„Licht in Fülle“. Gedanken des Prälaten zu Evangelii Gaudium

Dieser Beitrag wurde in der italienischen Zeitung „Avvenire“ veröffentlicht. Der Prälat schließt sich dem Aufruf des Papstes Franziskus an: Das Apostolat entspringt einem übervollen Herzen „das die Freude des Evangeliums nicht für sich behalten kann.“

Bischof Javier Echevarría

"Unser volles Menschsein erreichen wir, wenn wir mehr als nur menschlich sind, wenn wir Gott erlauben, uns über uns hinaus zu führen, damit wir zu unserem eigentlichen Sein gelangen. Wenn nämlich jemand diese Liebe angenommen hat, die ihm den Sinn des Lebens zurückgibt, wie kann er dann den Wunsch zurückhalten, sie den anderen mitzuteilen.“ (EG, 8)

Mit diesen Worten aus Evangelii Gaudium (EG, 8) lädt uns Papst Franziskus zu einer Vergöttlichung ein, die uns als Gabe Gottes geschenkt wird. Nur in Christus entdecken wir, wozu die menschliche Person fähig, und wie außerordentlich erhaben ihre Berufung ist (vgl. Gaudium et spes, 22). Aus der Begegnung mit Christus entspringt der Wunsch, diese Freude mit anderen zu teilen. (vgl. EG, 3)

Franziskus lädt uns ein"aus der eigenen Bequemlichkeit hinauszugehen und den Mut zu haben, alle Randgebiete zu erreichen, die das Licht des Evangeliums brauchen.“ (EG, 20) Es ist tatsächlich beunruhigend, „dass so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Christus leben“ (EG, 49). Diese Worte kann man tatsächlich als die große Botschaft des apostolischen Schreibens an die Kirche unserer Zeit verstehen.

Der “Aufbruch” zu dem uns der Papst einlädt wird traditionell in der Kirche “Apostolat” oder “Evangelisierung” genannt: ein Tun, das sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass es die Freiheit des andern in höchstem Maße respektiert und damit weit entfernt von einer negativen Konnotation, die man vor allem seit dem 20. Jahrhundert mit dem Wort “Proselytismus” verband.

So schreibt Papst Franziskus (Nr. 14) “Die Kirche wächst nicht durch Proselytismus, sondern durch Anziehung.“ Die Lehre Christi zeichnet sich dadurch aus, dass sie jedwede Haltung, die die Freiheit des anderen außer Acht lässt und die Würde der Person ignoriert, ganz bewusst ausschließt. Gott möchte wirklich geliebt werden, was nur durch eine freiwillige Wahl möglich ist. Jede Berufung ist eine Geschichte der Liebe und einen Begegnung zweier Liebender: ein Anruf seitens Gottes und eine Antwort des Menschen.

Jedwede Form physischen oder moralischen Zwangs ist unvereinbar mit der Würde des Menschen und der Botschaft des Evangeliums. Kardinal Bergoglio hat wiederholt auf Sekten aufmerksam gemacht, die mit Geldversprechen oder anderen Versprechen materieller Art sowie anderen zwielichtigen Mitteln versuchen, Menschen, die im Elend leben, zu gewinnen. Sie bedienen sich der Sehnsucht der Menschen nach Gott, die wir Christen oftmals nicht wahrzunehmen in der Lage waren.

Der Schlüssel zu einem authentisch christlichen Verhalten ist die Liebe. Um das klar zu machen, bedient sich Papst Franziskus der Worte und Gesten des Evangeliums, die das so zum Ausdruck bringen: „Ich lade ein“ (EG, 3, 18, 33, 108), „Ich beharre darauf“ (EG, 3). Er spricht von der „Quelle des überfließenden Herzens“ (EG, 5) und ermuntert „in den Strom der Freude einzutreten“ (EG, 5), der die christliche Gemeinschaft ist. Er ermuntert dazu, nicht unnötige Hürden für den Empfang der Taufe oder der Firmung aufzubauen. Kürzlich hat er in einer Ansprache beim Angelus zu bedenken gegeben, ob nicht Christus evtl. unter denen umhergehe, die gerade in diesem Augenblick auf dem Petersplatz ihm zuhörten.

"Eintreten". Christus mahnte die Schriftgelehrten und Pharisäer „Ihr selbst geht nicht hinein; aber Ihr lasst auch die andern nicht hinein, die hineingehen wollen.“ (Mt 23,13) Eintreten lassen; erlauben, dass man eintritt; einladen, einzutreten. Die Kraft die anzieht, kommt aus „einer Fülle des Lichts“ – so nannte es der Hl. Josefmaria –, die sich in menschlicher Sympathie, Gebet, persönlichem Opfer, Gegenwart Christi in jedem Christen zeigt. „Wahre Liebe ist ein Herausgehen aus sich selbst, ist Hingabe seiner selbst“ (Christus begegnen, 43) Das ist der Sinn des christlichen Apostolates und der ursprüngliche Sinn des Wortes Proselytismus, wie er traditionell in der Kirche verstanden wurde, die es aus dem Hebräischen übernommen hat. Lacordaire benutzte diese lapidare Formulierung: „So wie es keinen Christen ohne Liebe gibt, so gibt es auch keinen Christen ohne Proselytismus.“

Das Apostolat von Mensch zu Mensch verlangt Widmung und seine Kraft ist die des Gebetes, der liebevollen Geduld, des Verständnisses, der Freundschaft und der Liebe zur Freiheit. Man muss von sich selbst weg gehen, um sich des anderen anzunehmen und mit ihm das Schöne und Wirkliche unserer christlichen Berufung zu teilen.

