Pastoralbrief des Prälaten (16. Februar 2023)

In seinen Zeilen lädt uns Msgr. Fernando Ocáriz dazu ein, über einige Haltungen und Erscheinungsformen nachzudenken, in denen die Brüderlichkeit zum Ausdruck kommt.

Brief des Prälaten des Opus Dei über die Brüderlichkeit

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PDF ► Brief des Prälaten über die Brüderlichkeit (16. Februar 2023)


Gott schütze Euch, meine lieben Töchter und Söhne!

1. Mit diesem Brief möchte ich euch einladen, mit mir zusammen einige Aspekte zu erwägen, die in den Worten des Herrn enthalten sind, die wir so oft betrachtet haben: „Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe“ (Joh 15,12).

Jesus hat uns bis zum Äußersten geliebt, bis zur Hingabe seines Lebens für alle und für jeden einzelnen. Wir wissen das, und wir wollen es bejahen mit einem noch lebendigeren und tatkräftigeren Glauben, um den wir ihn wie die Apostel bitten: „Stärke unseren Glauben“ (Lk 17,5). So werden wir mit dem heiligen Johannes in voller Überzeugung sagen können: „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen“ (1 Joh 4,16).

„Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,8), und er beruft uns zur Liebe: „Das ist unsere höchste Berufung, unsere Berufung schlechthin. Und mit ihr ist auch die Freude der christlichen Hoffnung verbunden. Wer liebt, hat die Freude der Hoffnung, der großen Liebe begegnen zu können: dem Herrn.“1

Unsere übernatürliche Liebe zu Gott ist Antwort auf diese göttliche Liebe zu allen und zu jedem einzelnen. Der Herr selbst hat sie als Vorbild und Horizont unserer Liebe zum Nächsten hingestellt. Die Liebe zu Gott und die Liebe zu den anderen sind so eng miteinander verbunden, „dass in einem Akt der Brüderlichkeit der Kopf und das Herz oftmals nicht unterscheiden können, ob es sich um einen Dienst handelt, den wir Gott oder den wir den Brüdern leisten. Denn in diesem letzten Fall tun wir nichts anderes, als Gott zweimal zu lieben.“2

2. So entscheidend ist in unserem Leben die Liebe zu den anderen, dass „wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben“ (1 Joh 3,14). Die Liebe entfaltet sich auf vielerlei Weisen und umfängt die ganze Welt. Niemand darf uns gleichgültig sein, denn „jeder von uns ist Frucht eines Gedankens Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht.“3

Ich möchte, dass wir in diesen Zeilen über einige besonders wichtige Einstellungen und Äußerungen nachdenken, in denen die Brüderlichkeit zum Ausdruck kommt. In gewisser Weise finden sie sich zusammengefasst in den folgenden Worten des heiligen Josefmaria: „Wie eindringlich predigte der Apostel Johannes das mandatum novum – das neue Gebot! ‚Liebet einander!‘ Ich möchte vor euch auf die Knie fallen – das wäre keine Pose, mein Herz verlangt wirklich danach! – und euch um der Liebe Gottes willen bitten, dass ihr einander liebt, einander helft und die Hand reicht und euch gegenseitig zu vergeben versteht.“4

Verständnis

3. Im Kontext der persönlichen Beziehungen denken wir beim Wort Verständnis manchmal vielleicht nur an einen seiner Aspekte: uns nämlich über die Fehler der anderen nicht zu wundern. Wenn es so wäre, hätten wir allerdings den Punkt aus dem Weg nicht ganz begriffen: „Die Liebe besteht mehr im ‚Verstehen‘ als im ‚Geben‘.“5

Das Verständnis, das aus der Liebe kommt, „versteht“. Es „sieht“ nicht zuerst die Mängel oder Fehler, sondern die Tugenden und guten Eigenschaften der anderen. Ich erinnere mich an eine Betrachtung, die Don Javier am 26. August 1999 während eines Sommerkurses in Olbeira (einem Tagungshaus in Galizien, Spanien) gehalten hat. Er ermahnte uns energisch und liebevoll, „die Personen nicht durch ihre Fehler, sondern durch ihre Tugenden zu sehen“. Die Liebe bewirkt, dass wir freudig die positiven Seiten der anderen sehen. „Wir müssen uns über das Wohlergehen des Nächsten wie über unser eigenes freuen“6; das ist das genaue Gegenteil jener finsteren Sünde des Neides, die uns, wenn es dem anderen gut geht, traurig macht.

