Selig die Armen im Geiste – oder worauf es im Leben wirklich ankommt

In den Seligpreisungen legt uns Jesus ans Herz, die Armut im Geiste zu leben – und damit das zu suchen, was wirklich glücklich macht.

Wenn wir Gottes Vorlieben entdecken wollen, brauchen wir nur das erste Weihnachtsfest der Geschichte zu betrachten. Es ist „voller Überraschungen“[1], so sagte Papst Franziskus. Denn die Geburt des Allerhöchsten stand bevor, und Gott, der Allmächtige, wählte für seinen Sohn nicht einen Palast, sondern eine Krippe, fast unter freiem Himmel. Und als erste Gäste ließ er nicht Würdenträger rufen, sondern einfache Hirten. Die größte Überraschung aber war, dass das ewige Wort als Säugling in die Welt trat – unfähig zu sprechen. „Wer hätte das gedacht?“, fragt Papst Franziskus und fährt fort: „Weihnachten bedeutet, das Unerhörte Gottes zu feiern, oder besser gesagt, einen unerhörten Gott zu feiern, der unsere Logik und unsere Erwartungen auf den Kopf stellt. (…) Die Weihnacht Jesu bietet nicht die behagliche Wärme eines Kaminfeuers, sondern das göttliche Schaudern, das die Geschichte aufrüttelt.“[2]

Die Krippe von Bethlehem, die wir uns so idyllisch vorstellen, war materiell gesehen unbequem. Warum aber wählte Gott diesen Rahmen, den wir Jahr für Jahr in unseren Häusern nachstellen? Josef und Maria teilten in jener Nacht den Reichtum der Armut – und waren so von allem befreit, was den wahren Schatz hätte verdunkeln können, den sie empfangen sollten. Der Schöpfer, dem alle Möglichkeiten offenstanden, entschied sich bewusst für den Verzicht – um uns zu zeigen, worauf es wirklich ankommt.

Das Reich gehört den Armen

Ein Schild an einer Versicherungsgesellschaft brachte es auf den Punkt: „Wir haben eine Versicherung für alles, außer für gutes Wetter und Liebe.“ Wenn wir schon das Wetter nicht beherrschen können, so noch viel weniger die Zuneigung anderer. Liebe lässt sich nicht erzwingen – auch nicht mit allem Geld der Welt. Und dennoch suchen wir unsere Sicherheit so oft im Besitz. Jesus weist uns einen anderen Weg. Er verheißt das Glück schon hier auf Erden und in Fülle dann im Himmel denen, die ihre Sicherheit in Gott suchen. „Selig sind, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich“ (Mt 5,3).

Die Armut im Geiste darf nicht verwechselt werden mit materieller Not – deren Linderung ein ständiger Auftrag der Kirche bleibt –, sondern ist eine innere Haltung: Sie ordnet unser Verhältnis zu den Dingen, lässt sie uns genießen, ohne davon besessen zu sein, und macht uns frei von der Illusion, dass unser Glück am Besitz hängt. Um uns vor dieser Täuschung zu bewahren, warnte Jesus: „Weh euch, ihr Reichen, denn ihr habt euren Trost schon empfangen!“ (Lk 6,24).

Der heilige Josefmaria sagte aus seiner seelsorglichen Erfahrung heraus: „Wenn ein Mensch sein Glück ausschließlich in den Dingen dieser Welt sucht, verfälscht er deren vernünftigen Gebrauch und zerstört die vom Schöpfer gewollte weise Ordnung. Ich bin hier Zeuge von wahren Tragödien geworden. Das Herz wird dann traurig und unzufrieden und begibt sich auf Wege nie enden wollenden Verdrusses.“[3] Die Armut im Geiste lässt uns erkennen, wie trügerisch materielle Sicherheiten sind und wie oberflächlich mancher Trost. Sie öffnet unsere Augen für das Einfache, die Menschen, Gott – für alles, was nur betrachtet werden will – und lässt uns die Wirklichkeit tiefer genießen als alles andere.

In eben diesem Sinne stellte Johannes Paul II. beim Besuch einer Favela in Rio de Janeiro die Frage: „Arm im Geiste – ist das nicht gleichbedeutend mit ‚offen für andere‘: für Gott und die Mitmenschen?“ Und danach wies er in ernstem Tone darauf hin, dass diese Seligpreisung der Armen im Geiste zugleich eine Warnung und Anklage enthält: „‚Weh euch‘: Dieses Wort klingt streng und bedrohlich, vor allem aus dem Mund Christi, der gewöhnlich mit Güte und Sanftmut sprach.“[4] Machen wir uns bewusst: Es ist die Sünde, die unser Verhältnis zum Besitz verkehrt. Dazu wird die Habsucht verstärkt durch eine Kultur, in der Geld oft als höchste Wertquelle gilt und Stellung und Ansehen bestimmt; eine Kultur, die uns einreden will, dass Wohlstand und Komfort der Schlüssel zum Glück seien. Dabei wissen wir alle: Die wahre Freude liegt in der Tiefe und Echtheit unserer Beziehungen. Das ist der Reichtum der Armen im Geiste. Dagegen wirkt die Einsamkeit mancher Vermögender wie eine besonders bittere Form der Armut.

