„Die Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik (PID) hat erhebliche Konsequenzen für den Rechtsstaat, seine Verfassung und seine Rechtsordnung. Sie widerspricht den ersten drei Artikeln des Grundgesetzes: der Gewährleistung der Menschenwürde, dem Lebensrecht sowie dem Diskriminierungsverbot Behinderter. Nicht zuletzt gefährdet sie mit dem Gleichheitsprinzip einen Pfeiler des Demokratieverständnisses." Mit dieser deutlichen Stellungnahme meldete sich der Osnabrücker Sozialethiker Manfred Spieker bei einem Gesprächsabend im Münchner „Haus Weidenau" zur aktuellen Diskussion zu Wort. Der Bundestag verhandelt am kommenden Donnerstag darüber, ob außerhalb des Mutterleibs erzeugte Embryonen vor der Einpflanzung in die Gebärmutter auf Erbkrankheiten untersucht und bei entsprechendem Befund getötet werden dürfen.
Zahlen zeigen dramatisches Ausmaß der Selektion
„Der Preis für ein gesundes Kind nach PID ist der Tod von weit über 30 Embryonen."
Eingangs ging der Referent auf das dramatische Ausmaß der Selektion ein und nannte Zahlen der „Europäischen Gesellschaft für Humanproduktion und Embryologie", die die Daten von PID-Zentren weltweit sammelt. Bei 40.713 Embryonen und 1206 geborenen Kindern im Jahr 2007 bedeute das: „Der Preis für ein gesundes Kind nach PID ist der Tod von weit über 30 Embryonen." Er würdigte die Hoffnung auf ein gesundes Kind bei Eltern, die mit dem Risiko einer übertragbaren Erbkrankheit belastet seien, zitierte aber den ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau: „Noch so verständliche Wünsche und Sehnsüchte sind keine Rechte. Es gibt kein Recht auf Kinder. Aber es gibt sehr wohl ein Recht der Kinder auf liebende Eltern – und vor allem das Recht darauf, um ihrer selbst willen auf die Welt zu kommen und geliebt zu werden". Die Anerkennung der unantastbaren Menschenwürde im Grundgesetz beinhalte das Verbot, den Menschen wie eine Sache zu behandeln. „Würde ist Anspruch auf Achtung allein auf Grund des Menschseins", betonte Spieker. Das beginne mit der Zeugung. Jeder spätere Beginn des Personseins würde den Embryo der Macht deren ausliefern, die als Zäsur etwa die Hirntätigkeit festlegten. Das Bundesverfassungsgericht habe festgestellt: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen".
Habermas und Katholiken warnen vor PID
Der Osnabrücker Professor wies ferner darauf hin, dass der demokratische Rechtsstaat die Gleichheit der Bürger „vor dem Gesetz" voraussetze. Würden Menschen einer PID unterzogen, hänge ihr Leben vom Urteil des Reproduktionsmediziners ab, dem die Eltern die Ressourcen geliefert hätten. Der Mensch, der „gemacht" werde, könne auch zerstört werden, habe Kardinal Ratzinger schon 2004 erklärt. „Die Gemachten sind die Geschöpfe der Macher. Dies zerstört die Symmetrie der Beziehungen, auf die jede Zivilgesellschaft und jede Demokratie angewiesen sind", argumentierte Spieker. In der Warnung vor dieser Gefahr seien sich Katholiken und Jürgen Habermas einig, für den die PID die „Reziprozitätsbedingungen der kommunikativen Verständigung" verletze. Sie widerspräche dem Demokratieprinzip gegenseitiger Anerkennung des anderen als mir Gleichem und nicht von mir Ausgewähltem. Sie widersprächen der Goldenen Regel, dem anderen nicht das zuzufügen, was man an sich selbst nicht getan haben möchte.
Der Embryo ist kein Ding, sondern Selbstzweck
Über Jahrzehnte habe das Verdinglichungsverbot als Kern der Menschenwürdegarantie gegolten. Dieses Verbot gelte für jeden Menschen in allen Phasen seiner Existenz, auch in der frühesten Phase. Der Embryo sei bereits ,Selbstzweck'. „Aus dem Verdinglichungsverbot ergibt sich die Verfassungswidrigkeit der PID. In der diagnostischen Selektion liegt eine Instrumentalisierung des menschlichen Embryos vor, die ihn nicht mehr als Subjekt, sondern ausschließlich als Objekt behandelt", warnte Spieker. Die PID verletze deshalb die Würde des Embryos ebenso wie sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Darin stimmten zahlreiche Medizinrechtler, Verfassungsrechtler, Philosophen und Theologen überein. Die Pflicht, jede Instrumentalisierung des Embryos zu unterlassen, wiege schwerer als die Pflicht, zur Realisierung eines an sich wünschenswerten Ziels wie der Vermeidung schwerer Erkrankungen beizutragen.