Außerdem ist jede Person wertvoller, als wir gewöhnlich wahrnehmen. In gewisser Hinsicht widerfährt uns, was wir in der Schrift lesen, wenn es im Hebräerbrief heißt, dass wir die Gastfreundschaft nicht vergessen sollen, denn durch sie „haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt“ (Hebr 13,2).

4. Das Verständnis, das aus der Liebe kommt, lässt uns auch die Mängel und Fehler der anderen sehen. Man versteht dann die Person sowohl hinsichtlich ihrer positiven als auch ihrer negativen Seiten. Und wir können sicher sein – die Liebe sieht das, denn sie ist voll Weisheit –, dass das Positive das Negative bei weitem überwiegt. Jedenfalls ist das Negative kein Grund zur Trennung, sondern zum Gebet und zur Hilfe; zu mehr Zuneigung, wenn es möglich ist; und gegebenenfalls zur brüderlichen Zurechtweisung.

Auf vielerlei Weise hat unser Vater auf diese – manchmal heroische – Äußerung der Liebe hingewiesen: „Übt die brüderliche Zurechtweisung, ne sit populus Domini sicut oves absque pastore (Num 27,17), damit es nicht so aussieht, als wäre diese übernatürliche Familie, die das Werk ist, eine Ansammlung von Schafen ohne Hirten. Immer habe ich euch gelehrt, meine Töchter und Söhne, dass jeder im Werk Hirt und Schaf sein muss.“7

5. Alle sind wir schwach, und es darf uns nicht wundern, dass es in uns zu Reaktionen des Unbehagens oder der Verständnislosigkeit gegenüber anderen Menschen kommt. Wir dürfen diese Reaktionen aber nicht hinnehmen und rechtfertigen; sie sind vielmehr Momente, um Gott um Verzeihung zu bitten und ihm zu sagen, er möge unsere Liebesfähigkeit vermehren, er möge uns mehr jenes Verständnis schenken, das Frucht der Liebe ist. So werden wir, ohne den Mut zu verlieren, Gott um Hilfe bitten, um schließlich dankbar sagen zu können: „denn mein Herz machst du weit“ (Ps 119,32).

Es ist zum Beispiel wichtig, dass wir kämpfen, um die Regungen der Ungeduld zu bekämpfen und abzumildern, die angesichts der echten oder nicht ganz echten Fehler anderer aufkommen könnten (der Fehler kann mehr in unserer Sichtweise liegen). Diese Regungen der Ungeduld können zu einem Mangel an Verständnis und daher zu einem Mangel an Liebe führen. Die alten Worte des heiligen Cyprian von Karthago sind hart: „Das Band der Brüderlichkeit, die Grundlage des Friedens, der feste Anker der Einheit ist die Liebe, die größer ist als beide, Hoffnung und Glaube, die den guten Werken wie dem Märtyrertum vorangeht, die mit uns immer und ewig im Himmelreich fortdauern wird. Nimm ihr jedoch die Geduld, so vereinsamt sie und hat keinen Bestand.“8

6. Das Verständnis führt als Frucht der brüderlichen Liebe auch dazu, in den Beziehungen zueinander Diskriminierungen zu vermeiden, die angesichts der Unterschiede entstehen könnten. Immer wieder ist diese Verschiedenheit ein Reichtum an Charakteren, Einfühlungsvermögen, Interessen usw. So hat uns das unser Vater erklärt: „Ihr müsst auch immer eine Brüderlichkeit üben, die über der natürlichen Sympathie oder Antipathie steht, indem ihr einander liebt wie wirkliche Brüder, durch einen Umgang und ein Verständnis, wie sie den Gliedern einer eng geeinten Familie eigen sind.“9

