15. Kirche und Staat

Die von Christus vollzogene Erlösung und damit der Sendungsauftrag der Kirche richtet sich an den Menschen in seiner Ganzheit und folglich als Person in der Gesellschaft.

1. Der Sendungsauftrag der Kirche in der Welt

Die von Christus vollzogene Erlösung und damit der Sendungsauftrag der Kirche richtet sich an den Menschen in seiner Ganzheit. Wenn daher die Kirche eine Soziallehre vorlegt, entfernt sie sich nicht von ihrem Auftrag, sondern erfüllt ihn treu. Sie würde nicht authentisch evangelisieren, wenn sie nicht sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene die Beziehung zwischen Evangelium und persönlichem Verhalten im Blick hätte. Außerdem existiert die Kirche in der Welt, und es ist logisch, ja notwendig, dass sie mit dieser in eine harmonische Beziehung tritt und die Strukturen und die Natur der verschiedenen menschlichen Organisationen respektiert.

Die Kirche besitzt also den Auftrag, der auch ein Recht ist, sich der Probleme der Gesellschaft anzunehmen. Wenn sie dies tut, „darf sie nicht angeklagt werden, den besonderen Bereich ihrer Kompetenz und erst recht ihre vom Herrn empfangene Sendung überschritten zu haben“ [i].

Die Sendung der Kirche in diesem Bereich beschränkt sich nicht darauf, ethische Normen vorzulegen. Es handelt sich um etwas Grundlegenderes, nämlich die evangelische Dimension des gesellschaftlichen Lebens gemäß der ganzen Wahrheit über den Menschen aufzuzeigen, das dieser Wahrheit entsprechende Verhalten zu lehren und zu seiner Erfüllung zu ermahnen.

In der Tat besteht zwischen dem christlichen Leben und der umfassenden Förderung des Menschen eine tiefgreifende wesentliche Einheit: eine anthropologische Verbindung, ein theologisches Band und eine Liebespflicht [ii]. Diese Harmonie bedeutet jedoch keine Vermischung: Das Ziel christlichen Verhaltens ist die Einswerdung mit Christus; die von ihm kommende Befreiung ist wesentlich Befreiung von der Sünde; und deshalb ist ohne Zweifel Einsatz für die Befreiung in konkreten Bereichen gefordert [iii]. Diese Unterscheidung ist Grundlage der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten.

Die Aussagen des Lehramts auf diesem Gebiet erstrecken sich daher nicht auf technische Aspekte, sie legen keine Organisationsschemata der Gesellschaft vor – das gehört nicht zum Sendungsauftrag der Kirche. Die lehramtlichen Aussagen haben nur das Ziel, die Gewissen zu bilden; sie schränken die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten nicht ein [iv].

Daraus ergibt sich, dass der Hierarchie keine direkte Funktion bei der Organisation der Gesellschaft zukommt. Ihr Auftrag ist es, die authentischen Moralprinzipien in diesem Bereich zu lehren und zu interpretieren. Daher akzeptiert die Kirche jedes Gesellschaftssystem, in dem die Würde des Menschen geachtet wird. Die Gläubigen müssen dem „sozialen Lehramt“ mit ihrem Verstand, ihrem Willen und ihren Werken zustimmen (vgl. Lk 10,16; KKK, 2032 u. 2037).

