Betrachtungstext: 7. Woche im Jahreskreis – Samstag

Das Reich Gottes gehört jenen, die wie Kinder sind – Der Weg der geistlichen Kindschaft – Wie Kinder werden, verlangt Reife

ZUR ZEIT Jesu war es üblich, dass die Synagogenvorsteher die Kinder segneten; das Gleiche geschah zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Lehrern und Schülern. So erschien es den Menschen ganz natürlich, ihre Kinder zum Meister zu bringen, damit er sie in seine Arme nehmen und sie segnen konnte. Den Jüngern erschien dieser gute Wunsch jedoch unangebracht. Möglicherweise sahen sie darin eine Störung, die es zu verhindern galt, und beschlossen daher, diejenigen zurechtzuweisen, die versuchten, sich Christus zu nähern. Im Evangelium heißt es: Als Jesus das sah, wurde er unwillig und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn solchen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen (Mk 10,13-15).

Wir müssen uns die Bedeutung vor Augen halten, die Kindern in der Antike beigemessen wurde: Sie zählten kaum, und es wäre niemandem in den Sinn gekommen, dass man von ihnen lernen konnte. Jesus vertrat eine andere Ansicht. So schrieb Johannes Paul II. in seinem Brief an die Kinder: „Wie wichtig ist in den Augen Jesu das Kind! Man könnte geradezu sagen, das Evangelium ist tief durchdrungen von der Wahrheit über das Kind. Ja, man könnte es sogar in seiner Ganzheit als das ,Evangelium des Kindes‘ lesen. Was heißt denn: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen? Stellt Jesus nicht vielleicht das Kind als Vorbild auch für die Erwachsenen hin? Im Kind gibt es etwas, das in einem, der in das Himmelreich kommen will, nie fehlen darf. Für den Himmel sind alle bestimmt, die einfältig sind wie Kinder, alle, die wie sie von vertrauensvoller Hingabe erfüllt, voller Güte und Reinheit sind.“1 Und der heilige Josefmaria riet: „Suche nicht, erwachsen zu sein. – Kind, immer Kind. Deine tägliche traurige Erfahrung ist voll von Straucheln und Stürzen. Was würde aus dir werden, wenn du nicht jedesmal mehr Kind wärest? Suche nicht, erwachsen zu sein. – Sei Kind, und wenn du strauchelst, soll dich die Hand deines Vaters Gott aufheben.2


„WIR LEBEN in einem Jahrhundert der Erfindungen“, schrieb die heilige Thérèse von Lisieux am Ende des 19. Jahrhunderts. „Man muss sich jetzt nicht mehr die Mühe machen, die Stufen einer Treppe hinaufzusteigen. In den Häusern der Reichen ersetzt ein Lift auf sehr vorteilhafte Weise die Stiege. Auch ich wollte einen Lift entdecken, der mich zu Jesus hinauftrüge, denn ich bin zu klein, um die steile Stufenleiter der Vollkommenheit hinaufzuklettern. Da habe ich in der Heiligen Schrift nach einem Hinweis auf den Lift gesucht, den Gegenstand meiner Begierde, und las diese Worte, die aus dem Mund der ewigen Weisheit selbst hervorgegangen waren: Ist jemand ganz klein, der komme zu mir (Spr 9,4).“3

Sich klein machen: Gott ließ die heilige Thérèse vom Kinde Jesu diesen Weg der Heiligkeit entdecken. Sie schrieb weiter: „Immer war es mein Wunsch, heilig zu werden. Aber ach, wenn ich mich mit den Heiligen verglich, stellte ich stets fest, dass zwischen ihnen und mir derselbe Unterschied bestand, wie wir ihn in der Natur zwischen einem Berge sehen, dessen Gipfel in die Wolken hineinragt, und dem unbeachteten Sandkorn, das die Passanten mit Füßen treten. Statt den Mut zu verlieren sagte ich mir: Der liebe Gott kann keine unausführlichen Wünsche eingeben. So darf ich, trotz meiner Kleinheit, nach der Heiligkeit streben.4

Der Gründer des Opus Dei machte in seinem eigenen Leben ähnliche Erfahrungen, wenn auch mit anderen Nuancen und Akzenten. In seinem Buch „Der Weg“ stellt er ein ganzes Kapitel unter das Thema „Geistliche Kindschaft“. Er sah sich vor Gott stets als Kind, das sich in den Armen seines himmlischen Vaters geborgen fühlt. Er sagte etwa: „Mein Gebet ist immer dasselbe geblieben, nur der Ton war je nach Situation verschieden. Immer habe ich zum Herrn gesagt: Herr, du hast mich hierhergestellt, du hast mir dies oder jenes anvertraut, und ich verlasse mich auf dich. Ich weiß, dass du mein Vater bist – und ich habe immer gesehen, dass die kleinen Kinder sich ihrer Väter vollkommen sicher sind.“5 Seine Empfehlung: „Möget ihr wirklich Kinder sein! Je mehr, desto besser (...). Lasst in euch den Hunger, die Begierde wachsen, wie Kinder zu sein. Seid überzeugt, dass dies die beste Art ist, den Stolz zu besiegen. Zweifelt nicht daran, dass dies das einzige Mittel ist, damit unsere Handlungsweise gut, groß, göttlich ist.“6


„WEG DER KINDSCHAFT“, lesen wir in „Der Weg“: „Sich überlassen. – Geistliches Kindsein. – Dies alles ist nicht läppisch, sondern starkes und festes christliches Leben.“7 Kindlich zu werden vor Gott hat nichts mit Sentimentalität oder kindischem Wesen zu tun, sondern „verlangt einen starken Willen, eine ausgewogene Reife, einen festen und offenen Charakter8. Die geistliche Kindschaft ist, so sagte Papst Johannes Paul II., „die Geisteshaltung derjenigen, die zu einer Ganzhingabe an den Willen Gottes gelangen wollen.9

Wer sich auf diesen Weg begibt, muss sein Herz darauf ausrichten, die Gaben Gottes anzunehmen und die Tugenden des Kindes zu erlernen. Dies ist nur möglich, wenn wir, wie der heilige Josefmaria sagte, „den Hochmut und die Selbstgenügsamkeit aus uns verbannen; wenn wir anerkennen, dass wir aus uns allein nichts vermögen, sondern der Gnade Gottes und der Kraft von Gott Vater bedürfen, um unseren Weg zu entdecken und ihn beharrlich zu gehen. Klein sein bedeutet, sich überlassen wie die Kinder, glauben wie die Kinder, bitten wie die Kinder.10

„All dies können wir von Maria lernen“, fuhr er fort. „Sie zu verehren ist daher nicht unmännlich. Es bedeutet Trost und Jubel, die die Seele erfüllen; denn in dem Maße, als die Marienverehrung von uns eine tiefe und umfassende Glaubenshingabe verlangt, befreit sie uns von uns selbst und lässt uns unsere Hoffnung auf den Herrn setzen. (...) Gerade weil Maria Mutter ist, lernen wir, wenn wir sie verehren, wie Kinder zu sein.11


1 Hl. Johannes Paul II., Brief an die Kinder, 13.12.1994.

2 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 870.

3 Hl. Theresia von Lisieux, 9. Kapitel (Manuskript C, 2v. 3r).

4 Ebd.

5 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 143.

6 Ebd., Nr. 147.

7 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 853.

8 Ders., Christus begegnen, Nr. 10.

9 Hl. Johannes Paul II., Ansprache, 7.10.2002.

10 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 143.

11 Ebd.