Neben der Anstrengung, die anderen gern zu haben und sie zu verstehen, ist es auch wichtig, dass wir es den anderen leicht machen, uns zu lieben. In diesem Sinn erinnere ich euch an etwas, das ich euch schon geschrieben habe: „Ein Zugewinn an Liebenswürdigkeit, Freude, Geduld, Optimismus, Feingefühl und an allen Tugenden, die das Zusammenleben liebenswert machen, ist wichtig, damit die Menschen sich angenommen fühlen und glücklich sein können.“10 So entsteht ein Klima der Brüderlichkeit, in dem jeder die Zuneigung des anderen fördert und wir gemeinsam das Hundertfache verspüren, das der Herr uns versprochen hat, und so dem ewigen Leben entgegengehen (vgl. Mt 19,29).

Der Schatz der Vergebung

7. Das Verständnis steht auch in Beziehung zu einer anderen hochbedeutsamen Wirklichkeit, nämlich der Vergebung: um Vergebung bitten und vergeben. Im April 1974 sagte unser Vater zu uns: „Das Göttlichste in unserem Leben als Christen, als Kinder Gottes im Opus Dei, besteht darin, denen, die uns geschadet haben, zu verzeihen.“ Und sofort fügte er mit großer Einfachheit hinzu: „Ich habe es nicht nötig gehabt, verzeihen zu lernen, denn der Herr hat mich gelehrt zu lieben.“ Angesichts der vielen Äußerungen der Gotteskindschaft hätten wir spontan vielleicht nicht in erster Linie an die Vergebung gedacht. Allerdings verstehen wir, dass unser Kinder-Gottes-Sein in unserem Christus-Sein besteht, unserer Identifikation mit ihm. Und Christus kam in diese Welt, der ewige Sohn wurde Mensch, gerade um zu vergeben. Deshalb können wir denken: „Nichts macht uns aber Gott so ähnlich, als sich gegen die Bösen und Missetäter versöhnlich zeigen.“11

Wie oft beten und betrachten wir das Vaterunser! Den anderen zu vergeben ist so entscheidend, dass es Bedingung dafür ist, dass Gott uns vergibt. Wie gut ist es, Gott zu bitten, er möge uns lehren, immer und in Wahrheit zu vergeben. Mehr noch, wir wollen wagen, ihn wie unser Vater zu bitten, dass wir die anderen schließlich so sehr lieben, dass wir nicht lernen müssen zu vergeben12. Es wäre großartig, dass wir uns danach sehnen, so weit zu kommen, uns niemals verletzt zu fühlen.

8. So wichtig wie zu verstehen und zu vergeben ist es, zu lernen, um Verzeihung zu bitten, auch in den kleinen oder täglichen Auseinandersetzungen. Eine aufrichtige Geste der Bitte um Vergebung ist oftmals der einzige Weg, um die Harmonie der Beziehungen wiederherzustellen, auch wenn wir – mehr oder weniger zu Recht – denken, wir seien der Teil gewesen, der mehr beleidigt worden ist. Es war nicht einfach strenge, auf theoretischen Berechnungen beruhende Gerechtigkeit, die den Sohn Gottes veranlasst hat, seinen Vater in unserem Namen um Verzeihung zu bitten, sondern grundlose Liebe, die nur an das denkt, was sie für die anderen tun kann.

Meine Töchter und Söhne, denken wir nicht, dass das zwar sehr schön, aber angesichts unserer Geringfügigkeit zu viel ist. Das Ziel ist tatsächlich sehr hoch. Mit der Gnade Gottes aber können wir uns ihm nach und nach nähern, wenn wir unsererseits die geistliche Anstrengung nicht unterlassen – Antwort der Liebe auf die LIEBE –, die jeden Tag erneuert wird.

