Österlicher Realismus

Wenn die Menschen selbst nichts mehr tun können, wenn nur noch Trauer, Erinnerung, Untertauchen, Sich-Anpassen da sind, erfahren sie – ohne ihr Zutun – die Nähe des Herrn. Es ist die österliche Erfahrung. Der Herr ist auferstanden.

In der Stille des Sabbats reifen die Pläne für den ersten Tag der Woche. Drei Frauen wollen gleich bei Sonnenaufgang zum Grab gehen, zwei Jünger beschließen, Jerusalem zu verlassen, die kleine Gruppe verängstigter Getreuer beschließt nichts, sie bleibt ratlos hinter verschlossenen Türen in der naheliegenden Annahme, jetzt seien sie an der Reihe.

Am Leichtesten zu verstehen: Das Vorhaben der zwei Jünger, die Lukas dann auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus schildert. Nach dem Traum die Fakten. Von der Begeisterung zur Enttäuschung, von der Naivität zum Realismus. Die Erinnerung an die echte Leidenschaft jener unüberlegten Liebe beschämt sie vielleicht, und sie entfernen sich von der vertrauten Umgebung in der Hoffnung, diese Erin­nerungen werden im Laufe der Zeit schwach werden, und dann nicht mehr stechen, sondern nur melancholisch nachwirken.

Am Schwierigsten zu verstehen: Das Verhalten der drei Frauen. Sie sind die einzigen, die die Fakten zu übersehen scheinen. Sie machen sich auf den Weg zum Grab und erst unterwegs fragen sie sich: Wer wird uns den Stein wegwälzen? Mit mehr Verstand und weniger Gefühl wären sie zu Hause geblieben und hätten sich mit der resignierten Feststellung getröstet, die Markus wie nebenbei anbringt: "Und der Stein war sehr groß".

Vernunft, Resignation, Anhänglichkeit. Nichts Neues in der Perspektive der Weltgeschichte, die so viele zugrundegegangene Ideale, gescheiterte Hoffnungen und menschliche Trümmer kennt.

Das Neue: Wenn die Stille des Sabbats vorüber ist, gelten die alten Pläne nicht mehr – nicht mehr den Toten einbalsamieren, nicht mehr sich nach Emmaus zurückziehen. Wenn die Menschen selbst nichts mehr tun können, wenn nur noch Trauer, Erinnerung, Untertauchen, Sich-Anpassen da sind, erfahren sie – ohne ihr Zutun – die Nähe des Herrn. Es ist die österliche Erfahrung. Der Herr ist auferstanden.

Ein Durcheinander von Vermutungen begleitet das aufgeregte Hin und Her zum und vom Grab hin. Die Evangelisten berichten davon ohne Rücksicht auf Zusammenhänge und Reihenfolge, wie Stammelnde. Nur eins ist gewiss: Er lebt.

Und dann ein Licht, das auch vieles Vergangene – Worte und Taten des Herrn – nach und nach erhellen wird: Er hatte es doch gesagt.

Österlicher Realismus

Die Auferstehung Christi ist das Aufblühen des Baumes, der bei der Menschwerdung noch ein verborgener Samen auf unserer Erde war. Dies bedeutet die Wende des Daseins für alle Menschen aller Zeiten, die Bestätigung der Mächtigkeit Gottes bis in die tiefste Ohnmacht des Fleisches.

Anders als bei Lazarus, haben wir es nicht mit einem Zurück in einen früheren raumzeitlichen Zustand zu tun, der irgendwann einmal mit dem Tod enden wird. Wenn es im Neuen Testament heißt, dass Christus den Tod überwunden hat, ist damit eine neue Dimension für alle Menschen aller Zeiten gemeint.

Das ist der österliche Realismus, der jede menschliche Logik und alle "Fakten" übersteigt: Ja sagen im Glauben zu einer Realität, die unsere raumzeitlichen Strukturen durch die Menschwerdung be­stätigt und durch die Auferstehung relativiert.

