Das war mein Berufsleben als Bewährungshelfer

Es war gegen 14 Uhr, als das Telefon klingelte. Gerade hatte ich mich zu Hause in den Sessel gesetzt, um mich etwas auszuruhen. Denn ich wollte für die Abendsprechstunde fit sein, die meist bis 20 Uhr und länger dauert.

Der Anruf kam aus einer Kneipe mit lauter Karnevalsmusik. Am Telefon ist S., 35 Jahre, einer meiner Probanden (Bewährungspflichtigen). Er wirkt ziemlich aufgeregt: „Sie sind hinter mir her, ich bin in großer Gefahr, ich weiß vielleicht zu viel aus der Nachtbar.“ Er hilft dort als Beleuchter aus. Von Mädchenhandel spricht er, und er müsse mich ganz dringend sprechen. Ich sage zu, gleich zu kommen, noch vor meiner Sprechstunde. Als ich die Kneipe betrete, ist das Problem ein ganz anderes: Laut ruft S. in den Kneipensaal: „Das ist mein Bewährungshelfer!“ Er zeigt mir seinen vollen Bierdeckel, den er nicht bezahlen kann. Noch während ich bezahle – ausnahmsweise, das sage ich sehr deutlich – trinkt er gleich noch einen.

S. hatte ich ziemlich neu von einem weggezogenen Kollegen übernommen. Offensichtlich wollte er testen, wie weit er mit mir gehen konnte. Er hatte zunehmend Alkohol-Probleme und sollte noch viel Arbeit machen. Aber er war ein Mensch, dem man wegen seiner allgemein freundlichen und witzigen Art nicht richtig böse sein konnte, im Gegensatz zu vielen anderen Probanden.

So sah meine Arbeit aus

Einem verurteilten Straftäter, dem die Strafe direkt beim Urteil zur Bewährung ausgesetzt worden ist oder nachdem er einen Teil verbüßt hat, soll der Bewährungshelfer beistehen, auf den rechten Weg zu kommen, das heißt, dass er zumindest ohne neue Straftaten leben lernt. Dabei hat er bestimmte Auflagen zu erfüllen, zum Beispiel Gesprächstermine einhalten, den Schaden wieder gutmachen, bestimmte Orte meiden, Geldbuße zahlen.

Vom Gericht wird der Bewährungshelfer namentlich für den Probanden bestellt. Als Mittel der Hilfe steht ihm im wesentlichen nur das persönliche Gespräch zur Verfügung, wenn er den allerletzten Ausweg verhindern will, nämlich den Widerruf der Strafaussetzung. Der Helfer muss also bereit sein, die eigene Person voll einzubringen. Diese Gespräche finden in der Regel außerhalb eines Gerichtsgebäudes in der Dienststelle statt, aber auch bei Hausbesuchen, an sonstigen Treffpunkten, im Heim, im psychiatrischen Landeskrankenhaus oder im Gefängnis. Oft sind auch gemeinsame Besuche erforderlich beim Sozialamt, beim Arbeitsamt, bei Firmen. Zeitlich muß der Bewährungshelfer auch abends, bei Soldaten oder Fernfahrern auch am Samstag, teilweise auch am Sonntag zur Verfügung stehen. Da bin ich sehr dankbar, dass ich mich stets auf das Mittragen solcher Belastungen durch meine Frau und meine Kinder verlassen konnte.

Nach dem Studium als Sozialarbeiter war ich rund zehn Jahre bei einem Ortsverein des Sozialdienstes Katholischer Männer als Sozialarbeiter und Geschäftsführer tätig und für fast alle sozialen Bereiche zuständig. Das war eine gute Schule für meine spätere 31jährige Tätigkeit als hauptamtlicher Bewährungshelfer:

Ich durfte in einem sehr harten, aber auch sehr schönen, sinnvollen und verantwortungsreichen Beruf arbeiten. Das war oft belastend, weil ich bei meinen Probanden mit vielschichtigen, oft sehr harten menschlichen Schicksalen konfrontiert wurde: Beim „kleinen“ Dieb, beim Schwarzfahrer, beim Autofahrer ohne Fahrerlaubnis, beim Einbrecher, beim Schläger, beim Alkoholiker, beim Drogenabhängigen, beim Betrüger, beim Zuhälter, beim Sexualstraftäter, beim Totschläger, beim Mörder. – Das war schön und sinnvoll, weil ich doch vielen Jungen und Männern zu einem besseren Weg verhelfen konnte.