2. Die Beziehung zwischen Kirche und Staat

Religion und Politik sind verschiedene, aber nicht getrennte Bereiche, da der religiöse Mensch und der Staatsbürger eine und dieselbe Person sind. Die Person ist berufen, sowohl ihre religiösen als auch ihre gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Pflichten zu erfüllen. Es ist jedoch notwendig, dass „die Gläubigen genau zu unterscheiden lernen zwischen den Rechten und Pflichten, die sie haben, insofern sie zur Kirche gehören, und denen, die sie als Glieder der menschlichen Gesellschaft haben. Beide sollen sie harmonisch miteinander zu verbinden suchen und daran denken, dass sie sich auch in jeder zeitlichen Angelegenheit vom christlichen Gewissen führen lassen müssen; keine menschliche Tätigkeit, auch in weltlichen Dingen nicht, lässt sich ja der Herrschaft Gottes entziehen. Heutzutage ist es aber besonders wichtig, dass diese Unterscheidung und Harmonie zugleich möglichst klar im Handeln der Gläubigen aufleuchten“ [v]. In diesen Worten ist ausgedrückt, wie die Katholiken das Herrenwort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21) befolgen sollen.

Die Beziehung zwischen Kirche und Staat impliziert also eine Unterscheidung ohne Trennung, eine Verbindung ohne Vermischungen. Die Beziehung wird richtig und fruchtbar sein, wenn drei Grundprinzipien beachtet werden: Anerkennung einer ethischen Sphäre, die der politischen Sphäre vorausgeht und ihr zugrunde liegt; Verschiedenheit der Aufgaben von Religion und Politik; Förderung des Zusammenwirkens der zwei Bereiche.

a) Die moralischen Werte müssen die Grundlage des politischen Lebens bilden

Das Projekt eines „ethischen Staates“, der das moralische Verhalten der Staatsbürger zu regeln beansprucht, wird weitgehend abgelehnt, da ein solcher Staat zum Totalitarismus tendiert oder zumindest eine markant autoritäre Tendenz aufweist. Aufgabe des Staates ist nicht zu entscheiden, was gut und was böse ist; er hat hingegen die Pflicht, das Gemeinwohl zu suchen und zu fördern, weshalb er bisweilen auch das Verhalten der Bürger regeln muss.

Die Ablehnung des „ethischen Staates“ darf jedoch nicht zum entgegengesetzen Irrtum seiner moralischen „Neutralität“ führen, die weder real noch als Möglichkeit existiert. Die moralischen Werte zeigen auf, was der ganzheitlichen Entwicklung der Personen förderlich ist; diese Entwicklung ist in ihrer sozialen Dimension Teil des irdischen Gemeinwohls; und die Hauptverantwortung für dieses Gemeinwohl liegt beim Staat. Somit hat der Staat auch die Pflicht, das sittliche Verhalten der Menschen zu fördern, zumindest in seiner gesellschaftlichen Dimension.

b) Kirche und Staat unterscheiden sich nach ihrem Wesen und ihren Zielen

Die Kirche hat von Christus den Auftrag zum Apostolat erhalten: „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (Mt 28,19-20). Mit ihrer Lehre und ihrer apostolischen Tätigkeit trägt die Kirche zur rechten Orientierung der zeitlichen Wirklichkeiten bei, damit diese dem Menschen zur Erreichung seines letzten Ziels dienlich sind und ihn nicht davon ablenken.

Um ihre Sendung zu erfüllen, setzt die Kirche vor allem geistliche Mittel ein: die Verkün­digung des Evangeliums, die Spendung der Sakramente, das Gebet. Darüber hinaus muss sie mate­rielle Mittel in Anspruch nehmen, wie es der Natur ihrer Mitglieder, die Menschen sind, ent­spricht (vgl. Apg 4,32-37; 1 Tim 5,18). Diese Mittel müssen immer im Einklang mit dem Evangelium stehen. Die Kirche muss außerdem unabhängig sein, um ihre Sendung in der Welt zu verwirklichen; sie beansprucht aber keine Vorherrschaft in politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht (vgl. KKK, 2246; Kompendium der Soziallehre der Kirche, 426) [vi].