Dienstgesinnung

9. „Das größte Verlangen der Kinder Gottes in seinem Opus Dei […] muss immer sein: zu dienen.13 Wir verstehen diesen Nachdruck des heiligen Josefmaria gut, wenn wir die Worte des Herrn lesen und betrachten: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen“ (Mk 10,45). „Ich aber bin unter euch wie der, der bedient“ (Lk 22,27).

Dienstgesinnung ist Ausdruck der Liebe, der Zuneigung zu den anderen. Sie lässt uns ihre Bedürfnisse ganz verstehen, als wären sie unsere eigenen. Mit welcher Kraft erklärte uns das unser Vater: „Es macht mir nichts aus, das oft zu wiederholen. Zuneigung brauchen alle Menschen, und wir brauchen sie auch im Werk. Strengt euch an, damit die Zuwendung zu euren Brüdern, ohne Gefühlsduselei, immer tiefer wird. Alles, was einen anderen meiner Kinder betrifft, muss euch – in Wahrheit! – ganz betreffen. An dem Tag, an dem wir fremd oder gleichgültig nebeneinander leben, haben wir das Opus Dei zerstört.“14

Ohne es zu wollen, könnten wir fremd oder gleichgültig nebeneinander leben, weil wir uns bei Tätigkeiten verausgaben, die de facto verhindern, dass wir einander kennen, in Beziehung zueinander treten, uns positiv für die anderen interessieren. Meine Töchter und Söhne, mir kommen jene Worte in den Sinn, die der heilige Josefmaria zu uns mit der ganzen Kraft seiner Seele gesprochen hat: „Habt euch gern!“

10. Wir möchten den anderen dienen, und wir wissen, dass wir auf diese Weise Jesus Christus dienen: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Deshalb ist es angebracht, dass jeder von uns denkt: „Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen dafür, was Gott für mich tut und wie er mich liebt.“15

Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass dem anderen dienen häufig eine gewisse Anstrengung erfordert. „Denkt nicht […], dass es leicht ist, aus dem Leben einen Dienst zu machen. Es gilt, diesen guten Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, denn nicht in Worten erweist sich die Herrschaft Gottes, sondern in der Kraft (1 Kor 4,20), und eine den anderen beständig erwiesene Hilfe ist ohne Opfer nicht möglich.“16 Aber diese aus Liebe vollbrachte Anstrengung ist immer Quelle der Freude; einer Freude, wie sie umgekehrt nicht aus dem Egoismus kommen kann.

Dienstgesinnung ist schließlich Ausdruck der brüderlichen Liebe, und „die Bruderliebe kann nur gegenleistungsfrei sein und darf niemals eine Bezahlung sein für das, was ein anderer verwirklicht, noch ein Vorschuss für das, was wir uns von ihm erhoffen“17.

Säleute des Friedens und der Freude

11. Eine Äußerung der Dienstgesinnung, die alle anderen irgendwie einschließt, besteht darin, Frieden und Freude zu säen. Da wir diesen Frieden und diese Freude nur geben können, wenn wir sie haben, und da beide ein Geschenk Gottes sind, ist der beste Weg, in ihnen zu wachsen, die feinfühlige Pflege der Zeiten unseres innigen Umgangs mit Gott: die Sakramente und das persönliche Gebet.

Im Leben eines jeden fehlt es nicht – mehr oder weniger häufig, mehr oder weniger intensiv – an Schmerzen und Leiden, die meist Gefühle der Unruhe und der Traurigkeit erwecken. Das sind Gemütsregungen, die sich vielleicht einstellen und die wir überwinden können und sollen, indem wir durch den Glauben an die Liebe Gottes heute und jetzt zu jeder und zu jedem (vgl. 1 Joh 4,16) die Freude zurückerobern.

