NACHDEM Jesus eine Schar von Kinder gesegnet hatte, die Väter und Mütter zu ihm gebracht hatten, näherte sich ihm einer von den führenden Männern (Lk 18,18). Vielleicht hatte er den Meister schon mehrere Tage lang beobachtet und verspürte nun, beeindruckt von der Zuneigung, die Jesus den Kindern zeigte, das Bedürfnis, sein Herz zu öffnen. Er kniete nieder und stellte Jesus eine Frage, die ihn schon länger beschäftigte: Was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen? (Mt 19,16).
Wir Menschen suchen oft nach Anweisungen, wenn wir ein Ziel erreichen wollen. Wir möchten die nötigen Schritte kennen. Gott weiß, dass wir so sind, und gab Mose die Gebote, damit die Israeliten Klarheit darüber hatten, welche Handlungen dem Herrn gefielen und welche nicht. Jesus beantwortete die Frage des jungen Mannes daher auch mit einem Verweis auf den Dekalog: Wenn du in das Leben eintreten willst, halte die Gebote! Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! (Mt 19,17.18-19). Als der junge Mann erklärte, dass er die Gebote von Jugend an halte, eröffnete ihm Jesus eine neue Perspektive: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen; und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach! (Mt 19,21).
Jesus lädt den jungen Mann ein, in seiner Beziehung zu Gott einen Schritt weiter zu gehen. Natürlich ist es gut und notwendig, die Gebote zu halten, Jesus fordert ihn nun aber auf, sich voll und ganz in die Hände Gottes zu begeben und über die Sicherheit hinauszugehen, die daraus entstehen kann, dass man Gutes tut. Das ewige Leben ist nicht ein Ziel, das wir aus eigener Kraft erreichen können; es geht darum, auf Gott zu hören, ihm aus der Nähe zu folgen und in dieser Beziehung zu erkennen, dass es ein göttliches Geschenk ist, ihm zu dienen und seine Gesellschaft zu genießen. Erst wenn wir das Leben mit ihm teilen, erkennen wir das Ausmaß seiner Liebe, die die Gesetze übersteigt.
Durch seinen Tod und seine Auferstehung schloss Christus uns die Pforten des Himmels auf. Mit seiner Gnade unterstützt er unsere guten Taten und ermutigt uns, neue Wege zu gehen. Daher ruft Jesus den jungen Mann in die volle Gemeinschaft mit ihm. Johannes Paul II. hatte diese so beschrieben: „Nachfolge Christi ist nicht eine äußerliche Nachahmung, sondern berührt den Menschen in seinem Innersten. Jünger Christi zu sein bedeutet, ihm gleich geworden zu sein.“1 Der Herr wünscht sich, dass die Beziehung dieses jungen Mannes zu Gott nicht nur in der Einhaltung von Regeln besteht, sondern das Zentrum seines Lebens wird. Das ist es, was ihn mit einem Glück erfüllen wird, das keine irdische Realität bieten kann. „Das ist die Größe des Lebens, das Gott von uns verlangt“, so Worte des heiligen Josefmaria: „Wir sollen kein flaches Leben führen! (...) Er will, dass wir die Liebe Christi zu uns erkennen, die alle Erkenntnis übersteigt, damit wir von allen Gaben Gottes erfüllt werden.“2
AUF DEN Vorschlag Jesu hin, alles zu verlassen und ihm zu folgen, ging der junge Mann betrübt weg, wie Matthäus berichtet: Denn er hatte ein großes Vermögen (Mt 19,22). Er hatte sich gefreut, weil er endlich die Antwort zu finden hoffte, die seinen Durst nach Glück stillen würde. Doch als Gott ihn um sein Herz und damit um alles bat, was er in sich trug, verflog die Begeisterung. Er wäre bereit gewesen, jegliche gute Tat zu vollbringen, um das ewige Leben zu erlangen, die vollständige Hingabe an den Herrn aber erzeugte in ihm einen Schwindel, dem er sich nicht gewachsen fühlte.