Der Staat ist eine Einrichtung, die aus der natürlichen Gesellschaftsbezogenheit des Menschen folgt, und hat das zeitliche Gemeinwohl der bürgerli­chen Gesellschaft zum Ziel. Dieses Wohl ist nicht nur materieller, sondern auch geistiger Natur, da die Mitglieder der Gesellschaft Menschen mit Leib und Seele sind. Zum sozialen Fortschritt sind außer materiellen Mitteln viele Güter geistiger Art erforderlich: Frie­den, Ordnung, Gerechtigkeit, Freiheit, Sicherheit usw. Diese Güter kann es nur geben, wenn die sozia­len Tugenden gelebt werden, die der Staat daher fördern und schützen muss (z. B. die öffentliche Moral).

Aus der Verschiedenheit des religiösen und des politischen Bereichs folgt, dass der Staat nicht „sakral“ ist und keine Herrschaft über die Gewissen beanspruchen darf, da die Politik ihr moralisches Fundament nicht in sich selbst hat. Die Kirche wiederum hat keine politische Durchsetzungsgewalt. Insofern die Zugehörigkeit zu ihr, vom bürgerlichen Standpunkt her betrachtet, freiwillig ist, ist ihre Gewalt geistiger Natur, und für sie gibt es nicht nur eine einzige politische Lösung. So erfüllen Staat und Kirche ihre je eigene Funktion, und das fördert die religiöse und die bürgerliche Freiheit.

Hieraus folgen zwei wichtige Rechte: (a) das Recht auf Religionsfreiheit; es besteht in der Freiheit des Individuums von jedem Zwang seitens des Staates in religiösen Angelegenheiten; (b) das Recht auf Handlungsfreiheit der Katholiken gegenüber der Hierarchie in zeitlichen Dingen, bei gleichzeitiger Verpflichtung, dem Lehramt zu folgen (vgl. CIC, 227). Indem die Kirche „die Wahrheit des Evangeliums verkündet und alle Bereiche menschlichen Handelns durch ihre Lehre und das Zeugnis der Christen erhellt, achtet und fördert sie auch die politische Freiheit der Bürger und ihre Verantwortlichkeit“ [vii].

c) Das Zusammenwirken von Kirche und Staat

Die Unterschiedenheit von Kirche und Staat bedeutet, wie bereits gesagt, nicht ihre vollkommene Trennung, noch besagt sie, dass die Kirche ihr Wirken auf den privaten und geistlichen Bereich zu beschränken hat. Gewiss „kann und darf sich die Kirche nicht an die Stelle des Staates setzen. Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben“ [viii]. In diesem Sinn hat sie das Recht und die Pflicht, „ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen“ [ix].

So hat die Kirche z. B. das Recht und die Pflicht, darauf hinzuweisen, dass ein Gesetz ungerecht ist, weil es dem natürlichen Sittengesetz widerspricht (etwa bei Abtreibung oder Scheidung); oder dass bestimmte Sitten oder Verhaltensweisen unmoralisch sind, auch wenn die staatliche Autorität sie nicht verbietet; oder dass Katholiken Personen oder Parteien nicht unterstützen dürfen, deren Ziele dem Gesetz Gottes und daher der Würde der Person und dem Gemeinwohl widersprechen [x].

Sowohl die Kirche als auch die Politik – die von den Regierenden in den verschiedenen Institutionen bzw. von den Parteien ausgeübt wird – stehen, wenngleich auf verschiedenen Ebenen, im Dienste des Menschen, und „diesen Dienst können beide zum Wohl aller um so wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen“ [xi]. Wenn die politische Gemeinschaft (verstanden als die Gesellschaft als Ganzes: Regierende und Regierte eines bestimmten Staates) die Kirche ignoriert, gerät sie mit sich in Widerspruch, denn sie behindert die Rechte und Pflichten eines Teils der Staatsbürger, konkret der katholischen Gläubigen.

Die praktische Ordnung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat kann je nach den Umständen verschieden sein; sie gestaltet sich etwa anders in Ländern langer katholischer Tradition als dort, wo die Katholiken in der Minderheit sind.