Wir müssen unsere Freude nicht in uns selbst verankern, sondern im Herrn. So können wir allem zum Trotz die Geistesstärke aufbringen, um uns selbst mehr zu vergessen und an die anderen jene Freude weiterzugeben, die von Gott kommt. Lesen wir in diesem Sinn, als auch an uns gerichtet, die Worte des Nehemia: „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke“ (Neh 8,10).

12. In den Briefen, die ihr mir schreibt, ist oft die Rede von schwierigen Situationen, die ihr durchmacht. Ich möchte jeder und jedem sehr nahe sein und euch beistehen bei der Pflege eines kranken Kindes, einer durch das Alter stark eingeschränkten Mutter oder in Situationen, die besonders schmerzlich sind. Ich bemühe mich darum, alles in meinem Herzen zu tragen und jeden Tag in meiner Messe präsent zu haben.

Erinnern wir uns unter solchen und anderen Umständen daran, dass der Herr mit dem Kreuz segnet und dass unser Vater mit seiner reichen Erfahrung uns gesagt hat: „Echte Liebe bringt Freude mit sich – und die Wurzeln dieser Freude haben die Gestalt des Kreuzes.“18 Außerdem sind wir aufgrund einer gut gelebten Brüderlichkeit niemals allein. Alle zusammen tragen wir – cor unum et anima una – die süße Last des Kreuzes des Herrn mit der inneren Gewissheit, dass sein Joch letztlich sanft ist und seine Bürde leicht (vgl. Mt 11,30). Mit dem aufrichtigen Wunsch, uns seine Worte anzueignen, werden wir oft gelesen und betrachtet haben, was der heilige Josefmaria uns sagt: „Sich dem Dienst an den Seelen hingeben und dabei sich selbst vergessen ist von solcher Wirksamkeit, dass Gott es mit einer Demut belohnt, die voller Freude ist.“19

Familienleben

13. Die große Mehrheit von euch lebt nicht in einem Zentrum des Werkes. Dennoch – so unser Vater – bilden „wir alle, die wir dem Opus Dei angehören, meine Kinder, […] ein einziges Zuhause. Der Grund, warum wir eine einzige Familie bilden, ist nicht die materielle Tatsache, unter demselben Dach zu wohnen. Wie die ersten Christen sind wir cor unum et anima una (Apg 4,32), und niemand darf im Werk je die Bitternis der Gleichgültigkeit erfahren.“20

Damit ihr – diese große Mehrheit des Werkes, die nicht in den Zentren lebt: Supernumerarier und Assoziierte – die Wärme der Familie des Opus Dei empfangen und zu ihr beitragen könnt, ist es notwendig, dass einige – die Numerarierinnen und die Numerarier – am Sitz der Zentren dieses Zuhause auch materiell bilden, an dem ihr – alle anderen – den Umständen gemäß teilhabt. Die materiellen Räumlichkeiten sind sehr nützlich, um die Bildungsmittel zu erteilen, apostolische Veranstaltungen abzuhalten usw., auch wenn ihr wisst, dass alle diese Dinge auch stattfinden, wenn es diese Örtlichkeiten nicht gibt, besonders dort, wo die apostolische Arbeit noch sehr am Anfang steht.

Es ist nur natürlich, dass es bisweilen Situationen gibt – Arbeit, Gesundheit, familiäre Pflichten usw. –, die es ratsam oder sogar notwendig machen, dass einige Numerarierinnen und Numerarier nicht am Sitz eines Zentrums wohnen, ohne dass deshalb eure Verantwortung und euer Bemühen nachlassen darf, zum Aufbau unseres Zuhause beizutragen.

14. Es ist normal, dass in vielen Familien Personen verschiedener Generationen (Großeltern, Eltern, Kinder) und unterschiedlicher Charaktere zusammenleben, und es gibt auch häufig Familien mit mehr oder weniger schwer chronisch Kranken. Auch wenn das natürlich bisweilen Anlass für eine Beeinträchtigung der Einheit der Familie sein kann, ist es auch wahr, dass sehr häufig diese und andere Schwierigkeiten, wenn es wahre Liebe gibt, die Familie mehr einen können.