PID verstößt gegen Grundgesetz: Unschuldige dürfen nicht getötet werde
Weiter ging der Sozialwissenschaftler darauf ein, dass das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Artikel 2 des Grundgesetzes „jedem" Menschen vom Anfang seiner Existenz an zukomme. Die PID missachte dieses Recht, indem sie es auf das gewünschte gesunde Kind beschränke, dem belasteten Kind werde es verwehrt. „Die PID verletzt das den Rechtsstaat konstituierende Verbot, Unschuldige zu töten. Die Legalisierung der tödlichen Selektion erkrankter oder belasteter Embryonen wäre gleichbedeutend mit der Legalisierung privater Gewaltanwendung, die ebenfalls gegen eine Konstitutionsbedingung des Rechtsstaates verstößt", stellte Spieker klar. Die PID stelle das Lebensrecht des Embryos zur Disposition der Eltern. Sie mache es vom Bestehen eines Eignungstests abhängig.
Die Diskriminierung von Behinderten ist verboten
Nachdem laut Grundgesetz niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden dürfe, sei die PID ferner eine Verletzung dieses Diskriminierungsverbots. Denn sie suche gezielt nach behinderten oder genetisch belasteten Embryonen. „Sie setzt die stillschweigende oder auch katalogisierte Unterscheidung von lebenswertem und lebensunwertem Leben voraus", analysierte Professor Spieker. Sie diene nicht der Verhinderung, sondern der Vernichtung von belasteten Embryonen. Zu dem Argument, die PID diene dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des gezeugten Kindes, das im späteren Leben seine Eltern wegen verminderter Lebensqualität zur Rechenschaft ziehen könnte, merkte er an: „Dass die Gewährleistung dieses Rechts auf körperliche Unversehrtheit durch die Verweigerung des Rechts auf Leben zu realisieren sei, diese Logik müssen die Verteidiger der PID erst einmal erklären."
Druck auf Mütter wird erhöht: Nur gesunde Kinder gebären
Die PID öffne außerdem das Tor zur vorgeburtlichen Qualitätskontrolle. Sie erzeuge gesellschaftliche Erwartungen, dass behindertes Leben vermeidbar sei. Sie verstärke den bereits durch die Praxis der Pränataldiagnostik auf die Mütter ausgeübten Druck, gesunde Kinder zu gebären. Sie fördere die Vorstellung, die Reproduktionsmedizin erfülle Optimierungswünsche. Der Referent kritisierte auch den Medizinnobelpreisträger von 1962, James D. Watson, der gefordert hatte, Kinder, „deren Gene kein sinnvolles Leben zulassen, ... sollten gar nicht erst geboren werden". Deshalb solle man „bis zwei Tage nach der Geburt warten, bevor man etwas als Leben deklariert, als ein Kind mit Zukunft". Die Legalisierung der PID führe zur gesellschaftlichen Legitimierung einer zunehmenden Diskriminierung, Stigmatisierung und Entsolidarisierung von chronisch Kranken, Behinderten und deren Familien. Es gebe genügend Erfahrungen von Eltern behinderter Kinder, die zu hören bekämen, dass „so etwas" doch heute nicht mehr sein müsse.
Der Elternschaft darf man sich nicht nachträglich entziehen
Schließlich erinnerte Spieker, dass jeder, der sich auf eine künstliche Befruchtung einlasse, verpflichtet sei, sich den erzeugten Embryo implantieren zu lassen. Der Elternverantwortung dürfe man sich nicht nachträglich entziehen. Das Embryonenschutzgesetz schreibe vor, nur so viele Embryonen zu erzeugen, wie in einem Zyklus implantiert werden könnten. Mit der PID-Legalisierung würden Reproduktionsmediziner ihr Ziel erreichen, mehr Eizellen befruchten zu können, um ihre Erfolgsquote zu erhöhen. „Das Embryonenschutzgesetz würde von einem Instrument des Lebensrechtes des Embryos zu einem Instrument der Fortpflanzungsfreiheit der Frau", warnte Spieker.