IN DER volkstümlichen Vorstellung der Israeliten zur Zeit Jesu war der erwartete Messias ein Führer und dazu berufen, das Volk von der Fremdherrschaft zu befreien und eine neue politische Ordnung zu errichten. Man kann sich leicht vorstellen, wie verwirrt die Apostel daher waren, als der Herr ihnen seine Passion ankündigte: Der Menschensohn wird in die Hände von Menschen ausgeliefert und sie werden ihn töten (Mk 9,31). Der Messias wird, menschlich gesehen, nicht triumphieren. Obwohl Jesus die leuchtende Prophezeiung seiner Auferstehung hinzufügt ‒ doch drei Tage nach seinem Tod wird er auferstehen (Mk 9,31) ‒, sind die Jünger in diesem Moment nicht bereit, dieses Ereignis zu begrüßen und seine tiefe Bedeutung anzunehmen. Der Evangelist schreibt, dass sie das Wort nicht verstanden, sich jedoch fürchteten, ihn zu fragen (Mk 9,32).
Wir haben häufig eine vorgefasste Meinung von der Wirklichkeit. Und diese Vorstellung ist, selbst wenn wir wissen, dass sie unvollkommen oder wenig fundiert ist, nicht immer leicht zu ändern. Dahinter kann sich die Befürchtung verbergen, dass die Wahrheit unseren Wünschen oder Plänen widersprechen oder Aspekte unseres Lebens ins Rampenlicht rücken könnte, die wir nicht ändern wollen. Die Gewissenserforschung ist ein guter Moment, um, wie Papst Franziskus sagte, „in Ruhe noch einmal nachzudenken über das, was während des Tages geschah, und aus unseren Bewertungen und Entscheidungen herauszulesen lernen, was uns wichtig ist, wonach wir suchen und warum, und was wir am Ende gefunden haben. Vor allem zu erkennen lernen, was unser Herz erfüllt.“1
„Möge ich mit deinen Augen sehen, mein Christus, Jesus meiner Seele!“2 So betete der heilige Josefmaria vor allem in den letzten Jahren seines Lebens. Wir bitten den Herrn um den Mut, uns immer wieder bekehren zu wollen, und darum, unser Herz zu reinigen, damit wir in unserem gewöhnlichen Leben den wahren Messias finden.
DIE HOFFNUNG auf einen irdischen Messias war so tief in den Aposteln verwurzelt, dass sie die Worte des Herrn wegsteckten und über eine Angelegenheit zu diskutieren begannen, die sie wirklich bewegte: wo nämlich jeder von ihnen im zukünftigen Reich seinen Platz finden würde und wem Jesus die größte Autorität geben würde. Sie führten diese Gespräche, während sie auf den Straßen Galiläas unterwegs waren. Als sie in Kafarnaum ankamen, fragte der Herr sie, worüber sie auf ihrer Reise gesprochen hätten. Sie schwiegen. Vielleicht schämten sie sich dafür, dass sie hinter seinem Rücken in eine Logik geraten waren, die sich von der Lehre des Meisters unterschied.
Jesus beschloss, an ihre Gedanken anzuknüpfen und sie zu lehren: Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat (Mk 9,35-37).
Der Herr stellt ein Kind in die Mitte, um uns mehrere Dinge zu veranschaulichen: Wir können in das Reich Gottes nur gelangen, wenn wir weniger berechnend und unbekümmerter sind, wenn wir klein und einfach werden, wenn wir unsere Ambitionen und Sorgen in Gottes Hände legen. Die wahre Autorität besteht nicht darin, über andere zu herrschen, sondern allen zu dienen. Christus lehrt uns nicht, uns mit einer Art Mittelmäßigkeit abzufinden oder unsere Talente zu verleugnen; er erinnert uns vielmehr an die Notwendigkeit, unsere Gedanken, Wünsche und Bemühungen auf das Wichtigste zu richten: die Liebe zu ihm und zu unseren Mitmenschen, die sich im Dienen manifestiert. Mit dem heiligen Josefmaria können wir beten: „Jesus, lass mich in allem der Letzte sein ‒ nur in der Liebe der Erste.“3
CHRISTUS stellt sich als Diener aller dar: Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele (Mk 10,45). Auch wir können unser Leben zu einer Fortsetzung des Dienstes Christi an unseren Mitmenschen machen: in der Arbeit, im Familienleben und in unseren Freundschaften.
Die Liebe, die der Motor ist für den wahren Dienst, kann sich in unseren täglichen Bemühungen konkretisieren, das Leben der Menschen um uns herum ein wenig angenehmer zu gestalten. „Ein Zugewinn an Liebenswürdigkeit, Freude, Geduld, Optimismus, Feingefühl und an allen Tugenden, die das Zusammenleben liebenswert machen, ist wichtig“, schreibt der Prälat des Opus Dei, „damit Menschen sich angenommen fühlen und glücklich sein können.“4 Jesus Christus selbst hat so seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht, allen Menschen zu dienen: Er hörte den Menschen zu, die zu ihm kamen, erklärte ihnen geduldig seine Lehren, wusch den Aposteln die Füße und hatte Mitgefühl mit den Nöten derer, die ihm folgten.
„Ich habe oft gesagt“, sagte der heilige Josefmaria, „dass ich ut iumentum sein möchte, wie ein kleiner Esel vor Gott. Und das muss eure und meine Haltung sein, auch wenn es uns etwas kostet. Bitten wir die heilige Jungfrau, die sich Ancilla Domini nannte, um Demut. Mit welcher Hingabe sagst du jeden Tag Serviam! Ist es nur ein Wort, oder ist es ein Schrei, der aus der Tiefe deiner Seele kommt?“5 Bei jeder Aufgabe und in unserem beruflichen Tun können wir jene Tugenden üben, die uns helfen, unseren Mitmenschen einen frohen Tag zu bereiten und sie an der Liebe Gottes teilhaben zu lassen, die uns bewegt.
1 Franziskus, Audienz, 5.10.022.
2 Hl. Josefmaria, Notizen von einer Betrachtung, 19.3.1975.
3 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 430.
4 Msgr. Fernando Ocáriz, Pastoralbrief, 1.11.2019, Nr. 9.
5 Hl. Josefmaria, Notizen von einer Betrachtung, 19.3.1975.