Meine Töchter und Söhne, das Werk ist eine sehr große Familie, in der es Menschen verschiedenen Alters gibt, verschiedene Persönlichkeiten und auch Kranke. Gott sei Dank ist die Sorge und Liebe, mit der wir uns zu Hause um die Kranken kümmern, eine wunderbare Tatsache.

15. In einigen Zentren kann es zu Situationen kommen, die größere Schwierigkeiten bereiten. Wenn euch das Familienleben einmal ermüdet, dann sucht ehrlich nach der Ursache dieser Müdigkeit, um Abhilfe zu schaffen. Überlegt, ob das nur am Mangel an materiellen Mitteln oder an der verständlichen Anstrengung liegt, die die Widmung an die Sorge um die anderen mit sich bringen kann; oder ob das auch daher kommt, dass die Liebe erkaltet ist. Sollte das der Fall sein, dann wundert euch nicht und werdet nicht mutlos. Ich rate euch, den Herrn mit Einfachheit und Kühnheit zu bitten, er möge euch das Herz weiten, er möge euch helfen, ihn in den anderen zu sehen, so dass euch das mit Freude erfüllt wie die Jünger, als sie den auferstandenen Herrn sahen: „Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen“ (Joh 20,20).

Bisweilen kann es hinter einer bestimmten Eigenart auch ein Leiden geben, das diese Seins- und Verhaltensweise vielleicht erklärt. Gott kennt jeden bis auf den Grund; er kennt auch die schmerzlichen Wegstrecken, und er schaut voll Zärtlichkeit auf alle. Lernen wir vom Herrn, so zu schauen, alle zu verstehen – ich wiederhole das absichtlich – und uns in die Lage des anderen zu versetzen. „Wie viele Ängste und Gefahren kann die echte Liebe unter den Brüdern, unter den Schwestern vertreiben! Man spricht nicht über sie – das wäre wie Profanierung –, aber sie leuchtet aus jeder Kleinigkeit.“21

Hören wir nicht auf, dem Herrn zu danken für das Zuhause, das er uns gegeben hat, mit der reichen Vielfalt persönlicher Charaktere und gesellschaftlicher bzw. kultureller Situationen. Und spüren wir zugleich die Verantwortung, eine Atmosphäre, ein Klima aufrechtzuerhalten, das auch gekennzeichnet ist durch „ein äußerstes Feingefühl im gegenseitigen Umgang“22.

In der Kirche und in der Welt

16. Das Bemühen um die Brüderlichkeit ist ein Zeichen dafür, dass das Werk, als Teil der Kirche, Familie Gottes ist. Wenn wir danach trachten, einander zu lieben, zu verstehen, zu verzeihen, zu dienen, dann werden wir aufgrund der Gemeinschaft der Heiligen auch sehr direkt zur Einheit aller Gläubigen und der ganzen Menschheit beitragen. Der heilige Josefmaria hat geschrieben: „Unser wichtigstes Apostolat als Christen, das beste Glaubenszeugnis gegenüber der Welt, besteht darin, dass wir innerhalb der Kirche für eine Atmosphäre echter Liebe sorgen. Wenn wir uns nicht wirklich lieben und stattdessen Anfeindungen, Verleumdungen und Intrigen Raum geben, wie kann sich dann jemand von solchen angeblichen Verkündern der frohen Botschaft des Evangeliums angezogen fühlen?“23 Ich bitte den Herrn darum, dass wir Werkzeuge der Einheit in unserem eigenen Haus sind, im Werk, in der Kirche und in der ganzen Gesellschaft.

