JESUS zögerte nicht, sich mit Menschen zu umgeben, welche die Juden ächteten oder zumindest auf Abstand hielten. So aß er zusammen mit Steuereintreibern, betrat bereitwillig die Häuser von Heiden und berührte sogar Aussätzige. Durch seine Gesten und Worte zeigte er eine unerhörte Offenheit allen Menschen gegenüber, die seine Zeitgenossen wohl sehr überraschte. Er liebte nicht die Sünde, aber den Sünder. Und um den Leuten zu verdeutlichen, dass es weniger gefährlich war, sich mit gesellschaftlich ausgegrenzten Menschen zu umgeben, als sich mit jenen zu umgeben, die sich für gerecht hielten, die jedoch nur ihr eigenes Wohlergehen, ihren Erfolg und ihre soziale Stellung im Blick hatten, sagte er: Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch in Schafskleidern, im Inneren aber sind sie reißende Wölfe (Mt 7,15).
Die falschen Propheten, die der Herr meinte, hatten ihre Identität verraten, indem sie Reichtum und Ansehen suchten, statt über das Volk Israel zu wachen. Die wahren Propheten hingegen waren diejenigen, die sich die Leiden des Volkes zu eigen machten. Papst Franziskus sagte einmal in einer Morgenbetrachtung: „Die wahrhaft großen Menschen verstehen zuzuhören und danach zu handeln, denn ihr Vertrauen und ihre Kraft sind auf den Felsen der Liebe Jesu Christi gebaut.“1 Die Sorgen und Hoffnungen der Menschen zu kennen, die die Vorsehung uns in irgendeiner Weise anvertraut hat, ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Guten Hirten. Das ist es, was der Herr getan hat; er ist niemandem aus dem Weg gegangen. Er hörte auf die tiefsten Klagen der Menschen und befreite sie von ihren Ängsten. In unserem Gebet können wir uns fragen: Kenne ich die Freuden und Sorgen meiner Mitmenschen?
DAS GANZE Leben eines Christen soll Anbetung Gottes zu sein (vgl. Joh 4,23), und sämtliche Bereiche seines Lebens sollen Orte sein, an denen der Herr und die anderen Platz finden. Durch die Ausrichtung aller Bereiche unseres Lebens auf ein Ziel – Gott und die Menschen – entsteht in uns eine Einheit des Lebens und erstarkt in uns unsere Identität als Gottes Kinder in Christus – durch die Kraft des Heiligen Geistes, der alles durch die Liebe belebt, was uns zur Heiligkeit und zum Apostolat in unserem tagtäglichen Tun führt.
Aus der Inkohärenz des Lebens, in die „die falschen Propheten“ geraten, erwächst ein Mangel an Frieden, der das persönliche Gleichgewicht stört. Durch die Einheit des Lebens hingegen erlangen wir eine immer größere innere Harmonie. Denn wir lassen uns nicht von den Umständen oder der Umgebung diktieren, wie wir zu sein oder uns zu entscheiden haben. Im Licht des Glaubens finden wir einen Sinn für jede Facette unseres Lebens und das, was uns widerfährt, sowohl für das Gute als auch für das, was uns als ungünstig oder abstoßend erscheint; wir lernen, uns mit unserer Vergangenheit zu versöhnen und mit unserer Gegenwart anzufreunden. Die Freundschaft mit Gott gibt uns das nötige Selbstvertrauen, unsere Identität als Christen in jeder Situation zum Ausdruck zu bringen und diese Realität in unser Leben zu integrieren. Somit vermeiden wir, in schwarzen Löchern zu leben, jenen dichten, geschlossenen Räumen, in denen selbst das Licht verschluckt wird.