Eine Harmonie, die jeder selbst finden muss

Auf die Frage einer Journalistin, wie die Tugend der Armut im familiären Zuhause gelebt und vermittelt werden könne, stellte der heilige Josefmaria fest: „Wer die Tugend der Armut nicht liebt und lebt, hat nicht den Geist Christi. Das gilt für alle: für den Einsiedler, der sich in die Wüste zurückzieht, ebenso wie für den gewöhnlichen Christen, der mitten in der Gesellschaft lebt.“[5] Damit war die Perspektive eröffnet: So unterschiedlich die Lebensumstände auch sein mögen – ob in der Kargheit der Wüste oder im Trubel einer Großstadt –, die Tugend der Armut lässt sich mit christlichem Geist überall leben. Während „Wüste“ jedoch mit „Armut“ identisch zu sein scheint, stellt sich die Frage, wie jemand arm sein kann im Geiste, der inmitten vieler Güter lebt.

Der heilige Josefmaria zeigte dazu zwei Pole auf, die es zu verbinden gilt: „(…) eine Armut, die in handfesten Dingen spürbar und greifbar gelebt wird, die ein Bekenntnis des Glaubens an Gott ist und Ausdruck dessen, dass sich das Herz nicht mit den geschaffenen Dingen zufriedengibt, sondern nach dem Schöpfer strebt,“ und die Selbstverständlichkeit, dass ein Christ „sich nicht von seinen Mitmenschen absondert, sondern an ihrem Leben, ihrer Freude und ihrer Arbeit teilnimmt, die Welt und alles Gute in ihr liebt und die irdischen Dinge nutzt, um die Probleme des menschlichen Lebens zu lösen“[6]. Hierin liegt die Herausforderung: losgelöst von den Dingen zu sein – und sie zugleich als Gaben Gottes zu lieben und mit anderen zu teilen.

Jesus selbst weist uns den Weg. Er lebte nicht radikal besitzlos, war aber auch nicht reich. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, verdiente seinen Unterhalt durch ein Handwerk (vgl. Mt 13,55), besaß ein gutes Gewand (vgl. Joh 19,23), nahm an Festen teil, sodass man ihn sogar verleumdete (vgl. Mt 11,19), und gewann vermögende Männer wie Matthäus, Zachäus oder Josef von Arimathäa für das Reich Gottes. Zugleich zeigte er eine klare Vorliebe für die Armen: Er stellte die arme Witwe als Vorbild hin (vgl. Lk 21,1-4), erzählte vom armen Lazarus, der in Abrahams Schoß gelangte (vgl. Lk 16,19-23), warnte vor der Gefahr des Reichtums (vgl. Mt 19,24), schickte seine Jünger ohne Vorrat aus (vgl. Lk 10,4-11), kam selbst in einer geliehenen Höhle zur Welt und wurde in einem fremden Grab beigesetzt. Jesus lebte frei von materiellen Bindungen und wusste doch die Güter der Schöpfung zu schätzen. Sein Beispiel zeigt: Es geht nicht um ein fragiles Gleichgewicht zwischen zwei Extremen, sondern um eine innere Harmonie. In ihm finden wir die Harmonie vollendet.

Der heilige Josefmaria warnte davor, Patentrezepte dafür zu suchen, wie Loslösung und Gebrauch der Güter zu leben ist: „Die Synthese zwischen diesen beiden Anforderungen zu erreichen, ist vor allem eine persönliche Aufgabe. Es ist eine Frage des inneren Lebens, um in jedem Moment zu erkennen, was Gott von uns verlangt. Ich möchte daher keine festen Regeln aufstellen.“[7] Wer meint, sich durch Listen von Standards absichern zu können, übersieht auch die Rolle der Klugheit – und ohne sie gibt es keine Tugend. Stattdessen hören wir besser auf „diese innere Stimme, die uns warnt, wenn sich Egoismus oder Bequemlichkeit einschleichen“.[8]

Es ist nicht wichtig, ob wir viel oder wenig besitzen, sondern wie wir uns zu den Dingen verhalten. Die Güter sind Mittel – nicht Ziel, pflegte der heilige Josefmaria zu sagen.[9] Wenn er hin und wieder einen Rat gab, dann zum Beispiel diesen – der sich auch auf andere Bereiche des Alltags übertragen lässt –, nämlich sich seinem Stand, seiner Familie und seiner Arbeit entsprechend zu kleiden: „wie alle anderen, aber aus Liebe zu Gott“[10]. Dazu empfahl er wiederholt, sich keine künstlichen Bedürfnisse zu schaffen, die Dinge zu pflegen, zeitweise auf etwas zu verzichten, anderen das Bessere zu überlassen, Unannehmlichkeiten freudig anzunehmen, sich nicht zu beklagen, wenn etwas fehlt, und viele andere kleine Dinge, die jeder in seinem Gebet entdecken kann.

