Essen. Vom Rückzug des „einsamen Dichters im Elfenbeinturm“ kann wirklich keine Rede sein. Reiner Kunze gewährte den Besuchern seiner literarischen Begegnungsabende in Essen einen tiefen Einblick in die Entstehung von Gedichten. Als sei der Einfall eben dem Leser oder Hörer selbst gekommen, so plausibel konnte man nach- und mitdenken. „Durch den Abend mit Reiner Kunze habe ich die Lyrik wieder liebgewonnen,“ kommentierte ein Gast des RÜTTENSCHEID-Forums später im Gästebuch.
Die rechte Lebenspraxis und einfältige Klugheit
Die große Lesung in Essen aus dem jüngsten Gedichtband „lindennacht.“ verfolgte in einer äußerst angespannten, aufmerksamen Stille gleichsam den roten Faden einer spannenden literarischen Biografie. Gelegentliche zustimmende Lacher belegten das unausgesprochene Verständnis zwischen Autor und Hörer. Eine besondere Gesprächsfrucht ergab sich, als Reiner Kunze nach den „kleinen Verhältnissen“ seiner Herkunft aus der Bergarbeiterfamilie gefragt wurde.
In der überzeugenden Antwort konnte er zeigen, dass diese „kleinen Verhältnisse“ in ihrer rechten Lebenspraxis und einfältigen Klugheit und Würde auch ganz „große Verhältnisse“ waren, aus denen er noch heute schöpfen kann. Aussprüche der Mutter („an ihren gleichnissen könntest du dich / nachhaustasten“) oder „DIE SCHACHTTASCHE“ des Vaters, ein vom Großvater hinterlassenes „erbstück // Das einzige“, oder Erzählungen aus der ärmlichen Kindheit konnten dies ergreifend deutlich machen.
Das Kostbarste, was er an „Heimat“ habe, so verriet der 77-jährige Dichter auf eine Frage aus dem Publikum, sei unsere sehr reiche Sprache. Solange er diese noch habe, sei der Wohnort zweitrangig.
„Durst nach Poesie“
Bereitwillig ließ er sich nach seinen Erfahrungen in der DDR und den späteren im „Westen“ ausfragen, und auch zu den Bedingungen der Entstehung von Lyrik gab er mit konkreten Beispielen umfassende Antwort. Seinen Hörern vermittelte Reiner Kunze auch einen gewissen „Durst nach Poesie“, da deutlich wurde, wieviel Menschlichkeit und Suche in solchen Versen stecken kann.
Um die Welt im größeren Kontext wahrnehmen zu können
Zur gesamthumanen Erfahrungsmöglichkeit gehört die Dimension des Künstlerisch-Kreativen, sei es in der Musik, in der bildenden oder darstellenden Kunst oder in der Poesie. Sie ist notwendig, um die Welt in einem größeren Kontext wahrnehmen und schätzen zu können. So liegt auf der Hand, dass die menschliche Sensibilität für die Wirklichkeitserfahrung und der Habitus tiefer Dankbarkeit sehr nahe beieinanderliegen. Am Menschen Reiner Kunze lässt sich beides augenfällig beobachten. Immer wieder geht es um Entdeckungen dessen, was wir wissen können („So viele antworten gibt’s, / doch wir wissen nicht zu fragen“ hieß es bereits vor zehn Jahren in einem Gedicht). Die Poesie, so sein Bekenntnis, gebe unserer Welterkenntnis eine neue Vorstellung hinzu, „die es vorher noch nicht gegeben hat“.
„Reiner Kunze hat wieder etwas geheilt, was in meinem Verhältnis zu Gedichten in der Schule zerstört worden ist.“
Seinen Zuhörern in diesen Essener Tagen, deren inneres Nicken man öfter zu vernehmen meinte, scheint genau dies an Beispielen plausibel geworden zu sein: „Reiner Kunze hat wieder etwas geheilt, was in meinem Verhältnis zu Gedichten in der Schule zerstört worden ist. Die beiden Erlebnisse, die in dem Gedicht [„LIED“] als Bildeinfall zusammenkommen, kann man großartig verstehen; ich werde es meiner Tochter erläutern …“, kommentierte der Versicherungskaufmann Andreas M., der extra aus dem Sauerland zum Gesprächsabend angereist war. Für die Ärztin Antonie K. aus Essen war es „wunderschön, so ein Überfließen […] in unserem Überfluss zu erleben. Kein Wort zu viel oder zu wenig […]“ . Viele Gäste äußerten sich hinterher dankbar und begeistert über die Möglichkeit, den Dichter aus der Nähe kennenzulernen.
Es sieht so aus, dass auch der Schriftsteller die Zeit in Essen nicht als verloren ansieht; trotz eines engen Zeitplanes bei dieser Lesereise hat das Schriftstellerehepaar doch einige Besonderheiten der Kulturhauptstadt wahrnehmen können, so zum Beispiel einen Besuch im neuen Museumsbau mit der eben neu eingerichteten Sammlung Folkwang; Museumsdirektor Dr. Herwig Fischer hatte sich in besonderer Weise dafür eingesetzt. Und diejenigen, die ihm und seiner liebenswürdigen Gattin (einst einzige Radiohörerin einer DDR-Gedichtsendung in Böhmen, die darauf reagiert und die Kommunikation mit dem jungen Dichter gesucht hatte,) in diesen Tagen begegnet sind, haben sich auf jeden Fall bereichert und dankbar von ihm verabschieden können.