WIR ALLE sind nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen und tragen ein inniges Verlangen in uns, uns mit unserem Schöpfer zu vereinigen. Dieses Verlangen äußert sich unter anderem in unserer ständigen Suche danach, Gott besser kennenzulernen. Es ist uns mit unserem Verstand allein jedoch nicht möglich, in die Geheimnisse Gottes einzudringen. Deshalb haben wir unser tiefstes Wissen über Gott durch die Offenbarung empfangen, durch das, was er selbst uns durch die inspirierten Schriftsteller, die Propheten und vor allem durch seinen eigenen Sohn mitgeteilt hat.
Als Philippus Jesus bat, ihm und den anderen Aposteln den Vater zu zeigen, antwortete Jesus umgehend: Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen (Joh 14,9). Christus ist das Abbild des Vaters. Der unsichtbare Gott, der Mose in Form eines brennenden Dornbusches erschien, hat nun Gesicht und Hände. Den Hirten in Bethlehem zeigte er sich als Kind (vgl. Lk 2,16-18), unter den Gesetzeslehrern sehen wir ihn als Jugendlichen (Lk 2,46), vor Johannes dem Täufer als Büßer (Mk 1,4-11). In allen seinen Äußerungen spiegelt sich das Wesen des dreieinigen Gottes wider, der unter den Menschen wandelt. Daher ist der beste Weg, Gott kennenzulernen, das Lesen und Betrachten des Evangeliums.
Der heilige Josefmaria schrieb: „Wenn ich vor der Krippe stehe, möchte ich Christus, unseren Herrn, anschauen, wie er in Windeln gewickelt auf dem Stroh liegt. Und auch wenn er noch ein Kind ist, das noch nicht sprechen kann, sehe ich in ihm den Lehrer und Meister. Wir müssen ihn auf diese Weise betrachten, da wir von ihm lernen sollen. Um von ihm zu lernen, müssen wir sein Leben kennenlernen wollen: indem wir das Evangelium lesen und uns in die Szenen hineinversetzen, die im Neuen Testament beschrieben werden. So können wir den göttlichen Sinn des Erdenwandels Jesu verstehen.“1 Wenn wir das Evangelium lesen, spricht der Heilige Geist selbst in unserer Seele, und indem er uns immer tiefer in das Wesen Gottes hineinführt, führt er uns auch immer tiefer in unser eigenes Wesen hinein: Indem er uns Gott offenbart, offenbart er uns uns selbst.
VIELE Künstler spiegeln bewusst oder unbewusst einen Teil ihrer selbst in ihren Werken wider. In ähnlicher Weise hat Gott der Welt einen Teil von sich selbst eingeprägt, als er sie erschuf. Daher konnte Johannes Paul II. sagen: „Neben der eigentlichen, in der Heiligen Schrift enthaltenen Offenbarung tut sich Gott auch im Strahlen der Sonne und im Anbruch der Nacht kund.“2 Durch die Schöpfung können wir in die Erkenntnis Gottes eintreten. In dem, was uns fasziniert, wenn wir das Meer, einen Berg oder einen Sonnenuntergang betrachten, spiegeln sich Züge seines Wesens wider. In der Betrachtung der Schöpfung können wir etwas über Gott selbst erfahren, das, was der Herr uns mitteilen möchte. Benedikt XVI. sieht darin sogar eine Voraussetzung. Er sagte: „Der Glaube setzt die Fähigkeit voraus, das Unsichtbare zu erkennen und seine Spur in der sichtbaren Welt zu entdecken. Der Glaubende kann das große Buch der Natur lesen und seine Sprache verstehen (vgl. Ps 19,2–5).“3
Papst Franziskus betont in seiner Enzyklika Laudato sí: „Das ganze materielle Universum ist ein Ausdruck der Liebe Gottes, seiner grenzenlosen Zärtlichkeit uns gegenüber. Der Erdboden, das Wasser, die Berge – alles ist eine Liebkosung Gottes.“4 Dank seines besonderen Charismas entdeckte der heilige Franz von Assisi diese Botschaft Gottes in allem, was existiert. Sein Herz verspürte daher das Bedürfnis, Gott für alles zu danken, was aus seinen Händen hervorgegangen ist: die Sonne, die unseren Tag erhellt; der Mond und die Sterne, die uns in der Nacht leuchten; der Wind und die Wolken, die das Wachstum der Pflanzen ermöglichen …5 Auch im Katechismus der Kirche finden wir einen Hinweis darauf, dass „die unterschiedlichen Geschöpfe in ihrem gottgewollten Eigensein, jedes auf seine Art, einen Strahl der unendlichen Weisheit und Güte Gottes widerspiegeln.“6 Schon der Lobgesang der drei jungen Männer, die von Gott vor dem Martyrium gerettet wurden, zeugt von einem solchen kontemplativen Geist: Preist den Herrn, Sonne und Mond; lobt und rühmt ihn in Ewigkeit! Preist den Herrn, ihr Sterne am Himmel; / lobt und rühmt ihn in Ewigkeit! (Dan 3,62-63); und danach alle Berge, Gipfel, Vögel, Tiere und Quellen.
ICH PREISE dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart hast (Mt 11,25). Gott wollte sich allen Menschen offenbaren, und der beste Weg, ihn kennenzulernen, ist die Einfachheit des Herzens. Als der Prophet Samuel einen neuen König für Israel suchte, wählte er David aus, den jüngsten von mehreren Brüdern, den sein Vater als möglichen Kandidaten nicht einmal in Betracht gezogen hatte. Als Jesus darüber nachdachte, wer die Grundpfeiler des neuen Gottesvolkes, der Kirche, sein sollten, wählte er Männer aus, die nicht für ihre Weisheit bekannt waren: Die meisten von ihnen waren einfache Leute, die ihren Lebensunterhalt mit manueller Arbeit verdienten.
Manchmal könnten wir denken, dass der Herr uns aufgrund unserer Qualitäten auserwählt hat. Abgesehen davon, dass die biblischen Texte uns das Gegenteil lehren – dass Gott gerade die Schwachen erwählt –, ist ein solcher Gedanke gefährlich, da er nicht tragfähig ist, sobald wir unsere Schwäche erfahren. Deshalb forderte der heilige Paulus die Christen in Korinth auf, eine Besonderheit ihrer Berufung zu bedenken: Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme, sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen (1 Kor 1,26-27).
Jesus beruft uns nicht nach menschlichen Maßstäben. Er sieht über das Äußere hinweg: Er kennt unsere Fehler genau und verlangt von uns lediglich die Einfachheit des Herzens, um uns ans Ziel zu führen, wie der heilige Josefmaria schrieb: „Jesus hat Verständnis für unsere Schwachheit und zieht uns wie über eine sanft ansteigende Ebene zu sich hin, hoffend, dass wir in der Bemühung beharren, täglich ein wenig höher zu steigen.“7 Die Jungfrau Maria wurde aufgrund ihrer Einfachheit und Schlichtheit zur Mutter Gottes auserwählt. Wenden wir uns an sie, damit sie uns ein Herz schenke, das dem ihren immer mehr ähnelt.
1 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 14.
2 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 2.8.2000.
3 Benedikt XVI., Audienz, 6.2.2013.
4 Franziskus, Laudato si’, Nr. 84.
5 Vgl. Hl. Franz von Assisi, Sonnengesang.
6 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 339.
7 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 75.