Es geht darum, ein „rücksichtsvolles und liebevolles“ Gespräch zu führen, das in erster Linie „ein persönliches Gespräch ist, in dem der andere Mensch sich ausdrückt und seine Freuden, seine Hoffnungen, die Sorgen um seine Lieben und viele Dinge, von dem sein Herz voll ist, mitteilt.“ (EG, 128) Das „Folge mir“ Christi respektiert die Freiheit der Einzelnen und ist weit davon entfernt zu bedrängen. Das zeigt auf traurige aber beredte Weise das Gespräch mit dem reichen Jüngling. Und wie sieht es heute aus? Franziskus weist darauf hin: „Wenn wir mehr missionarische Dynamik brauchen, die der Erde Salz und Licht bringt, fürchten viele Laien, jemand könne sie einladen, irgendeine apostolische Aufgabe zu erfüllen und versuchen, jeder Verpflichtung auszuweichen, die ihnen ihre Freizeit nehmen könnte.“ (EG, 81)

Das Licht des Evangeliums ist „ein Licht, das anzieht“ (EG, 100), denn es ist das Licht der Liebe, das einlädt, das Gute zu tun (EG, 100-101). Durch die guten Werke eines Christen fühlt man sich zur Verehrung Gottes angespornt (vgl. Mt 5,16). Man entdeckt die unermessliche Liebe Gottes und lobt sie, man nimmt ein göttliches Licht wahr, das nicht bloß menschlich ist. In diesem Sinne ist das Apostolat, der heilige Eifer für die Seelen, Zeugnis geben für das Licht, wie der hl. Johannes es nennt (Joh 1,7). Es ist eine Fülle des Lichts ohne jeglichen Schatten des Zwangs, mit äußerstem Feingefühl. Denn Gott möchte nur lieben und deshalb handelt er mit äußerster Sanftmut, kraftvoll und gütig (vgl. Weish 8,1).

In seiner Botschaft zum 20. Weltgebetstag für Berufungen (2. Februar 1983) sagte Johannes Paul II.: „Wir sollten uns nicht fürchten, jedem jungen oder auch weniger jungen Menschen die Berufung nahezulegen. Es ist ein Akt der Wertschätzung und des Vertrauens. Es kann ein Moment des Lichts und der Gnade sein.“

„Tut nichts aus Ehrgeiz und Prahlerei, sondern in Demut schätze einer den anderen höher ein als sich selbst. Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.“ (Phil 2, 3-4). Der Wunsch, das Wohl des anderen zu suchen, führt uns dazu, mit ihm die Liebe Christi zu teilen und uns die Gefühle des Herrn zu eigen zu machen, die auf die Zukunft der Kirche ausgerichtet sind. Denn sie ist ein Leib ist, an dem wir alle nur Glieder sind. So lässt sich die mögliche Zaghaftigkeit, die von einem Mangel an Glauben und Demut herrühren könnte, mit dem Licht Christi besiegen, das jeder Christ ausstrahlt.

Welches Licht? Benedikt XVI. schloss seine erste Enzyklika mit diesen Worten: Die Liebe „ist das Licht – letztlich das einzige –, das eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben und zum Handeln gibt. Die Liebe ist möglich, und wir können sie tun, weil wir nach Gottes Bild geschaffen sind. Die Liebe zu verwirklichen und damit das Licht Gottes in die Welt einzulassen“ (Benedikt XVI., Deus caritas est, 39).

Diesen Gedanken fortführend schreibt Franziskus in seiner ersten Enzyklika: „Der Strom der Liebe zwischen Vater und Sohn im Geist hat unsere Geschichte durchlaufen; Christus zieht uns zu sich, um uns retten zu können (vgl. Joh 12,32)“ (Lumen fidei, 59).

Im Gegensatz zu einem falsch verstanden Proselytismus, der die Person nicht respektiert, steht ein Apostolat, das auf Anziehung gründet. Dieses Apostolat beruht auf einer feinfühligen Widmung – darauf legt der Papst besonderen Wert –, die Zeugnis davon gibt, sich der Freiheit und Würde der Person voll bewusst zu sein. Sie bewirkt, dass das Herz des Christen an der göttlichen und menschlichen Liebe Jesu Maß nimmt und so zu einem Herzen wird, das die Freude des Evangeliums nicht für sich behalten kann und sich vielmehr gedrängt fühlt, sie anderen mitzuteilen.

+Javier Echevarría

Prälat des Opus Dei