Betrachtungstext: 27. Dezember – Heiliger Johannes, Apostel und Evangelist

Der Jünger, den Jesus liebte – Die Geduld Gottes verwandelt uns – Lieben, wie Jesus liebte

DER APOSTEL UND EVANGELIST JOHANNES, dessen Fest wir heute feiern, bezeugt von sich selbst, dass er der Jünger war, den Jesus liebte (Joh 20,2). In keiner autobiographischen Passage nennt er seinen Namen. Stattdessen bezeichnet er sich schlicht als den geliebten Jünger – als den Lieblingsjünger Christi. War er das wirklich? Johannes war der jüngste der Apostel und war, wie sein Bruder Jakobus, von leidenschaftlichem Temperament. Vielleicht schenkte ihm Jesus deshalb besondere Aufmerksamkeit. Sicher ist jedenfalls: Johannes war zutiefst davon überzeugt, dass der Herr ihm eine einzigartige Zuneigung entgegenbrachte.

In Wahrheit kann jeder von uns sagen, dass er auf besondere, unverwechselbare und persönliche Weise von Gott geliebt wird. Das gehört zum Geheimnis seiner Liebe. Der Glaube versichert uns dies – und doch zögert unser Herz manchmal, es wirklich zu glauben. Papst Franziskus erinnerte einmal daran, dass Weihnachten uns zeigt, „dass Gott weiterhin jeden Menschen liebt, auch den schlimmsten. Zu dir, zu mir, zu jedem von uns sagt er: ,Ich liebe dich und ich werde dich immer lieben, du bist in meinen Augen kostbar.‘“1

Doch das genügt Gott noch nicht. Er möchte jeden von uns – wie Johannes – zu einem Jünger machen, der in persönlicher Freundschaft mit ihm lebt. Papst Benedikt XVI. erklärte dazu: „Damit dies Wirklichkeit wird, genügt es nicht, ihm äußerlich zu folgen und zuzuhören; man muss auch mit ihm und wie er leben. Das ist nur möglich im Rahmen einer sehr innigen Beziehung, die von der Wärme vollkommenen Vertrauens erfüllt ist. Das ist es, was zwischen Freunden geschieht.“2


JOHANNES WAR impulsiv, und Jesus wusste das, als er ihn zum Apostel erwählte. Ein eindrückliches Beispiel dafür finden wir in Samaria: Als Dorfbewohner sich weigerten, Jesus und seine Jünger aufzunehmen, fragte Johannes: Sollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel fällt und sie verzehrt? (Lk 9,54). Ein anderes Mal berichtete er Jesus stolz, dass sie einem Mann, der nicht zu ihrer Gruppe gehörte, verboten hätten, Dämonen auszutreiben (vgl. Mk 9,38). Jesus hörte ihm stets geduldig zu. Wie viele Stunden mag er mit Johannes verbracht haben, um dessen ungestüme Energie zu kanalisieren und in seinem Herzen die Saat echter Nächstenliebe wachsen zu lassen? Papst Franziskus erinnerte daran, wie wichtig es ist, der Zeit Zeit zu lassen: „Manchmal begegnen wir der Geduld Gottes, mit der er den Boden der Geschichte und unserer Herzen bearbeitet, mit der Ungeduld jener, die sofort urteilen. Jetzt oder nie, jetzt, jetzt, jetzt. Und so verlieren wir jene ‚kleine‘ Tugend, die jedoch die schönste ist: die Hoffnung.“3

Johannes lernte die Lektionen seines Meisters gut – weil er sich geliebt wusste. In den Evangelien können wir diese innere Reifung mitverfolgen. Im Wettlauf zum leeren Grab, von dem das heutige Evangelium berichtet, zeigt sich seine gewachsene Noblesse: Obwohl er zuerst am Grab ankommt, wartet er auf Petrus und lässt ihm den Vortritt. Erst danach ging auch der andere Jünger, der als Erster an das Grab gekommen war, hinein; er sah und glaubte (Joh 20,8). 

Johannes erreichte ein hohes Alter – er überlebte alle anderen Apostel – und starb als einziger eines natürlichen Todes. In seinen letzten Jahren wiederholte er den ersten Christen unermüdlich das Wesentliche der Frohen Botschaft: Geliebte, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott (1 Joh 4,7). Ein Kirchenvater berichtet, dass man ihn fragte, warum er diese Worte immer wiederhole. Johannes soll geantwortet haben: „Weil es das Gebot des Herrn ist – und weil seine Erfüllung allein mehr als genug ist.“4


DER HEILIGE Josefmaria griff diesen Gedanken oft auf: „Habt einander sehr gern.“ Und er fügte hinzu, dass er damit vom innersten Kern des Christentums spreche: Deus caritas est (1 Joh 4,8), Gott ist Liebe. Gerne erinnerte er auch an die Worte des Johannes, der schon „sehr alt war, obwohl er sich sehr jung gefühlt haben muss“5: dass der Kern der christlichen Botschaft nicht darin liegt, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat (1 Joh 4,10). In den Augen eines Christen sind alle Menschen Empfänger dieser unendlichen Zuneigung Gottes.

Papst Benedikt XVI. gibt uns Folgendes zu bedenken: „Gott ist uns im Geschenk seines Sohnes zuvorgekommen und er kommt uns immer wieder auf unerwartete Weise zuvor. (...)  Dennoch erwartet er unser Mitlieben. Er liebt uns, damit wir Mitliebende werden und so Friede auf Erden sein kann.“6 Johannes, der einst einen Feuerregen über Samaria herabrufen wollte, ist schließlich der Evangelist, der als Einziger von der Begegnung Jesu mit der Samariterin am Brunnen berichtet. Vielleicht ist gerade dieser Abschnitt die Frucht eines jener tiefen Gespräche mit dem Meister, in denen Johannes gelernt hatte, alle Menschen zu lieben – so, wie der Vater sie liebt.

Schließlich ist Johannes der Jünger, dem Jesus am Kreuz die herrliche Aufgabe anvertraute, für die Jungfrau Maria zu sorgen. Wer sorgte hier für wen? Gewiss erfüllten beide diese Sendung mit Dankbarkeit und Liebe. Maria, die alle Menschen durch die Augen ihres Sohnes sah, liebte Johannes – und erfüllte damit den letzten Willen Jesu. So wenden wir uns an sie und an den heiligen Johannes mit der Bitte, dass Gott in uns jene Liebe wachsen lasse, die auch in anderen reiche Frucht bringt.


1 Franziskus, Predigt, 24.12.2019.

2 Benedikt XVI., Audienz, 5.7.2006.

3 Franziskus, Predigt, 2.2.2021.

4 Hl. Hieronymus, Kommentar zum Galaterbrief, 3, 6.

5 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Beisammensein, 19.3.1964.

6 Benedikt XVI., Predigt 24.12.2010.