Drei Bilder von Tod und Leben

Eine Betrachtung auf dem Weg an die große Schwelle von Josef Arquer

Auch die Samen fallen...

Wenn im November die Blätter den Schoß der Erde suchen und die Natur in sich zurückkehrt, besuchen wir unsere Friedhöfe. Besuchen wir nur unsere Erinnerungen? Verbeugen wir uns vor einem subjektiven Bedürfnis, uns selbst zu bezeugen, dass wir die Gewesenen ehren, die nicht mehr sind? Der Tod - vor allem der Tod eines geliebten Menschen - enthüllt uns, wie brüchig und flüchtig alles Irdische ist. Wir empfinden als Menschen. Wir sind also keine fallenden Blätter, die die Erde in Fäulnis verwandelt.

Das Bild vom Sterben der Natur ist ein dichterisch gewaltiges, aber missverständliches Bild. Denn auch die Samen fallen. Und sie sind Keime des Lebens: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24). Das Bild des Vergehens wird zum Bild des Lebens - und der Vorgang in der Vegetation zur Chiffre eines Geheimnisses im Menschen.

Vielleicht staunen wir, uns als Dichter zu erfahren, wenn wir die rhythmische, gleichmäßige Wiederkehr von Vergehen und Neuwerden in der Natur auf uns beziehen. Mag das menschliche Sterben auch so natürlich sein wie das Fallen der Blätter - für uns ist es eine Herausforderung und keine Selbstverständlichkeit. Wir erfahren den Tod eines geliebten Menschen als einen Bruch, einen Einschnitt. Augustinus ruft sich in den "Bekenntnissen" das unerwartete Sterben seines besten Freundes in Erinnerung: "Ich selber war mir zur großen Frage geworden". Die Fragen, die uns bedrängen, betreffen nicht allein das Schicksal der Toten, sondern auch das Schicksal der Lebenden und besonders das Los derer, die uns nahe stehen. Am eigenen Schmerz Maß nehmend, denken wir an deren künftigen Schmerz. Der Dichter Reiner Kunze ahnt es leise und zart, wenn er auf dem Heimweg von einem Begräbnis an seine Frau denkt, die auf ihn zuhause wartet: "Stirb früher als ich, um ein weniges früher/ Damit nicht du/ den weg zum haus /allein zurückgehen musst."

Nackter Baum, tragendes Geäst

Den Bildern der fallenden Blätter und der fallenden Samen gesellt sich noch ein drittes Bild zu: die elementare Nacktheit der Natur. Nachdem das Spiel der feurigen und goldenen Farben ausgespielt ist, wird der mächtige Baum gleichsam durchsichtig. Das Geäst, das Farbe und Schönheit getragen hat, wird sichtbar und enthüllt Strukturen, die zum Nachdenken auffordern. Ein nackter Baum kann in seiner strengen Feierlichkeit zum hilfreichen Gleichnis werden. Fallende Blätter, fallende Samen, tragendes Geäst: Sobald ein Mensch die Natur zweckfrei betrachtet, erkennt er sich als Dichter. Der Dichter bearbeitet den Boden, auf welchem der Glaubende baut.

Die drei Bilder sind nur dunkle Zeichen, Ahnungen weckend. Im Licht des Glaubens werden sie hell. Der Glaubende weiß, dass Gott sich auf doppelter Weise offenbart: schemenhaft durch seine Werke, offen durch sein Wort. Das Evangelium ist frohe Botschaft, ausgereifte Form, Erfüllung, denn es verkündet Tod und Auferstehung, in Christus unlösbar verbunden. Der Glaubende antwortet darauf und erkennt, dass der Dichter keine Fiktion schafft, wenn er mit seinen Bildern einen letzten Grund unserer urmenschlichen Sehnsüchte erahnt. Wer glaubt, nennt diesen Grund: die Liebe des Schöpfers, der uns bei sich haben will.

Ein gläubiger Mensch - jeder ein Dichter - weiß von einem Leben bei Gott, von einer Vollendung des Samens, von einer verborgenen tragenden Struktur, aus Natur und Gnade. Seine Hoffnung überragt schon jetzt alle Bilder.

Ausklang am Gedenktag Allerseelen

Was wäre der Friedhofsbesuch unter fallenden Blättern ohne den Glauben an die Auferstehung? Allenfalls ein edler und melancholischer Versuch, die „Gewesenen zu ehren, die nicht mehr sind“. Doch im Licht des Glaubens wird der Besuch am Grab zur Ehrung der Verstorbenen und zum Dank für alles, was sie uns zu ihren Lebzeiten gegeben haben.

Am 19. November 1980, dem letzten Tag seines ersten Besuchen in Deutschland, hielt Papst Johannes Paul II im Liebfrauendom zu München eine Ansprache an die dort versammelten alten Menschen: „Die große Schule des Lebens und Sterbens führt uns an manches offene Grab, sie lässt uns an manchem Sterbebett stehen, bevor wir selbst es sind, um die - so gebe es Gott - andere betend stehen werden. (...) Wir sind auf dem Weg an die große Schwelle, die wir uns oft einseitig als Abgrund und Nacht ausmalen. Der Blick über die Schwelle ist von unserer Seite aus getrübt; aber jenen, die uns vorangegangen sind, mag es Gott viel öfter, als man meint, gewähren, in Seiner Liebe unser Leben zu begleiten und zu umsorgen.“