Ein wesentlicher Punkt, der immer beachtet werden muss, ist die Sicherung des Rechts auf Religionsfrei­heit [xii]. Dieses Recht zu wahren bedeutet, die Gesellschaftsordnung insgesamt zu schützen. Das Recht auf gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit auf religiösem Gebiet ist die Quelle und Synthese aller Menschenrechte [xiii].

In vielen Ländern garantiert die Verfassung (also die Grundgesetze, die das Regierungssystem eines Staates regeln) weitgehend die Religionsfreiheit aller Bürger und religiö­ser Gruppen. Dadurch findet auch die Kirche genügend Freiheit, um ihre Sendung zu erfül­len, und hat Raum, um ihre apostolischen Initiativen zu entwickeln [xiv].

Außerdem sucht die Kirche soweit möglich, mit dem Staat Verträge zu schließen (die sogenann­ten Konkordate), in denen konkrete Lösungen für die Fragen vereinbart werden, für die so­wohl die Kirche als auch der Staat zuständig sind: Freiheit der Kirche und ihrer Einrichtungen für die Erfüllung ihrer Sendung, Übereinkommen in wirtschaftlichen Fragen, Fei­ertage usw.

3. Die „quaestiones mixtae“

Es gibt Materien, in denen sowohl die Kirche als auch der Staat aufgrund ihrer jeweiligen Kompetenz und Zielsetzung intervenieren (sogenannte quaestiones mixtae), wie Schulwesen, Ehe, Massenmedien, Fürsorge für Bedürftige [xv]. In diesen Bereichen ist die Zusammenarbeit besonders notwendig, damit beide Seiten ihren Auftrag ohne Behinderung durch die jeweils andere erfüllen können [xvi].

a) Die Regelung der Eheschließung von Katholiken steht der Kirche zu, auch wenn nur einer der Ver­tragspartner katholisch ist; dies auch deswegen, weil die Ehe ein Sakrament ist und es der Kirche zukommt, die Normen für dessen Spendung festzulegen. Sache des Staates ist es, die bürgerlichen Wirkungen der Ehe wie etwa das Ehegüterrecht zu regeln (vgl. CIC, can. 1059). Der Staat ist verpflichtet, das Recht der Katholiken auf kirchliche Eheschließung anzuerkennen.

b) Kraft Naturrecht kommt den Eltern das Recht und die Pflicht zu, ihre Kinder ‒ auch auf religiö­sem Gebiet ‒ zu erziehen. Sie bestimmen, welche Bildung sie für ihre Kinder wünschen, und wählen die Mittel, die sie zu diesem Zweck heranziehen wollen (Schule, Katechese usw.) [xvii]. Wo ausreichende Initiativen von Eltern oder Bevölkerungsgruppen fehlen, kann der Staat subsidiär eigene Schulen errichten, wobei er immer das Recht der Eltern auf die Ausrichtung der Erziehung ihrer Kinder zu respektieren hat.

Dieses Recht schließt ein, dass Eltern Schulen errichten und leiten können, in denen ihre Kinder eine adäquate Bildung erhalten. Da diese Schulen eine gesellschaftliche Funktion erfüllen, hat der Staat sie anzuerkennen und zu subventionieren [xviii]. Er hat auch dafür zu sorgen, dass die Kinder in den Schulen – seien sie staatlich oder privat – eine Bildung erhalten, die mit den religiösen Überzeugungen der Eltern in Einklang steht [xix].

Es fällt in die Zuständigkeit des Staates, die für das Gemeinwohl notwendigen Unterrichtsdirektiven festzulegen (Schulstufen, Abschlüsse, Zugang aller zum Unterricht, Mindestinhalte für Abschlussprüfungen, Anerkennung von Titeln usw.). Es wäre Tyrannei, wenn der Staat das Monopol des Unterrichts an sich zieht, auch wenn dies nur indirekt geschieht (vgl. CIC, 797).

