Betrachtungstext: 12. Woche im Jahreskreis – Montag

Nicht leichtfertig über andere urteilen – Im Mittelpunkt steht die Person – Gott lieben heißt die anderen lieben

RICHTET NICHT, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden (Mt 7,1). Mit diesen Worten warnt uns Jesus vor der Versuchung, uns anzumaßen, das Verhalten unserer Mitmenschen auf bloßen Verdacht hin zu beurteilen oder sie sogar ins Gerede zu bringen. Der Herr ist gekommen, um unsere Herzen zu erneuern. Daher sollte auch unser Blick eine Bekehrung erfahren. Jesus empfiehlt, jeder möge zuerst auf sich selbst schauen, bevor er Überlegungen über andere anstellt.

Der heilige Thomas von Aquin nennt drei Gründe dafür, weshalb jemand einen anderen auf leichte Anzeichen hin verurteilt: Erstens, weil er vielleicht selbst böse ist und somit schnell annimmt, dass auch andere Böses tun; zweitens, weil er vielleicht eine Abneigung gegen einen anderen hat und daher gern das Schlechte glauben will; drittens, weil er vielleicht öfters negative Erfahrungen gemacht hat. Leichtfertige Urteile kommen also nicht aus dem Nichts. Wir müssen ihrem Entstehen durch ein reines Herz vorbeugen. „Verdächtigungen können wir nicht vermeiden“, sagt der heilige Augustinus (tract. 90. in Joan.) – doch der heilige Chrysostomus beharrt: „Durch dieses Gebot verbietet der Herr nicht, andere aus Wohlwollen zu tadeln; er will jedoch nicht, dass wir aus Anmaßung und auf bloßen Verdacht hin über andere urteilen.“1

Unsere Sicht auf andere wird immer begrenzt sein – nur Gott kennt die Herzen und kann die wahren Umstände von Ereignissen bewerten – und er ist immer voll Verständnis und bereit zu verzeihen. Wer aber bist du, dass du über deinen Nächsten richtest? (Jak 4,12), schreibt der Apostel Jakobus an die ersten Christengemeinden. Wir wollen um ein Herz bitten, das mit dem Herzen Jesu in Gleichklang schlägt, damit wir neben den Tugenden die Unvollkommenheiten unserer Mitmenschen mit jener Liebe und jenem Erbarmen betrachten, die er den unsrigen entgegenbringt.


WARUM SIEHST du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? (Mt 7,3). Wenn wir unsere eigenen Verfehlungen im Angesicht Gottes erwägen, muss uns das verständnisvoll für die anderen machen. Es geht nicht nur darum, ihre Fehler zu übersehen. Manchmal können wir zu ihrer Änderung oder Besserung unsere Hilfe in Form einer brüderlichen Zurechtweisung anbieten. Dabei müssen wir bedenken: Änderungen lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen erreichen, und oft kann es sich um eine Eigenart des anderen handeln, die für seinen Weg der Heiligkeit kein relevantes Hindernis darstellt. Wenn wir uns dessen bewusst sind, dass auch wir Fehler oder persönliche Eigenheiten haben, die nicht jedem gefallen, führt uns das dazu, die Mitmenschen mit mehr Verständnis zu betrachten. „Die Liebe besteht mehr im Verstehen als im Geben“, schreibt der heilige Josefmaria. „Deshalb suche immer nach einer Entschuldigung für deinen Nächsten, wenn du die Pflicht hast zu urteilen. Es gibt immer eine Entschuldigung.“2

Papst Franziskus sagte einmal: „Wenn wir es nicht schaffen, unsere eigenen Fehler zu sehen, werden wir immer dazu neigen, die Fehler der anderen aufzubauschen. Wenn wir hingegen unsere Fehler und unsere Schwächen erkennen, öffnet sich uns die Tür der Barmherzigkeit.“3 Der Blick Gottes richtet sich nicht nur auf unsere Fehler, sondern auch auf unsere Wünsche, Gutes zu tun: Er rettet den Menschen immer, und noch mehr, wenn es sich um eines seiner Kinder handelt. Eine Sichtweise, die der Gottes ähnlich ist, können wir im Gebet entwickeln. Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor und der böse Mensch bringt aus dem bösen das Böse hervor. Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht sein Mund (Lk 6, 45). Wenn wir ein reines Herz erlangen, ohne Falsch und frei von Gerede, werden wir das Gute an den anderen entdecken und dem Schlechten keine übermäßige Bedeutung beimessen. Der heilige Josefmaria notierte einmal folgende Vorsätze: „1/ Bevor ich ein Gespräch beginne oder einen Besuch mache, mein Herz zu Gott erheben. 2/ Nicht hartnäckig auf etwas bestehen, auch dann nicht, wenn ich im Recht bin. Nur wenn es der Ehre Gottes dient, meine Meinung sagen, aber ohne zu verletzen. 3/ Keine negative Kritik äußern: wenn ich nicht loben kann, werde ich schweigen.“4


DAS LEBEN des Christen nährt sich von der persönlichen Beziehung zu Gott und den anderen und findet darin seine Erfüllung. Das Wesentliche an dieser Beziehung ist die Liebe: Durch sie entstehen Freundschaft, Familienleben, soziale Strukturen und alle Arten von Beziehungen. Wie Papst Benedikt XVI. sagte, ist die Liebe für die Kirche alles, „denn, wie uns der heilige Johannes lehrt (vgl. 1 Joh 4, 8.16) (...): Aus der Liebe Gottes geht alles hervor, durch sie nimmt alles Gestalt an, und alles strebt zu ihr hin. Die Liebe ist das größte Geschenk, das Gott den Menschen gemacht hat, sie ist seine Verheißung und unsere Hoffnung.5

Kurz vor seinem Leiden wollte uns Jesus ein neues Gebot hinterlassen: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben (Joh 13,34). Und damit wir ein Bild von diesem Weg zum Glück bekämen, zeigte er es uns durch sein eigenes Tun, indem er den Jüngern die Füße wusch. Der Prälat des Werkes schrieb: „Wir wissen nur allzu gut, dass Gott finden und Gott lieben unmittelbar zur Liebe und zum Dienst an den anderen führt. Die zwei Gebote der Liebe sind nicht voneinander zu trennen.6

Uns Christen sind zahlreiche Heilige vorausgegangen, die sich den Werken der Liebe gewidmet haben, auch im gewöhnlichen Leben: das sehen wir, wie Papst Franziskus sagte, an „den Eltern, die ihre Kinder mit so viel Liebe erziehen, an den Männern und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen, in den Kranken, in den älteren Ordensfrauen, die nicht aufhören zu lächeln“7. Die geistigen Werke der Barmherzigkeit bestehen im Lehren, Raten, Korrigieren, Verzeihen, Trösten … Maria ist die erste, die uns auf diese Weise begegnet. Als gute Mutter kann sie uns helfen, unseren Mitmenschen mit Liebe und Verständnis zu begegnen.


1 Vgl. hl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 60, a. 3. a und b.

2 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 463.

3 Franziskus, Audienz, 27.2.2022.

4 Hl. Josefmaria, Persönliche Aufzeichnungen, Nr. 399, 18.11.1931.

5 Benedikt XVI, Caritas in veritate, Nr. 2.

6 Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 19.3.22, Nr. 9.

7 Franziskus, Gaudete et exsultate, Nr. 7.