Zum Karneval

Nachdenkliche Mutmaßungen von Josef Arquer

Der Karneval soll in den Klöstern des Mittelalters als Vorspann zur Fastenzeit entstanden sein, in der es dann hieß „carne vale“, Fleisch (carnis) adé. Längst von seinem frommen Ursprung emanzipiert, kann der Karneval doch zum Nachdenken anregen und vielleicht auch zum betenden Besinnen.

Spezifisch Christliches findet man kaum im närrischen Treiben, wohl aber grund-menschliche Haltungen, die in unserer Zivilisation unterzugehen drohen oder auf Irrwege geraten sind. Man könnte den Karneval geradezu als Gegengewicht zu einem fehlgeleiteten Durst nach „erfülltem Leben“ begreifen, den so manche durch Alkohol, Drogen oder Sex zu stillen suchen, weil ihr Leben schal geworden ist.

Natürlich soll man sich im Karneval vor Exzessen an Grobheit und Ausschweifung in Acht nehmen. Manche „Jecken“ werden dabei an den Hinweis des heiligen Josefmaria denken, echte Freude sei nicht „die Freude eines gesunden Tieres, die wir eine physiologische Freude nennen könnten“ (vgl. Der Weg 659).

Sehnsucht nach Kindsein

Und doch bietet der Karneval fröhliche Ausgelassenheit und schlichte Freude.

Die „Session“ – wie man im Rheinland sagt – ist davon geprägt, dass man als Ausgleich spielerisch ein anderer sein will als sonst das ganze Jahr.

In der „fünften Jahreszeit“ versuchen Erwachsene mehr oder weniger bewusst, die Schätze ihrer Kindheit wieder zu finden. Der übliche Stress tritt zurück, und in der lebensbejahend lustigen Narretei werden verlorene Regionen wieder zugänglich: Freude, Ursprünglichkeit, Weite. In der Staunensfähigkeit – nun verbunden mit der Reife und Lebenserfahrung des Erwachsenen – können sich Zugänge jenseits des bloß Nützlichen, Brauchbaren, Zweckmäßigen auftun: Die Freude über eine unverhoffte Begegnung, über ein schönes Gesicht, ein phantasievolles Kostüm, über selbstlose Freigebigkeit.

Der unbeschwerte Blick für Schönes und Überraschendes hilft die trockene Logik des allzu Erwachsenen bändigen, der schon alles weiß, die spitze Lust des Skeptikers. Die Sicht auf die Welt und die Menschen rundet sich zu Verständnis und Geduld und schafft neuen Raum für Treue, Wahrheit, Glauben und Kirche. Es wird dann leichter anzunehmen, dass Glauben kein ungefähres Produkt eigenen Machens ist und kein Sammelplatz von vertrackten Theorien und Forderungen. Man beginnt den verborgenen Schatz im Acker auszugraben, die kostbare Perle zu bewundern (vgl. Mt 13, 44-46).

Aschermittwoch: Schluss mit Lustig

Wie alle Feste im Jahr hat der Karneval sein präzises Finale: Aschermittwoch punkt null Uhr ist die Fastnacht vorbei. Die klare Grenze kann helfen, den Alltag nicht nur hinzunehmen, der nun wieder einsetzt, sondern neu schätzen zu lernen. Der Alltag birgt eine vielfach verdeckte Dimension des Lebens, die man ein wenig blutarm Transzendenz nennt. In der Konkretheit des Christlichen nennen wir sie die Nähe Gottes. Gott nicht nur irgendwie da – als Beweger von allem, was geschieht. Gott ist in seiner lebenspendenden Fülle da als liebender Vater, der sich uns durch Jesus Christus zeigt: „Vater unser“. Man lernt dann durch den Alltag beten und mehr aus der Tiefe leben. Wer betet „Dein Wille geschehe“, schafft in sich Raum für eine tröstliche Dimension, die man die „Logik Gottes“ in Allem nennen kann, was geschieht.

Denn es gibt Situationen, in denen unsere eigene Logik, unsere rein menschliche Einsicht versagt. Wer kann den Verlust eines geliebten Menschen, die Todeskrankheit eines Kindes, die Last eines schweren Leidens logisch einordnen? So etwas stellt das Gespür für einen Schöpfer und Vater auf eine harte Probe, das wir in schönen Augenblicken vielleicht froh und dankbar empfinden. Das Ärgernis des Unfassbaren mildert sich erst, wenn man sich zu einer übergeordneten Sicht der Wirklichkeit öffnet, die bloß naturhaftem Denken freilich verborgen bleibt. Es geht um das Vertrauen, dass für sich genommen unfassbare Zusammenhänge sich doch in einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen – jenseits der eigenen Logik, der eigenen Erfahrung, der eigenen Erwartungen. Man kann diesen verborgenen Sinn, dieses Ganze scheinbarer Sinnlosigkeiten und Zufälle Vorsehung nennen. Der österreichische Gelehrte Erik von Kuehnelt-Leddihn (1909-1999) meint in einem pointierten Aperçu: „Zufälle sind Augenblicke, in denen Gott anonym bleiben will.“

Papst Benedikt XVI. kommentiert in einem Text aus seiner Zeit als Kardinal: „Gott kommt uns immer mit seiner Gnade zuvor, und in einem jeden Leben gibt es Schönes und Gutes, das wir leicht als Gnade, als Lichtstrahl göttlicher Güte erkennen können, wenn wir nur die Augen unseres Herzens offen halten. Und wenn wir das tun, wenn wir zuerst überhaupt Gott in seiner Güte kennen gelernt haben, dann können wir auch lernen, in den dunklen Wegen zu vertrauen, dass Gott uns immer noch als Gnade vorausgeht, dass er es gut mit uns meint." (Auf Christus schauen, Freiburg 1989)

Karneval kann – souverän gefeiert – ein Tor zu jener Freude sein, die wesentlich zum Christenleben gehört. In diesem Sinne versteht man die Antwort des Dichters Paul Claudel, den ein Freund fragte, wie man den Glauben weiter geben kann. Mit der ersprießlichen Einseitigkeit eines an Bilder gewohnten Dichters riet er: „Lehre sie, dass sie keine andere Pflicht auf der Welt haben als die Freude.“ Solche Freude aus dem Inneren wirkt weiter fort, wenn wir dem Karneval Adieu sagen und in die Fastenzeit eintreten.