DIE LEUTE wandten sich oft auch mit Fragen an Jesus. Mitunter taten sie dies mit dem Ziel, ihm seine Worte noch im Mund umzudrehen. Fragen dieser Art entsprangen nicht dem aufrichtigen Wunsch, die Wahrheit zu erfahren, sondern kamen aus dem Neid und dem Eifer, ein Wort von ihm zu erhaschen, um ihn anklagen zu können. Wir finden im Evangelium zugleich auch Menschen, die sich dem Herrn in aller Einfachheit nähern. So der Schriftgelehrte, der erkannt hatte, wie gut Jesus auf die Zwistigkeiten der Pharisäer und Sadduzäer antwortete. Deshalb wollte er von ihm wissen: Welches Gebot ist das erste von allen? (Mk 12,28) Anders als seine Vorredner trat dieser Schriftgelehrte nicht mit böser Absicht an Jesus heran. Sein Wunsch war, von diesem überaus weisen Mann eine Antwort auf eine entscheidende Frage zu erhalten, die unter den Rabbinern diskutiert wurde. Angesichts von sechshundert Regeln, die ein frommer Jude zu beachten hatte, war es nur logisch zu fragen, welche Vorschrift über allen anderen stehe.
Die aufrechte Haltung dieses Schriftgelehrten wirft Licht auf die Sendung der Christen heute. Er war Zeuge der Wunder Jesu geworden und sah es als seine Aufgabe, ein guter Lehrer zu sein und sein Wissen zu vertiefen. An ihm sehen wir, dass wir, wenn wir uns Jesus nähern wollen, nicht an vorgefertigten Meinungen festhalten sollen. „Die Sünde der Pharisäer“, schrieb der heilige Josefmaria, „bestand darin, dass sie (...) sich willentlich verschlossen und nicht duldeten, dass Jesus, das Licht selbst, ihnen die Augen öffnete.“1 Um Jesus hören zu können, müssen wir eine offene Haltung einnehmen und unsere Ansichten vom Licht seines rettenden Wortes her überprüfen.
DIE GEZIELTE Art und Weise, wie der Schriftgelehrte seine Frage stellte, lässt vermuten, dass ihn das Thema schon länger beschäftigte. Er fragte nach dem, was im Leben wirklich wichtig ist. Und das möchte eigentlich jeder wissen. Wir suchen Anhaltspunkte, Orientierungshilfen dafür, wie wir unser Leben gestalten sollen. Der heilige Josefmaria schreibt: „Vielleicht haben wir uns manchmal gefragt, wie wir so viel Liebe Gottes erwidern können – und haben dann auch den Wunsch nach einem klaren Leitfaden für das christliche Leben verspürt.“2
Es gehört zur menschlichen Natur, dass wir Antworten suchen auf Fragen, die längst beantwortet sind. Und in der Tat antwortete Jesus dem Schriftgelehrten mit Worten, die sein Gesprächspartner vermutlich auswendig kannte, war es doch der Kern des Gesetzes, das Gott dem Volk durch Mose gegeben hatte: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken mit deiner ganzen Kraft (Mk 12,29 und vgl. Dtn 6,4-5). Jesus verknüpfte dieses Gebot noch noch mit einem anderen, das den Juden ebenfalls bekannt war: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Mk 12,31 und Lev 19,18), und zeigte damit auf, dass diese zwei Gebote so innig miteinander verbunden sind, dass sie ein einziges bilden.
„Die Gottesliebe ist das Erste, was geboten ist,“ sagte der heilige Augustinus, „und die Nächstenliebe das Erste, was praktiziert werden muss. (...) Du, der du Gott noch nicht siehst, wirst durch deine Liebe zum Nächsten würdig, ihn zu sehen. Die Nächstenliebe reinigt die Augen, um Gott zu sehen, wie Johannes deutlich sagt: Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht (1 Joh 4,20).“3 Unsere Mitmenschen lieben, ist der Weg, um Gott von ganzem Herzen zu lieben. Das war die Anleitung, die Jesus dem Schriftgelehrten gab und deren Maß er selbst ist: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben (Joh 13,34).
DER MANN, der in rechter Absicht an den Herrn herangetreten war, reagiert begeistert und befriedigt: Sehr gut, Meister! (Mk 12,32) Seine Freude über das ihm neu eröffnete Panorama veranlasst den Herrn selbst zu einem nicht geringen Lob: Du bist nicht fern vom Reich Gottes (Mk 12,34).
Auch für uns wäre es sehr tröstlich, aus dem Munde Jesu zu hören, dass wir nicht mehr weit entfernt sind von dem einzigen, das sich lohnt: mit ihm in seinem Reich zu sein. Genau darum bitten wir, wenn wir das Vaterunser beten: „Dein Reich komme.“ Die Formulierung macht deutlich, dass nicht wir zu ihm gehen und uns ihm nähern, sondern dass das Reich zu uns kommt und Gott die Initiative ergreift. Papst Franziskus weist darauf hin: „Der Herr kommt uns immer zuvor. (...) Wenn wir ihn suchen, entdecken wir diese Wirklichkeit: dass er da ist und uns erwartet, um uns aufzunehmen, um uns seine Liebe zu schenken.“4
Zudem hat Christus uns sein Reich nicht eröffnet, damit wir uns dort als Untertanen betätigen – er will, dass wir mit ihm herrschen. So sagt die Heilige Schrift: Wer siegt, der darf mit mir auf meinem Thron sitzen, so wie auch ich gesiegt habe und mich mit meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe (Offb 3,21). Tatsächlich sahen schon die Psalmisten voraus, dass die Kinder Adams dazu bestimmt sein würden, gekrönt zu werden mit Pracht und Herrlichkeit (vgl. Ps 8,5-6). Dank der Lehre Jesu verstehen wir noch besser, dass dies der glückliche Ausgang für diejenigen sein wird, die ihre Mitmenschen im höchsten Maße lieben, denn das war die Lebensweise des Herrn: dienend zu herrschen. Maria verstand, dass Gott die Mächtigen vom Thron stürzt, um die Niedrigen zu erhöhen (vgl. Lk 1,52), das heißt diejenigen, die zu dienen wissen. Daher wurde sie zur Königin des ganzen Universums gekrönt.
1 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 71.
2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 88.
3 Hl. Augustinus, In Ioannis Evangelium, 17,8.
4 Franziskus, Ansprache, 18.5.2013.