Die Sorge um die Brüderlichkeit wird Licht und Wärme auch in unsere Welt tragen, die so oft im Finstern liegt oder die Kälte der Gleichgültigkeit erlebt. Unsere Häuser – die der Assoziierten, der Supernumerarier und die Zentren des Werkes – müssen „ein helles und frohes Zuhause“ sein. Sie müssen offen sein, so dass viele Personen an ihnen Anteil haben, auch jene, denen vielleicht die Wärme eines solchen Zuhause fehlt. Das Zeugnis einer christlichen Familie, die um ihre Einheit bemüht ist, so dass jeder auch trotz seiner Grenzen bereit ist zu verzeihen, zu lieben und zu dienen, wird für viele Orientierung sein. Wie es vor allem das Haus von Nazaret war, ist und immer sein wird. Vergessen wir nicht, was der heilige Josefmaria uns gesagt hat: „Zu dieser Familie gehören wir.“

Die gut gelebte Brüderlichkeit ist ein unmittelbares Apostolat. Viele Menschen werden unsere Liebe zueinander sehen und so einen Grund haben, um wie angesichts der ersten Christen auszurufen: „Seht, wie sie einander lieben.“24 Sie werden sich durch diese christliche Liebe angezogen fühlen, „die eine gewisse Teilhabe an der unendlichen Liebe darstellt, die der Heilige Geist ist“25.

* * *

17. Ich komme schon zum Schluss, um mit euch jene anderen Worte unseres Vaters zu lesen: „Herz, meine Kinder. Legt das Herz hinein in den Dienst, den ihr einander leistet. Wenn die Zuneigung durch das Allerheiligste Herz Jesu und das süßeste Herz Mariens hindurchgeht, dann erweist die brüderliche Liebe ihre ganze menschliche und göttliche Kraft. Sie ermuntert, die Last zu tragen, sie erleichtert die Bürde, sie sichert die Freude im Kampf. Sie engt uns nicht ein, sondern kräftigt die Flügel der Seele, damit sie höher aufsteigen kann. Die brüderliche Liebe, die nicht den eigenen Vorteil sucht (vgl. 1 Kor 13,5), ermöglicht zu fliegen, um den Herrn im Geist freudigen Opfers zu loben.“26

Euer Vater

Fernando Ocáriz

Rom, 16. Februar 2023

1 Papst Franziskus, Audienz, 15.3.2017.

2 Hl. Josefmaria, Instruktion, Mai 1935/September 1950, Nr. 75. Wenn in den Texten, die folgen, der Autor nicht angegeben wird, handelt es sich um den hl. Josefmaria.

3 Benedikt XVI., Homilie, 24.4.2005.

4 Im Feuer der Schmiede, Nr. 454.

5 Der Weg, Nr. 463.

6 Hl. Gregor der Große, Homiliæ in Evangelia, 5, 3: PL 76, 1094 B.

7 Brief 15, Nr. 169.

8 Hl. Cyprian, De bono patientiæ, Nr. 15: PL 4, 631 C.

9 Brief 30, Nr. 28.

10 Hirtenbrief, 1.11.2019, Nr. 9.

11 Hl. Johannes Chrysostomus, Comment. in Matthæum, Homilia XIX, Nr. 7: PG 57, 283.

12 Vgl. Die Spur des Sämanns, Nr. 804.

13 Brief 15, Nr. 38.

14 AGP, Bibliothek, P01.

15 Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, Nr. 18.

16 Brief 8, Nr. 4.

17 Papst Franziskus, Enzyklika Laudato si’, Nr. 228.

18 Im Feuer der Schmiede, Nr. 28.

19 Brief 2, Nr. 15.

20 Brief 11, Nr. 23.

21 Die Spur des Sämanns, Nr. 767.

22 Instruktion, 1.4.1934, Nr. 63.

23 Freunde Gottes, Nr. 226.

24 Tertullian, Apologeticum, 39: PL 1, 471.

25 Hl. Thomas von Aquin, Summa theologiæ, II-II, q. 24, a. 7 c.

26 Brief 14.2.1974, Nr. 23.

Euer Vater

Fernando Ocáriz

Rom, 16. Februar 2023



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