Der Kirche steht immer das Recht zu, alles zu regeln und zu überwachen, was sich auf Unterricht und Verbreitung des katholischen Glaubens bezieht: Lehrpläne, Inhalte, Bücher, Eig­nung der Lehrer. Es gehört zur Lehrgewalt der Hierarchie und ist Recht der Kirche, ihre eigene Identität zu verteidigen und die Integrität ihrer Lehre zu gewährleisten. Niemand darf als katholischer Lehrer auftreten (auf welcher Schulstufe immer), der nicht durch die kirchliche Autorität beauftragt ist (vgl. CIC, 804-805).

Die Kirche hat auch das Recht, ihre eigenen (offiziell katholischen) Schulen und Bildungszentren zu errichten. Sie sind vom Staat anzuerkennen und zu denselben Bedingungen wie die übrigen nicht-staatlichen Schulen finanziell zu unterstützen, ohne dass sie deswegen ihre Ausrichtung oder ihre Abhängig­keit von der kirchlichen Autorität preiszugeben hätten (vgl. CIC, 800).

c) Die Kirche hat auch das Recht, soziale und karitative Einrichtungen zu gründen, die mit ihrer religiösen Sendung in Einklang stehen (Spitäler, Massenmedien, Waisenhäuser, Heime für Bedürftige). Der Staat muss diese „katholischen“ Einrichtungen zu den gleichen Bedingungen anerkennen wie die übrigen Initiativen dieser Art, die von Privatpersonen ins Leben gerufen werden (Steuerbefreiungen, Anerkennung der Qualifikation des Personals, Subventionen, Mitarbeit von Freiwilligen; Möglich­keit, Spenden zu sammeln usw.).

4. Laizität und Laizismus

Die Unterscheidung von Laizität und Laizismus ist höchst aktuell. Unter Laizität versteht man die Autonomie des Staates gegenüber den kirchlichen Gesetzen. Der Laizismus hingegen beansprucht eine Autonomie der Politik gegenüber der sittlichen Ordnung und dem Plan Gottes überhaupt; er möchte die Religion der bloßen Privatsphäre zuordnen. Dadurch tritt er das Recht auf Religionsfreiheit mit Füßen und beeinträchtigt die gesellschaftliche Ordnung (vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 572). Eine recht verstandene Laizität (oder Laikalität) vermeidet zwei Extreme: einerseits die Verordnung einer Moraltheorie, die aus der Gesellschaft einen „ethischen Staat“ macht [xx], und andererseits die A-priori-Ablehnung von moralischen Werten, die in kulturellen und religiösen Überzeugungen wurzeln, denen man frei zustimmen kann und die nicht von der politischen Macht vorgeschrieben werden dürfen [xxi].

Außerdem muss betont werden, dass es illusorisch und ungerecht ist, von den Gläubigen zu verlangen, dass sie im politischen Bereich so handeln, „als ob Gott nicht existiert“. Es ist illusorisch, weil alle Menschen auf der Grundlage ihrer kulturellen (religiösen, philosophischen, politischen usw.) Überzeugungen handeln, ob diese nun im Glauben wurzeln oder nicht, und weil diese Überzeugungen das gesellschaftliche Verhalten der Staatsbürger prägen. Es ist ungerecht, weil die Nichtkatholiken ihre eigenen Auffassungen, woher immer diese stammen, sehr wohl ins Spiel bringen.

Politisches Handeln im Einklang mit dem eigenen Glauben, sofern es der Würde der Menschen nicht widerspricht, bedeutet keineswegs, dass die Politik der Religion unterworfen wird; es bedeutet vielmehr, dass Politik im Dienste der Person steht und sich den Forderungen der Moral verpflichtet weiß, dass sie also mit anderen Worten die Würde jedes menschlichen Wesens achtet und fördert. Politisches Engagement aufgrund eines transzendenten Motivs entspricht außerdem voll der Natur des Menschen; es stimuliert dieses Engagement und führt zu besseren Ergebnissen.