Nicht nur der Reichtum hinderte den jungen Mann daran, die Nachfolge Jesu zu wagen. Er hatte wohl auch eine falsche Vorstellung vom Leben mit Gott und fürchtete, er würde sein irdisches Glück opfern müssen, um das ewige Leben zu erlangen. Er erkannte nicht, dass der Herr ihn berief, sein Glück auf die ständige und sichere Gegenwart Gottes zu gründen statt auf vergänglichen Reichtum. „Dein Boot – deine Fähigkeiten, deine Pläne, deine Erfolge – ist zu nichts nutze, es sei denn, du stellst es Christus zur Verfügung, lässt ihn mit freiem Herzen einsteigen, und verzichtest darauf, aus deinem Nachen einen Götzen zu machen“, schrieb der heilige Josefmaria. „Du allein, mit deinem Boot, aber ohne den Meister, eilst – übernatürlich gesprochen – dem sicheren Schiffbruch entgegen. Nur wenn du die Nähe des Herrn suchst und ihm das Steuer überlässt, wirst du die Stürme und Klippen des Lebens heil überstehen. Gib alles in die Hände Gottes: Lass deine Gedanken, deine schönen Vorstellungen, deine edlen Bestrebungen, die reinen Sehnsüchte deiner Liebe durch das Herz Jesu hindurchgehen.“3
Die Bitte Jesu an den reichen jungen Mann war nicht willkürlich. Wahrscheinlich wusste Christus, weshalb dieser vor allen sein Innerstes offenbarte. Obwohl er die Gebote hielt – und das war an sich sehr erfreulich –, war der junge Mann in seinem Inneren unzufrieden – denn er baute sein irdisches Glück auf Reichtum und sein ewiges Glück auf gute Werke. Deshalb richtet der Herr an ihn, wie Papst Franziskus sagte, einen „Aufruf zu größerer Reife, um von den Geboten (...) zur freien und vollkommenen Liebe überzugehen. Jesus fordert ihn auf, alles zurückzulassen, was das Herz belastet und die Liebe behindert. Was Jesus ihm vorschlägt, ist nicht so sehr, ein Mensch zu sein, dem alles genommen wurde, sondern ein Mensch zu sein, der frei und reich an Beziehungen ist. Wenn das Herz mit Besitztümern vollgestopft ist, werden Gott und der Nächste nur zu einer Sache mehr. Wenn wir zu viel haben und zu viel wollen, erstickt dies unser Herz und macht uns unglücklich und unfähig zu lieben.“4
MANCHMAL kann man, wie der reiche junge Mann, den Eindruck haben, dass Nachfolge Jesu bedeute, auf das Gute im Leben zu verzichten, um das ewige Glück zu erreichen. Der Weg zur Heiligkeit erscheint dann bisweilen als eine ständige Selbstüberwindung und Selbstverleugnung, bis man den Himmel erreicht. Diese Sichtweise entspringt jedoch einer Verzerrung der Realität. Zwar beinhaltet das christliche Leben den Kampf gegen die eigenen Neigungen, wenn diese zu schlechten Handlungen führen könnten, doch das Ziel ist nicht, eine immer bessere Abwehr, sondern eine immer größere Sensibilität zu entwickeln, die uns Freude schenkt an dem Guten, das wir tun. Die Entwicklung der Tugenden richtet unsere Fähigkeiten und Neigungen auf das aus, was unsere tiefsten Sehnsüchte wahrhaft stillen kann, und stellt in den Hintergrund, was nur Mittel zum Zweck ist.
„Wer Christus einlässt, dem geht nichts, nichts – gar nichts verloren von dem, was das Leben frei, schön und groß macht“, wandte sich Papst Benedikt einmal an die Jugend. „Nein, erst in dieser Freundschaft öffnen sich die Türen des Lebens. Erst in dieser Freundschaft gehen überhaupt die großen Möglichkeiten des Menschseins auf. Erst in dieser Freundschaft erfahren wir, was schön und was befreiend ist. (...) Ja, aprite, spalancate le porte per Cristo – dann findet ihr das wirkliche Leben.“5 In den Heiligen sehen wir Menschen, die den Herrn in den Mittelpunkt ihres Lebens stellten und ein Glück fanden, das die Welt nicht geben kann. Ein Christ ist – nicht aus sich selbst, sondern durch die Gnade des Herrn – fähig, so sagte der heilige Josefmaria, „seinen Mitmenschen eine Erkenntnis zu vermitteln, die viele zwar ahnen, aber nicht begreifen: dass das wahre Glück, der wahre Dienst am Nächsten, durch das Herz unseres Erlösers geht.“6 Wir bitten die Jungfrau Maria, uns zu helfen, unsere Seelen für ihren Sohn zu öffnen, damit er uns zum Glück auf Erden und im Himmel führen kann.
1 Hl. Johannes Paul II., Veritatis Splendor, Nr. 21.
2 Hl. Josefmaria, Brief 7, Nr. 32.
3 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 21.
4 Franziskus, Botschaft, 29.6.2021.
5 Benedikt XVI., Predigt, 24.4.2005.
6 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 93.