München. Das Zweite Vatikanische Konzil bescherte der Kirche eine tiefgreifende Erneuerung, die viele Gläubige aufrichtig ersehnt hatten. Sehr bald aber schwankten die Deutungsversuche in der Nachkonzilszeit hin und her zwischen erwünschtem oder beklagtem Bruch und Kontinuität mit der bisherigen Lehre der Kirche. In diesem Jahr begeht die Kirche nun das 50. Jubiläum der Konzilsankündigung durch Papst Johannes XIII. Zugleich wurde in letzter Zeit Kritik am Konzilsverständnis von Papst Benedikt XVI. laut. Diese unterschiedlichen Entwicklungen nahm der in Venedig, Rom und Lugano lehrende Kirchenrechtler und Ekklesiologe Professor Arturo Cattaneo bei einem Gesprächsabend im Münchner Kulturzentrum für Erwachsenenbildung Weidenau zum Anlass, für eine genauere Einschätzung des Konzils zu werben. Dabei sei es bemerkenswert, dass eine Generation nach Ende des II. Vatikanums Joseph Ratzinger, der damalige Berater des einflussreichen Konzilsteilnehmers Kardinal Frings aus Köln, als heutiger Papst der beste noch lebende Kenner des Konzils sei.
„Für die Kirche war das II. Vatikanum (1962–65) das Jahrhundertereignis und ist auch bis auf den heutigen Tag noch der wichtigste lehramtliche Bezugspunkt. In vielerlei Hinsicht war es ein einmaliges Konzil“, davon ist der Schweizer Theologe überzeugt. „Eine erste Eigenart jenes Konzils war die Tatsache, dass zum ersten Mal in der Konzilsgeschichte die Kirche selber das Thema war“, begann er die ausführliche Darstellung seiner bedeutendsten Charakteristiken. Außerdem habe es keine defensive Haltung in Form von Lehrverurteilungen wie frühere Konzilien eingenommen: „Das war auch nicht der Zweck der Übung. Vielmehr ging es positiv darum, die Schönheit und Tiefe unseres Glaubens zu verkünden und zu bezeugen.“ Auch sei es nicht das Ziel der 21. Ökumenischen Kirchenversammlung gewesen, neue Dogmen zu definieren, sondern vor allem die Sendung der Kirche zu fördern. „Alle Gläubigen sind lebendige und aktive Mitglieder der Kirche, alle nehmen an der Sendung der Kirche teil“, stellte Cattaneo als eine der bedeutendsten Neuigkeiten des Konzils heraus.
Ausrichtung und Impulse
Ebenfalls spezifisch sei „die klare, entschlossene ökumenische Ausrichtung des II. Vatikanums“ gewesen: „Die respektvolle Haltung den anderen Christen gegenüber zeigte sich gerade als eine Notwendigkeit in der Mission darin, dass man aufhörte, die Nicht-Katholiken als Ketzer zu bezeichnen oder als Feinde zu betrachten“, so der Referent. Schließlich habe das Konzil zur Erneuerung der Theologie mächtig beigetragen, indem eine stärkere Aufmerksamkeit für die Quellen des Glaubens – die Bibel, die Schriften der Kirchenväter und die Liturgie – geschenkt wurde.
Als kräftige Impulse, die das Konzil vorbereitet hätten, nannte der Professor verschiedene theologische Bewegungen: die biblische, die liturgische („Die Kirche erwacht in den Seelen der Gläubigen“, zitierte er den berühmten Satz des Münchner Professors Romano Guardini), die patristische, die ökumenische und die missionarische Bewegung. Als bedeutende apostolische Initiativen aus der Zeit vor dem Konzil erwähnte er die Katholische Aktion vor allem in Südeuropa, durch die zahlreiche Laien verstärkt mit der Hierarchie der Kirche mitgearbeitet hätten, und das Opus Dei, das die Laien zum vollen Bewusstsein ihrer Berufung aus der Taufgnade zu Heiligkeit und Apostolat führen wolle. Ferner müsse man das II. Vatikanum auch als Ergänzung des aus politischen Gründen 1870 abgebrochenen I. Vatikanums verstehen. Es habe sich – nach der damaligen Behandlung des Petrusamtes – neunzig Jahre später intensiv mit den Aufgaben und dem Wesen des Bischofs- und Priesteramtes beschäftigt.
Welche waren nun die wichtigsten Ansätze des Zweiten Vatikanischen Konzils für den Aufbruch in der Kirche? „Es gab mehrere zukunftweisende Wiederentdeckungen von Aspekten der Kirche, die im Laufe der Jahrhunderte in Vergessenheit geraten waren oder nur einseitig verstanden wurden“, ist sich der Theologe sicher. Dazu zählt er Passagen aus den Konzilstexten über das Wesen der Kirche, den Christozentrismus, das Wirken des Heiligen Geistes, die Charismen, die Wirklichkeit des Bischofskollegiums, das Presbyterium, die Taufe, die Bedeutung der Eucharistiefeier für das christliche Leben, das allgemeine Priestertum, die Mitwirkung aller an der Sendung der Kirche, den universalen Ruf zur Heiligkeit und zum Apostolat, die spezifische Berufung und Aufgabe der Laien in der Kirche und die Beziehungen der Kirche zur zivilen Gesellschaft.
Kritik und Missverständnisse
Zu Kritik und Missverständnissen II. Vatikanums meinte der Referent im Anschluss: „Einige haben die Begeisterung für das Konzil etwas zu weit getrieben und wollten es im Sinne immer weiterer Öffnungen uminterpretieren.“ Auch der Begriff „Volk Gottes des Vaters“ sei missverstanden worden, weil er von manchen nur soziologisch und sogar marxistisch gedeutet worden sei. Nach der Veröffentlichung der Enzyklika „Humanae Vitae“ mit der Verurteilung der künstlichen Verhütungsmittel durch Paul VI. sei es ab 1968 zu einer tiefen Ernüchterung gekommen. Andererseits meinte Cattaneo, zu schnelle, teilweise chaotische und unkluge liturgische Reformen mit zu wenig Frömmigkeit und Gespür für das Sakrale hätten Gegenbewegungen wie die um Bischof Lefebvre hervorgebracht. Sie gäben die Schuld an nachkonziliaren Missständen dem Konzil als solchem, das in ihren Augen kein richtiges Konzil in der Tradition mit dem gültigen Lehramt gewesen sei. Indem die Traditionalisten wichtige Fortschritte des Konzils nicht akzeptierten, bestehe die Gefahr, dass sie auch das Lehramt und die Autorität des Papstes nicht anerkennten. Damit seien sie dann aber automatisch Schismatiker und stünden außerhalb der Kirche.
„Gott sei Dank hat das II. Vatikanum stattgefunden. So konnten sich Johannes Paul II. und Benedikt XVI. auf eine solide Basis mit der kollegialen Entscheidung der Kirche stützen. Und es ist ganz klar: Das Zweite Vatikanische Konzil, trotz seinen bedeutenden Erneuerungen, war kein Bruch in der Tradition, sondern es steht in einer großen Kontinuität mit den vorherigen Konzilien der Kirche“, lautet das Resümee des Professors aus der Schweiz.