5. Pluralismus der Katholiken im gesellschaftlichen Bereich

Das Gesagte lässt sich zusammenfassen im Begriff des legitimen Pluralismus der Katholiken im öffentlichen Leben. In der Tat können dieselben nützlichen Ziele auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Eine Vielfalt von Optionen und Prozeduren im Hinblick auf ge­sellschaftliche Anliegen entspricht also durchaus der Vernunft. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Anhänger einer Lösung diese auf legitime Weise zu verwirklichen suchen, wobei freilich keine Option die Garantie bietet, die einzige zielführende Alternative zu sein – auch weil es in der Politik großteils um Futuribilia geht und Politik „die Kunst des Möglichen“ ist. Noch weniger kann behauptet werden, dass eine bestimmte Option die einzige ist, die der Lehre der Kirche entspricht [xxii]: „In solchen Fällen hat niemand das Recht, die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen“ [xxiii].

Alle Gläubigen, besonders aber die Laien, haben ein Recht darauf, dass ihre legitime Freiheit, in zeitlichen Angelegenheiten nach ihren eigenen Überzeugungen und Vorlieben zu handeln, in der Kirche anerkannt wird, solange diese im Einklang mit der katholischen Glaubenslehre stehen. Und sie haben die Pflicht, sich bei ihren persönlichen Entscheidungen und ihrem gesellschaftlichen und öffentlichen Wirken nicht auf die Kirche zu berufen, geschweige denn ihre Lösungen als katholische Lö­sungen zu präsentieren [xxiv].

Der Pluralismus ist nicht ein geringeres Übel, sondern – wie die Freiheit – ein positives Element des bürgerlichen und religiösen Lebens. Es ist besser, in zeitlichen Dingen Vielfalt zu akzeptieren, als durch Uniformierung von Optionen auf Kosten der persönlichen Freiheit vermeintlich höhere Wirksamkeit zu erzielen. Pluralismus darf jedoch nicht mit ethischem Relativismus verwechselt wer­den [xxv]. Im Gegenteil: recht verstandener Pluralismus verlangt eine Reihe von Werten als Fundament der gesellschaftlichen Beziehungen.

Pluralismus ist moralisch zulässig, solange es um Entscheidungen über das eigene und gesellschaftliche Wohl geht; er ist nicht legitim, wenn eine Entscheidung dem natürlichen Sittengesetz, der öffentlichen Ordnung und den Grundrechten der Person zuwiderläuft (vgl. KKK, 1901). Abgesehen von diesen außergewöhnlichen Fällen soll der Pluralismus in zeitlichen Fragen als ein Gut für das persönliche, gesellschaftliche und kirchliche Leben gefördert werden.

Enrique Colom

Grundlegende Literatur

  • Katechismus der Katholischen Kirche [KKK], 2104-2109; 2244-2246; 2419-2425.
  • II. Vat. Konzil, Konst. Gaudium et spes, 74-76; Erklärung Dignitatis humanae, 1-8; 13-14.
  • Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Christifideles laici, 30.12.1988, 36-44.

Empfohlene Literatur

  • Hl. Josefmaria, Homilie Die Welt leidenschaftlich lieben, in Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 113-123.
  • Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, 24.11.2002.
  • Kompendium der Soziallehre der Kirche, 49-55; 60-71; 189-191; 238-243; 377-427.

iJohannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 30.12.1987, 8. Vgl. Paul VI., Apost. Schr. Evangelii nuntiandi, 8.12.1975, 29 u.30; Johannes Paul II., Ansprache in Puebla(28.1.1979), III; Enz. Redemptor hominis, 4.3.1979, 15; Kompendium der Soziallehre der Kirche, 64 u. 71.