Die Menschen, die in den ersten Stunden den Auferstandenen begegnen, sind keine Theologen, sie interpretieren nichts. Sie erfahren nur: Der Herr ist trotz verschlossenen Türe plötzlich da, er zeigt ihnen die Wundmale seines verherrlichten Leibes. Das Leibliche verliert seine Schwerfälligkeit, der Geist durchwirkt die Materie.

Die Rätselhaftigkeit der Materie anzunehmen, fällt uns heute nicht mehr schwer, nachdem die moderne Physik diesem Begriff die Grobheit des "Betastbaren" genommen hat und auf Strukturen verweist, die für den Durchschnittsmenschen nicht weniger rätselhaft sind. Die eigentliche Schwierigkeit in der Annahme eines österlichen Re­alismus liegt vielmehr im Gespür für das Ineinander von Materie und Geist, von Schwerkraft und Gnade in uns.

Die Apostel neigen zum "Spiritualismus", als der Herr vor ihnen steht. Sie meinen, einen Geist vor sich zu haben – eigentlich ein Gespenst, ein Stück ihrer Welt. Auch wir tun uns schwer mit dem Geist. Unwillkürlich verbinden wir ihn mit etwas Vagem, Abstraktem. Bis hin zu den harmlosen Gespenstergeschichten, in denen wir die "Geister" mit einem Bettlaken versehen müssen, damit wir sie uns vorstellen können. Aber wenn der Herr den Aposteln die Wunden seiner Hände und seiner Füße zeigt, die jetzt eine andere Sprache sprechen, und mit den Seinen Mahl halten will, dann ahnen wir, dass der Geist Gottes Menschen verwandeln kann.

Österliche Spiritualität

Das Geschehnis der Auferstehung erreicht die Menschen von außerhalb der Geschichte und kann deshalb auf alle Menschen aller Zeiten wirken. Christus, der in die Geschichte der Menschen hat eingehen wollen, verliert sich nicht in einer verschwommenen Vergangenheit, sondern will sich ganz konkret in das persönliche Schicksal jedes einzelnen "einmischen". Notwendig ist aber, dass der einzelne sich ihm durch eine spirituelle Haltung öffnet, die Menschwerdung, Tod und Auferstehung widerspiegelt.

Österlicher Realismus ist nur dann tragfähig, wenn der Christ aus einer Spiritualität lebt, die den Kontakt sucht mit Geist und Leib Christi, mit seiner ganzen lebenden Person also. „Christi Auferstehung wird in uns Wirklichkeit, wenn wir zu Teilhabern seines Kreuzes und seines Todes werden. Wir müssen das Kreuz lieben, die Hingabe und die Entsagung. Christlicher Optimismus ist nicht leichtfertig und auch nicht ein bloß menschliches Vertrauen darauf, dass schon alles gut gehen wird. Er hat seine Wurzeln im Bewusstsein der Freiheit und im Glauben an die Gnade; er führt dazu, dass wir von uns selbst etwas verlangen und uns anstrengen, dem Ruf Gottes zu entsprechen.“ (Josefmaria Escrivá, Christus begegnen, 114). http://de.escrivaworks.org/book/christus_begegnen-nummern-114.htm

Ostern besagt, dass Christen nicht der Lehre eines Toten folgen, sondern der Person eines Lebenden. Von daher stimmt es: Christentum ist keine Lehre. Aber auch hier geht es um die Ehrlichkeit, aus der persönlichen Beziehung mit Christus nicht ein bloßes subjektives Gefühl zu machen, sondern echte Spiritualität. Nicht ein Leichnam spricht zu uns, sondern einer, der die Fülle des Lebens ist. Und es überrascht nicht, dass ein Sprechen aus solcher Fülle der Nachfolge des Einzelnen so Manches zumutet.

von Josef Arquer