Kaum hat der Moderator einführend als Garant der kulturellen Identität Europas dessen "christliche Seele" beschworen, ohne die Europa zum "seelenlosen Konstrukt" verkomme, unterbricht ihn der Gesprächsgast mit der Bemerkung, es sei ihm lieber, ein Gespräch über die christlichen Wurzeln Europas zu führen. Denn ob Europa eine Seele habe oder nötig habe, sei ihm selbst höchst ungewiss. Afrika etwa habe offenbar keine Seele, jedenfalls spreche niemand davon, ebensowenig wie von der Seele Asiens oder Amerikas. "Christliches oder postchristliches Europa?" war das Thema des Abends mit Nikolaus Lobkowicz am 16. März 2010 im Münchner Bildungszentrum Weidenau.
Nicht zu einem akademischen Vortrag des Professors für Philosophie und politische Wissenschaften war geladen. Angesagt war vielmehr ein offener Gedankenaustausch mit dem erfahrungsreichen Internationalisten mit euro-amerikanischer Biografie und ehemaligen Universitätspräsidenten zuerst in München, dann in Eichstätt, und nach wie vor Leiter des Zentralinstituts für mittel- und osteuropäische Studien ZIMOS. Offenes Gespräch also – neudeutsch: interaktiv. Das belebte die Aufmerksamkeit der rund 60 Teilnehmer.
Ob christliche Seele ja oder nein, Tatsache sei, so Lobkowicz, dass das Christentum in Europa groß geworden und von Europa in die ganze Welt getragen worden ist. So gesehen, könne sich das Christentum nunmehr auch ohne Europa weiter entfalten. Süd- und Nordamerika stellten sich heute sichtbarer und selbstverständlicher christlich dar als Europa. In bestimmten Regionen Europas wie in Tschechien und im Osten Deutschlands sei von Christentum besonders wenig zu spüren.
Europäische Tatsache seien auch massive Kräfte, die dem Christentum feindselig begegnen. Reichlich Spielraum biete ihnen die aktuell kaum übersehbare Entchristlichung des öffentlichen Lebens auch aus ganz banalen, z.B. hedonistischen Antrieben. Jüngste Beispiele lieferten Übertreibungen in der medialen und politischen Kirchenkritik (Stichwörter Missbrauch Minderjähriger, Casus Williamson und Pius-Bruderschaft). Aversionen gegen christliche Herausforderungen habe es zwar immer gegeben.
Hinzu kämen in Europa aber auch tiefere historische Gründe. Die Absage der Europäischen Union an ein Bekenntnis zu den christlichen Wurzeln liege ursächlich in der Festlegung Frankreichs auf die Laicité 1905, die andererseits heute niemandes Ausübung der Religion im Wege stehe. Laicité sei Folge historischer Abwehr eines jahrhundertelangen Bündnisses von Thron und Altar, dieses wiederum ein Ergebnis im Ringen um die Legitimation der Macht, nämlich "von Gottes Gnaden". Aus der Perspektive der Legitimation der Macht allein aus der Volkssouveränität, sei rückblickend dann das alte Bündnis von Thron und Altar als "Bekehrungsmaschine Europas" denunziert worden.
Auch die Kirche habe sich mit der Einsicht schwer getan, auf den staatlichen Arm zu verzichten, weil sie seiner gar nicht bedürfe, ehe sie den Wechsel zu einem neuen Verhältnis zum Staat konsequent vollzogen habe – endgültig im II. Vatikanischen Konzil. Schon 1835 habe Tocqueville seine Überraschung geäußert über das in Amerika trotz Staatsferne blühende religiöse Leben und die Schlussfolgerung gewagt, offenbar habe die in Europa tradierte Thron-Altar-Liaison der Religion mehr geschadet als gedient.
Auf den Unterschied zwischen öffentlich-gesellschaftlichem Erscheinungsbild und tatsächlich kulturell-christlicher Grundfärbung Europas angesprochen kamen – wiederum historische –Beispiele wieder aufblühenden kirchlichen Lebens nach Phasen erschreckenden Niedergangs zur Sprache – so im Frankreich des 19. Jahrhunderts und in Deutschland, ja Europa überhaupt, nach dem II. Weltkrieg. Konrad Adenauer, so Lobkowicz, habe ganz ungeniert von "christlich-abendländischer Kultur" gesprochen, wozu gegenwärtig gewiss kein Politiker mehr bereit sei. Aus der Nachkriegszeit seien Zitate in diese Richtung von Theodor Heuss, Robert Schuman und vielen anderen überliefert.
Einer Prognose für die Zukunft wich Lobkowicz lieber aus. Vorstellbar sei allerhand: das Verschwinden nicht nur der Volkskirche, wie es schon Kardinal Ratzinger angedeutet hatte, sondern des sichtbaren Christentums überhaupt, wovon die Apokalypse als Werk des Antichristen spreche. Auch regelrechte Christenverfolgungen seien nicht auszuschließen. Ebensowenig allerdings auch Besinnung zur Umkehr und, wie schon so oft, neu erblühende christlich geprägte Kultur.
"Was ist zu tun?", lautete eine weitere Fragerunde, mit der ein – wie der Akzent verriet – junger Ausländer auffiel. Er meinte gelassen: Wenn jeder Christ, angefangen mit den Anwesenden, sein eigenes Leben auf Christus ausrichte, also seinen Glauben ernst nehme und ihn in der Familie, unter Freunden und Kollegen weitergebe, ihn, soweit ihm möglich, auch öffentlich sichtbar mache – das sei ja auch eine zentrale Botschaft des II. Vatikanischen Konzils –, dann blieben alle polit-soziologischen Erwägungen zwar vielleicht auch weiterhin noch interessant, aber kein Anlass mehr zu Besorgnis und Klage. Der junge Mann erhielt Applaus.