Betrachtungstext: 19. Woche im Jahreskreis – Donnerstag

Die Logik der Berechnung überwinden – Die Schulden anderen erlassen – Unentgeltliche Liebe annehmen

EINMAL fragte Petrus den Herrn, wie oft man einem Bruder seine Verfehlungen vergeben müsse. Jesus antwortete mit dem Gleichnis: Ein Diener schuldete seinem König zehntausend Talente – eine unvorstellbar hohe Summe. Um sie zurückzuzahlen, hätte ein gewöhnlicher Arbeiter rund sechzig Millionen Tage arbeiten müssen – also über 160.000 Jahre. Jesus fährt fort: Weil der Diener das Geld nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kindern und allem, was er besaß, zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen. Da fiel der Knecht vor ihm auf die Knie und bat: Hab Geduld mit mir! Ich werde dir alles zurückzahlen. Der Herr des Knechtes hatte Mitleid, ließ ihn gehen und schenkte ihm die Schuld (Mt 18,25-27).

Der Anfang des Gleichnisses gibt uns einen tiefen Einblick in das Verhältnis zwischen Gott und uns Menschen. Der heilige Josefmaria bemerkte dazu: „Auch wir verfügen über nichts, womit wir die unermessliche Schuld begleichen könnten, die wir aufgrund der vielen Wohltaten Gottes – und durch unsere persönlichen Sünden – auf uns geladen haben. So sehr wir uns auch bemühen: Wir werden niemals imstande sein, das Viele, das der Herr uns vergeben hat, zurückzuzahlen.“1

Der König erließ dem Diener seine Schuld, damit dieser in seinem Inneren die Logik des Marktes überwinden und sich der Barmherzigkeit zuwenden konnte. Von nun an sollte er nicht mehr arbeiten, um seine Schuld zu begleichen, sondern um seine Liebe zu bekunden. Dies ist, wozu Gott auch uns einlädt: dass unsere Beziehung zu ihm und zu unseren Mitmenschen nicht von Angst und purer Gerechtigkeit gekennzeichnet seien, sondern von Liebe und Barmherzigkeit.

Wie Papst Franziskus betonte, kennt die Barmherzigkeit Gottes keine Grenzen. Er vergibt uns „jede Schuld, sobald wir auch nur ein kleines Zeichen der Reue an den Tag legen“2. Er verlangt dafür keine Gegenleistung– möchte jedoch, dass wir uns von seiner Vergebung verwandeln lassen: dass wir nicht als Knechte leben, sondern als Liebende. Der heilige Josefmaria sagte: „Gott interessiert sich nicht für Reichtümer oder die Früchte und Tiere der Erde, des Himmels und der Meere, denn alles gehört ihm ja bereits. Er will etwas ganz Persönliches, das wir ihm aus freien Stücken schenken sollen: Gib mir dein Herz, mein Kind (Spr 23, 26). Er will nicht unser Hab und Gut – er will uns selbst. Darin, und nur darin liegt der Ursprung aller Gaben, die wir ihm darbringen können.“3


DOCH KAUM war dieser Diener aus der Gegenwart des Königs herausgetreten, begegnete er einem Mann, der ihm hundert Denare schuldete – etwa einen Dreimonatslohn. Im Vergleich zu der Schuld, die ihm erlassen worden war, war dies fast nichts. Doch als der Mitknecht ihn um Geduld bittet – mit denselben Worten, die er selbst verwendet hatte –, zeigt der Mann kein Erbarmen und lässt ihn ins Gefängnis werfen. Bald erfuhr der König davon, ließ ihn zu sich rufen und fuhr ihn an:Du elender Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich angefleht hast. Hättest nicht auch du mit deinem Mitknecht Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte? Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Peinigern, bis er die ganze Schuld bezahlt habe (Mt 18,28-34).

