Lebens auf ein Wort, eine Botschaft, ist glaubhaft. Sie ist nicht redaktionelle Arbeit, sie ist nicht Stilisierung, auch nicht Selbststilisierung, sondern sie ist Wirkung der Gnade Gottes. Nicht bei jedem Menschen wird das so deutlich, nicht bei jedem Menschen erreicht die Gnade Gottes so sehr ihr Ziel. Aber wo sie ihr Ziel erreicht, wo ein Mensch durch die Gnade Gottes das Ziel der Heiligkeit erlangt, da lässt sich diese Konzentration auf ein Wort erkennen. So verwirklicht und verkörpert der Hl. Josemaría Escrivá selbst so ein Wort, eben die Botschaft von der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit.

Was das ist, die allgemeine Berufung zur Heiligkeit, lässt sich treffend mit Guardini beschreiben: Jedem ist ein Wort zugesprochen. Keiner bleibt ohne diesen Zuspruch, keiner bleibt ohne diese Berufung. Jedem ist sein Wort zugesprochen, das heißt, jedem in seiner Lebenssituation, in seinem Alltag, in seinen Verhältnissen, in seiner Eigenart ist das persönlich betreffende, nicht austauschbare, einmalige Wort zugesprochen. Doch ist es nicht einfach sein Name, den er bei der Taufe bekommen hat. Auch das wäre schon ein solider geistlicher Gedanke, gut biblisch begründet: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“ (Jes 45,4). Oder in der Offenbarung, der neue Name, den die Gläubigen von Gott bekommen (Offb 2,17). Das Wort ist aber mehr als ein Name. Es ist sachhafter, allgemeiner, objektiver als die bloße Individualität des Namens. Wenn mir ein Wort gegeben ist, dann bedeutet das einen Anhaltspunkt über mich hinaus, eine sachliche Aufgabe. Heiligung des Alltags ist etwas, was nicht nur ins Herz geschrieben ist. Darin schreibt sich auch etwas in die Welt ein, in die Welt an dem Platz, der mir zur Gestaltung gegeben ist. Und doch hört es nicht auf, höchst persönlich zu sein. Denn die Berufung zur Heiligkeit ist nicht nur Selbstverwirklichung in den gegebenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Guardini sagt: nicht nur Veranlagung, sondern ein Wort. Nicht nur mit besonderem Fleiß, Einsatz, Geschick, Zielstrebigkeit seinen Weg machen, sondern sich darin in Beziehung wissen mit dem, der das Wort gesprochen hat, und mit seinem göttlichen Willen, und sich selbst als frei wissen, wie eben einer, der angesprochen wird und frei ist zu antworten.

"Wer das Seine gefunden hat, das „eine Notwendige“, das uns nicht genommen wird, der kann auf alles andere verzichten."

Die Berufung zur Heiligkeit ist etwas, das man verfehlen kann, wovor man versagen kann, der man sich versagen kann im Egoismus oder in der Zerstreuung. Sie ist deswegen auch Gefährdung. Und Schwäche, die Schwäche, an der ein womöglich glänzender äußerer Erfolg krankt – dass er nicht das ist, was mein Auftrag gewesen wäre, und folglich nicht das ist, was mich glücklich macht. Aber die Berufung zur Heiligkeit ist natürlich auch Schutz und Kraft, weil sie unangefochten bleibt von Niederlagen und widrigen Umständen. Wenn nur die Richtung stimmt, führt Gott jedes gute Bemühen an sein eigentliches Ziel.

An der Berufung zur Heiligkeit hängen alle Moral und alle Askese. Wer das Seine gefunden hat, das „eine Notwendige“, das uns nicht genommen wird, der kann auf alles andere verzichten. Und was ist Moral anderes als Verzicht auf das Unrechte? Was ist Askese anderes als Verzicht auf das Unnütze? Umgekehrt kämpft mancher so lange mit zusammengebissenen Zähnen, um seinen eigenen Maßstäben in Moral und Askese gerecht zu werden, und er kämpft so lange vergeblich, als er noch nicht das eine gefunden hat, das Wort, den Auftrag, die Verheißung, um derentwillen er auf alles andere verzichten kann. „Das Ringen um Hingabe – es hat doch nur dann einen Sinn, wenn es ein großes, ein wirklich göttliches Werk zu vollbringen gilt: die Heiligkeit…“, schreibt der Hl. Escrivá(3). Bloßer Verzicht ist nicht leistbar. Das, um dessentwillen verzichtet wird, muss zuerst gefunden werden. Das Bemühen in Moral und Askese muss von der Hoffnung und dem Vertrauen auf Gott getragen sein, von der Berufung, von jenem Wort, das uns zugesprochen ist. Dieses Wort muss zuerst gefunden werden.

… gefunden oder wenigstens vermutet werden, hypothetisch angenommen, vorläufig geglaubt. Wie gesagt, ist es nicht bei jedem so eindeutig und frühzeitig klar wie beim Hl. Josemaría Escrivá. Darum spricht mich persönlich Guardini so an, der erst als 80-jähriger und in der Einkleidung poetischer Sprache und in der Einkleidung des Traums die Sache mit dem Wort, dem Passwort andeutet. Es kommt darauf an, sagt er, es zu verstehen und mit ihm ins Einvernehmen zu kommen. Das ist eine hohe Kunst und in der heutigen Zeit mit ihrer technisch-wissenschaftlichen Rationalität erst recht schwer, sich den Sinn für die geistliche Berufung zu bewahren oder ihn zu entwickeln. Wohl dem, dem dazu ein Instrument zur Verfügung steht, ein Werk, eine Gemeinschaft, ein Partner, ein geistlicher Begleiter. Wer in der Schule des Hl. Escrivá gelernt hat, der ist fähig, diesen Dienst zu leisten, anderen draufzuhelfen, dass sie ihre Berufung erkennen. Ich darf als Regens und als langjähriger Assistent der Jugend 2000 an dieser Stelle dankbar bezeugen, dass ich da schon manche gute Frucht reifen habe sehen.

„Vielleicht wird dieses Wort die Unterlage sein zu dem, was der Richter einmal sprechen wird“, schrieb Guardini. Was der Richter zu einem Menschen spricht, das ist unserer Spekulation streng entzogen. Außer dort, wo die Kirche jemanden heilig spricht. Hier hat die Kirche jenes Wort erkannt, das über dem Leben des Hl. Josemaría Escrivá ausgesprochen war, und sie hat festgestellt: Er war erwählt, die allgemeine Berufung zur Heiligkeit und zum Apostolat zu verkünden. So können wir seiner Fürsprache gewiss sein, wenn wir darum bitten und uns darum bemühen, dass wir unserer Berufung auf der Spur bleiben und dass wir am Werk der Berufung aller zur Heiligkeit mitwirken.

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(1) Romano Guardini (1885–1968), Theologe und Religionsphilsoph.

(2) Hier zitiert nach Joachim Reber, Romano Guardini begegnen, Augsburg 2001, 179. Er nimmt den Text als Nachwort. Die Herausgeber der „Berichte aus meinem Leben“ stellen sie dem Buch voran.

(3) Die Spur des Sämanns, 611.