iiVgl. Paul VI., Apost. Schr. Evangelii nuntiandi, 31. Die Einheit von Menschlichem und Göttlichem gehört zum innersten Wesen des Opus Dei. Der Gründer sagte, dass das ganze Leben der Gläubigen des Werkes „ein Dienst mit ausschließlich übernatürlichem Ziel ist, weil das Opus Dei weder gegenwärtig noch künftig ein zeitliches Instrument ist oder sein kann; zugleich aber ist dies auch ein menschlicher Dienst, denn ihr tut nichts anderes als in der Welt aufrichtig nach der christlichen Vollkommenheit zu streben, auf saubere Weise, mit eurer völlig freien und verantwortlichen Tätigkeit in allen Bereichen der bürgerlichen Gesellschaft. Ein Dienst voll Selbstverleugnung, der nicht erniedrigt, sondern erzieht, der das Herz groß macht – es im besten Sinn des Wortes adelt – und dazu führt, die Ehre und das Wohl der Menschen jedes Landes zu suchen. So wird es immer weniger Arme geben, weniger Unwissende, weniger Seelen ohne Glauben, weniger Verzweifelte, weniger Kriege, weniger Unsicherheit, mehr Liebe und mehr Frieden“ (Hl. Josefmaria, Brief 31.5.1943, Nr. 1, in P. Rodríguez, F. Ocáriz, J.L. Illanes, Das Opus Dei in der Kirche, Paderborn 1997, S.141).

iiiVgl. Paul VI., Apost. Schr. Evangelii nuntiandi, 9, 33-35: Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Libertatis conscientia, 23.3.1986, 23.

ivBei der Erwähnung der Werte, die die Entfaltung der Menschenwürde begünstigen, heißt es im Kompendium der Soziallehre der Kirche: „Der Respekt vor der rechtmäßigen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten veranlasst die Kirche dazu, sich keine spezifischen technischen und weltlichen Kompetenzen vorzubehalten, aber er hindert sie nicht daran, einzugreifen und deutlich zu machen, wie diese Werte in den verschiedenen Entscheidungen des Menschen bestätigt oder missachtet werden“ (Nr. 197). Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Konst. Gaudium et spes, 36 u. 42; Paul VI., Enz. Populorum progressio, 26.3.1967, 13; Johannes Paul II., Enz. Sollicitudo rei socialis, 41; Kompendium der Soziallehre der Kirche, 68 und 81.

vII. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 36. Vgl. KKK, 912.

viVgl. II. Vat. Konzil, Konst. Gaudium et spes, 76; Erklärung Dignitatis humanae, 13.

viiII. Vat. Konzil, Konst. Gaudium et spes, 76.

viiiBenedikt XVI., Enz. Deus caritas est, 25.12.2005, 28. Vgl. Benedikt XVI., Ansprache in Verona, 19.10.2006.

ixII. Vat. Konzil, Konst. Gaudium et spes, 76.

xVgl. ebd., 40 u. 41.

xiEbd., 76. Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 425.

xiiDieses Recht besteht nicht darin, dass der Mensch vor Gott die Freiheit zur Wahl einer beliebigen Religion hat, denn es gibt nur eine wahre Religion, und der Mensch ist verpflichtet, die Wahrheit zu suchen und, nachdem er sie gefunden hat, ihr anzuhangen (vgl. II. Vat. Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, 1). Das Recht auf Religionsfreiheit besteht vielmehr „darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen ‒ innerhalb der gebührenden Grenzen ‒ nach seinem Gewissen zu handeln“ (II. Vat. Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, 2).