Liebe zur Welt und Solidarität

Der heilige Josefmaria hatte selbst Zeiten materieller Armut kennengelernt.[11] Daneben pflegte er bestimmte persönliche Gewohnheiten, um in sich den Geist der Armut lebendig zu halten, legte diese aber nicht allen Gläubigen des Werkes nahe. Ihm war bewusst, dass Gott ihn dazu berufen hatte, einen Geist der Heiligkeit mitten in der Welt zu verkünden und nicht außerhalb von ihr. Und auch wenn andere Christen zur Verherrlichung Gottes zur radikalen Entsagung berufen waren, sah er die Aufgabe der gewöhnlichen Gläubigen darin, „ein ausdrückliches Zeugnis der Liebe zur Welt“ und der „Solidarität mit den Menschen“[12] abzulegen.

Als sich im Sommer 1974 in Lima ein Familienvater mit der Frage an ihn wandte, wie er Armut leben könne, ohne seiner Familie den nötigen Komfort vorzuenthalten, antwortete der heilige Josefmaria: „Es ist nicht dasselbe, mit einem gewissen Komfort zu leben und mit Luxus zu prahlen. Das Erste ist deine Pflicht, das Zweite würde ich nicht gutheißen. Sei ein guter Ehemann, ein guter Vater, großzügig zu deiner Frau und deinen Kindern. Aber prahle nicht mit Luxus: Begnüge dich damit – und hilf anderen.“[13] Gerne erzählte der heilige Josefmaria auch vom Beispiel einer älteren Frau aus noblem Haus, die für sich selbst keine zwei Peseten ausgab, ihre Angestellten aber sehr gut bezahlte und den Rest für die Armen verwendete. „Sie besaß vieles, was andere begehren, lebte aber persönlich arm, bescheiden und losgelöst von allem.“[14]

Die Armut im Geiste schließt also Großzügigkeit ein. Sie zeigt sich im Blick auf jene, die wirtschaftlich oder seelisch Not leiden. Papst Franziskus erinnert: „Das Gebet zu Gott und die Solidarität mit den Armen sind untrennbar miteinander verbunden. (…) Um einen Gottesdienst zu feiern, der dem Herrn gefällt, muss man anerkennen, dass jeder Mensch, auch der Ärmste und Verachtete, ein Abbild Gottes ist. (…) Die Begegnung mit einem Menschen, der in Armut lebt, stellt uns stets in Frage: Wie können wir seine Ausgrenzung und sein Leid lindern? Wie können wir seiner geistigen Armut begegnen?“[15]

Gläubige, die Christus in ihr berufliches Umfeld hineinbringen wollen, sollten sich besonders angesprochen fühlen, anderen zu helfen. Deshalb betonte der heilige Josefmaria: „Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass es jeden Tag weniger Arme auf der Welt gibt. (…) Wohlstand entsteht durch Arbeit – durch Spezialisierung, durch beruflichen Aufstieg –, und das Werk gründet sich auf Arbeit.“[16]

Frei, um zu lieben

„Haltet für gering, was ihr gegeben habt, denn ihr werdet ebenso viel zurückerhalten“[17], mahnte die heilige Teresa von Avila und rief dazu auf, die Tugend der Armut hochherzig zu leben. Sie macht uns frei und froh – auch dort, wo das Nötigste fehlt. „Frei, um zu lieben: Das ist der Sinn unseres Geistes der Armut, der Enthaltsamkeit und der Loslösung“[18], schrieb Prälat Fernando Ocáriz in einem Hirtenbrief. Wer diesen Raum der Freiheit betritt, wählt – wie Maria in Bethanien – den „besseren Teil (vgl. Lk 10,42), der uns nicht genommen werden wird.

Grundlage: Andrés Cárdenas M., 3.3.2022, Was wirklich zählt (Nr. XII der Serie „Sehr menschlich, sehr göttlich)

[1] Franziskus, Generalaudienz vom 19.12.2018

[2] ebd.

[3] Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 118.

[4] Hl. Johannes Paul II., Ansprache vom 2.7.1980.

[5] Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 110.

[6] Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 110.

[7] Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 110.

[8] Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 111.

[9] Vgl. Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 118.

[10] Ebd.

[11] Als Jugendlicher erlebte er zum Beispiel wie das Geschäft seines Vaters in Konkurs ging, später die schwierigen Jahre des spanischen Bürgerkrieges, die finanzielle Not bei seiner Ankunft in Rom, usw.

[12] Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 110.

[13] Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einem Familientreffen am 25.7.1974.

[14] Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 123.

[15] Papst Franziskus, Botschaft vom 15.11.2020.

[16] Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einem Familientreffen am 24.4.1967.

[17] Hl. Theresa, Wege der Vollkommenheit.

[18] Prälat F. Ocáriz, Hirtenbrief vom 14.2.2017, Nr. 8.