Die Reaktion des Königs mag auf den ersten Blick wie eine Strafe wirken – doch er handelt nur nach der Logik des Dieners. Wer sich nicht auf die Barmherzigkeit einlassen will, muss mit der Härte der reinen Gerechtigkeit leben. In Wahrheit hatte dieser Mann die Rettung, die ihm angeboten wurde, abgelehnt: Er wollte seine Beziehungen weiterhin nach Maßstäben von Schuld und Leistung ordnen, nicht nach Liebe und Dankbarkeit. Papst Franziskus mahnte: „Wir können nicht erwarten, dass Gott uns vergibt, wenn wir selbst nicht bereit sind, unserem Nächsten zu vergeben. Das ist eine Bedingung. Denk an das Ende – an Gottes Vergebung –, und hör auf zu hassen. Vertreibe den Groll, diese lästige Fliege, die immer wieder zurückkehrt. Wenn wir nicht um Vergebung und Liebe bemüht sind, wird auch uns nicht vergeben und keine Liebe zuteil werden.“4

Wahrscheinlich gibt es auch in unserem Alltag Menschen, die uns etwas „schulden“: eine verletzende Bemerkung, ein geplatzter Termin, respektloses Verhalten ... Manchmal ist der zugefügte Schmerz auch viel tiefer: ein Wort, das nie zurückgenommen wurde, ein Vertrauensbruch, eine Wunde, die bleibt. Das Evangelium lädt uns ein, auf die Tiefe der Vergebung zu schauen, die wir selbst empfangen haben – „auch wenn der Schaden oder die Beleidigung noch so groß ist“5.

Außerdem werden wir jedes Mal, wenn wir vergeben, Christus ähnlicher. Deshalb konnte der heilige Josefmaria sagen, dass das Göttlichste im Leben eines Christen darin liege, „denen zu verzeihen, die uns geschadet haben“6 – denn Gott ist Mensch geworden, um genau das zu tun: um zu vergeben.


HEUTE fällte es vielen schwer, diese kommerzielle Logik hinter sich zu lassen, die der ungerechte Diener an den Tag legte. Wir möchten mit anderen lieber auf Augenhöhe sein, niemandem etwas schuldig bleiben. Deshalb begegnen wir Wohltaten oft mit Misstrauen – was steckt dahinter? Was erwartet der andere von mir? Lieber wollen wir alles aus eigener Kraft erreichen. Das gibt uns das Gefühl von Kontrolle, Unabhängigkeit, Überlegenheit.

Doch wer wirklich lieben will, muss auch lernen, sie zu empfangen. Papst Benedikt XVI. schreibt in Deus caritas est: „Wer Liebe schenken will, muss selbst mit ihr beschenkt werden.“7 Dabei dürfen wir nie vergessen: Gott hat immer schon den ersten Schritt gemacht. Wie der heilige Johannes sagt: Er hat uns zuerst geliebt (1 Joh 4,19). Wer sein Herz weit öffnet für die Fülle dieser unentgeltlichen Liebe Gottes, befreit sich von einem Glauben, der nur aus Geboten und Verboten besteht. Sein Leben wird dann von dem Wunsch geleitet, dem Herrn in all seinen Handlungen zu gefallen – wie ein Kind seinem Vater oder ein Ehemann seiner Frau und umgekehrt.

Ein Blick auf die Unermesslichkeit der Liebe Gottes zu einem jeden von uns kann uns auch helfen, den Wert auch kleiner Gesten zu erkennen – gerade weil sie Ausdruck unserer Liebe sind. Auch wenn wir die Schuld nie begleichen können, dürfen wir kleine Liebeszeichen setzen, die Gott mit Freude empfängt: ein Lächeln, ein aufmerksames Wort, ein spontaner Dienst, der niemandem auffällt, eine Stunde konzentriertes Studium. Die Liebe Gottes verwandelt unsere kleinen Gaben in kostbare Perlen. Bitten wir Maria, dass sie uns beisteht und hilft, die Unentgeltlichkeit der göttlichen Vergebung immer tiefer zu begreifen – damit wir barmherzig werden wie der Vater: langmütig und reich an Güte, wie Papst Franziskus es formuliert hat.8


1 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 168.

2 Franziskus, Angelus-Gebet, 17.9.2017.

3 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 35.

4 Franziskus, Angelus-Gebet, 13.9.2020.

5 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 452.

6 Hl. Josefmaria, zitiert durch Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 16.2.2023, Nr. 7.

7 Benedikt XVI., Deus caritas est, n. 7.

8 Franziskus, Angelus-Gebet, 17.9.2017.