Wie ging ich damit um?

Die Menschen wirklich lieben ...

Zwar versuchte ich immer, aus meinem Glauben zu leben und zu helfen. Aber für meine Probanden beten? Das dachte ich kaum. Ein dienstälterer Kollege aus der Nachbarstadt hatte mich von Anfang an beeindruckt durch seinen herzlichen Umgang mit seinen Probanden und durch seinen Hinweis: „Wir müssen unsere Probanden eigentlich lieben können!“

Als ich dann 1984 durch den damaligen Medienwirbel das Opus Dei kennenlernte und mich ihm später anschloss, fand dessen Geist bei mir ein offenes Herz: Die berufliche Arbeit und die gewöhnlichen Pflichten und Tätigkeiten im Alltag heiligen, dadurch den Menschen dienen und sie lieben wollen, wie Christus sie liebt. Als ich schließlich in einem Film beim inzwischen heiligen Gründer Josefmaria Escrivá sehen konnte, wie herzlich er mit Menschen in Not und Sorgen umging, war es für mich klar und hat sich auch in meinem weiteren Berufsleben bestätigt: Nur wenn wir einen solchen Beruf wirklich lieben und besonders die Menschen wirklich lieben, für die und mit denen wir arbeiten, können wir glücklich werden. Mehr noch: Seitdem ich für meine Probanden und die Kolleginnen und Kollegen meiner Dienststelle regelmäßig betete, konnte ich viel gelassener und menschlicher mit ihnen und ihren Sorgen umgehen.

... und von ihnen lernen

Auch manche von meinen Probanden und ihren Angehörigen haben mich menschlich tief beeindruckt:

Die alte Mutter zum Beispiel, die auf den Behördengängen ihrem Sohn, der wegen alkoholbedingter Gewalttaten verurteilt war, die Aktentasche mit Bierflaschen hinterher trug, um ihn notfalls zu beruhigen.

Meinen Computer-Spezialisten nenne ich öfter als Beispiel, dass alle Intelligenz nichts nützt, wenn der Charakter nicht in Ordnung ist. Er hatte im halboffenen Vollzug einen Computer-Lehrgang machen können. Kaum entlassen, verkaufte er schon wieder Autos, die er nicht hatte. Bei meinen Gefängnisbesuchen stellte ich fest, dass er dort gern gesehen war. Denn er stellte die Gefangenen-Bücherei erfolgreich auf EDV um. Eine IT-Tätigkeit draußen würde er mit Sicherheit nicht finden.

Meinem 40jährigen Probanden, der an Krebs erkrankte, erzählte ich, dass ich kürzlich bei einer Krankenmesse für ihn gebetet hatte. Für mich überraschend erklärte er, dass er glaube. Die evangelische Pfarrerin berichtete bei seiner Trauerfeier von seinem einfachen, tiefen Glauben.

Mein 55jähriger Proband pflegte seine Mutter bis zu ihrem Tod zu Hause: „Die stoppe ich nicht in ein Heim. Die hat mich nach der Entlassung aufgenommen, als mich keiner haben wollte.“

Nach all' meinen Erfahrungen in diesem mit eher negativem Image behafteten Beruf muss ich immer wieder an den „Speckpater“ Werenfried van Straaten denken. Der spätere Gründer von „Kirche in Not“ hatte uns belasteten Deutschen gleich nach dem Krieg tatkräftig geholfen. Er sagte: „Die Menschen sind besser als wir glauben, und Gott ist noch besser!“

von Meinhard Eger