Die Grundlage der Einheit des Lebens liegt im Bewusstsein unserer Gotteskindschaft. Wie der Prälat des Werkes schrieb, lässt uns diese „mit dem Vertrauen von Kindern Gottes beten, mit der Leichtigkeit von Kindern Gottes durch das Leben gehen, mit der Freiheit von Kindern Gottes argumentieren und entscheiden, dem Schmerz und dem Leid mit der Gelassenheit von Kindern Gottes begegnen und die schönen Dinge schätzen, wie das ein Kind Gottes tut.“2 Deshalb sagte der heilige Josefmaria, dass die Gotteskindschaft schließlich das ganze Dasein des Menschen erfasst: „Sie ist gegenwärtig in jedem Gedanken, in jedem Wunsch, in jeder Gemütsregung.“3
TEIL DER EINHEIT des Lebens ist es, den Ort und die Zeit zu lieben, in der wir leben. Schöpfung und Erlösung verwirklichen sich hier, heute und jetzt, solange wir dafür glühen, unsere Welt zu kennen und zu verstehen, sie zu lieben, wie es die Heiligen getan haben. Der heilige Josefmaria zum Beispiel hat uns aufgefordert, keinen „Tagträumen“4 nachzuhängen und „Blechmystik“5 zu meiden. Wir genießen die Einheit des Lebens dort, wo wir mit Gott und unseren Mitmenschen zusammenleben und uns bemühen, das Tun, in das wir eingetaucht sind, zum Gegenstand unserer Träume zu machen – um es mit den Gaben Gottes zu erfüllen –, ohne dem Wunsch nachzugeben, gedanklich in andere, schönere, aber unwirkliche Welten auszuweichen. Der heilige Paulus fordert die Thessalonicher auf, zu arbeiten, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen und sich gegenseitig dabei zu helfen, sich entsprechend zu verhalten (vgl. 2 Thess 3,6-15). Diese Kohärenz des Lebens ermöglicht es uns zugleich, angesichts des Unvorhersehbaren flexibel zu sein, denn indem wir beten und für Gott und die anderen leben, erfahren wir, dass die Liebe eint, was gespalten erscheint, und ordnet, was zerbrochen war. So werden wir einen Termin einhalten, auch wenn wir lieber einem scheinbar besseren Plan gefolgt wären; oder den Fahrschein für die öffentlichen Verkehrsmittel bezahlen, auch wenn der Zustand dieses Dienstes uns zum Protest und zur Nichtbezahlung einlädteinlädt; stattdessen könnten wir uns Verbesserungsvorschläge überlegen und an entsprechender Stelle einreichen.
So zu leben, bedeutet, sich zu bemühen, die Aufforderung des Herrn in die Praxis umzusetzen: Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen (Mt 5,37). Christus weist auf eine Sprechweise hin: einen christlichen Lebensstil, der durch das Bewusstsein der Gegenwart Gottes, „der ehrfürchtigen Achtung vor seiner Gegenwart“, wie der Katechismus sagt, „die durch jede unserer Aussagen bezeugt oder verhöhnt wird“6, stets aktuell ist. Konkret bedeutet das etwa, niemals zu lügen, auch wenn uns das einmal aus der Klemme helfen könnte; sich mit Würde zu verhalten, auch wenn uns niemand zuschaut; dem Ärger nicht freien Lauf zu lassen, wenn wir uns hinters Steuer setzen oder Fußball spielen. Wie das II. Vatikanische Konzil lehrte, sollen die Gläubigen „nach treuer Erfüllung ihrer irdischen Pflichten streben, und dies im Geist des Evangeliums. (…)“. Und sie sollen wissen, „dass sie, nach Maßgabe der jedem zuteil gewordenen Berufung, gerade durch den Glauben selbst um so mehr zu deren Erfüllung verpflichtet sind.“7 Bitten wir die Jungfrau Maria, uns zu helfen, diese Einheit des Lebens zu erlangen, damit wir die Freude, mit ihrem Sohn zu leben, authentisch weitergeben können.
1 Franziskus, Tagesmeditation, 25.6.2015.
2 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 28.10.2020, Nr. 3.
3 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 146.
4 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 8.
5 Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 88.
6 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2153.
7 II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, Nr. 43.