„Die Respektierung des Rechts auf religiöse Freiheit seitens des Staates ist ein Zeichen der Respektierung der übrigen fundamentalen Menschenrechte, denn sie impliziert die Anerkennung des Bestehens einer Ordnung, die die politische Dimension der Existenz übersteigt, einer Ordnung aus der Sphäre des freien Anhangens an eine Gemeinschaft des Heils, die dem Staat vorausliegt“ (Johannes Paul II., Ansprache an das beim Hl. Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps, 9.1.1989, 6). Die „Gemeinschaft des Heils“ liegt insofern „dem Staat voraus“, als die Person sich ihr eingliedert im Hinblick auf ein Ziel, das sich auf einer höheren Ebene befindet als die Ziele der politischen Gemeinschaft.

xiiiVgl. Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 1.5.1991, 47. Das Recht auf Freiheit in religiösen Belangen „ist mit allen übrigen Freiheiten verbunden“; ja, alle diese „erfordern es als ihre Grundlage“ (Johannes Paul II., Ansprache an die Kongressteilnehmer der Internationalen Union der Anwälte, 23.3.1991, 2).

xivVgl. II. Vat. Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, 13.

xvImmer wenn die Umstände es erlauben, nimmt der Heilige Stuhl diplomatische Beziehungen zu den Staaten auf, um so einen Weg des ständigen Dialogs in den Fragen aufrecht zu halten, die für beide Teile von Inte­r­esse sind (vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 427).

xviEs ist klarzustellen, „dass ein Leben als guter Katholik und als loyales Glied der bürgerlichen Gesellschaft einander nicht widersprechen. Ebenso wenig müssen Kirche und Staat zusammenstoßen, wenn sie ihre jeweilige legitime Autorität zur Erfüllung der ihnen von Gott aufgetragenen Sendung ausüben“ (Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, 301).

xvii„Das Recht und die Pflicht zur Erziehung sind für die Eltern unabgeleitet und ursprünglich“ (KKK, 2221). Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, 36.

xviiiVgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, 40.

xix„Als Erstverantwortliche für die Erziehung ihrer Kinder haben die Eltern das Recht, für sie eine Schule zu wählen, die ihren Überzeugungen entspricht. Das ist ein Grundrecht. Die Eltern haben die Pflicht, soweit wie möglich solche Schulen zu wählen, die sie in ihrer Aufgabe als christliche Erzieher am besten unterstüt­zen. Die Behörden haben die Pflicht, dieses Elternrecht zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass es auch wirklich ausgeübt werden kann“ (KKK 2229).

xxVgl. Paul VI., Apost. Schreiben Octogesima adveniens, 25; Johannes Paul II., Enz. Centesimus annus, 25.

xxiVgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, 24.11.2002, 6; Kompendium der Soziallehre der Kirche, 571.

xxiiVgl. II. Vat. Konzil, Konst. Gaudium et spes, 75; Paul VI., Apost. Schreiben Octogesima adveniens, 50; Kompendium der Soziallehre der Kirche, 417.

xxiiiII. Vat. Konzil, Konst. Gaudium et spes, 43.

xxivVgl. Hl. Josefmaria, Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 117.

xxv„Diese relativistische Auffassung des Pluralismus hat nichts gemein mit der legitimen Freiheit der katholischen Bürger, unter den politischen Meinungen, die mit dem Glauben und dem natürlichen Sittengesetz vereinbar sind, jene auszuwählen, die gemäß dem eigenen Urteil den Erfordernissen des Gemeinwohls besser gerecht wird. Die politische Freiheit gründet mitnichten in der relativistischen Idee, gemäß der alle Auffassungen über das Wohl des Menschen dieselbe Wahrheit und denselben Wert besitzen, sondern in dem Umstand, dass die politischen Aktivitäten von Fall zu Fall auf die ganz konkrete Verwirklichung des menschlichen und sozialen Wohles hinzielen, und zwar in einem genau umschriebenen geschichtlichen, geographischen, ökonomischen, technologischen und kulturellen Zusammenhang. Von der konkreten Verwirklichung und den verschiedenen Umständen hängen im Allgemeinen die unterschiedlichen Einstellungen und Lösungen ab, die allerdings moralisch annehmbar sein müssen“ (Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, 24.11.2002, 3). Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 569 u. 572.