28. Die Gnade und die Tugenden

Die Gnade ist die Quelle der Heiligung. Sie heilt und erhebt die Natur und befähigt uns so, als Kinder Gottes zu handeln.

1. Die Gnade

Gott hat den Menschen zur Teilhabe am Leben der Heiligsten Dreifaltigkeit berufen. „Diese Berufung zum ewigen Leben ist übernatürlich“ (KKK, 1998) [1]. Um uns zu diesem letzten Ziel hinzuführen, schenkt Gott uns schon im irdischen Leben einen Anfang dieser Teilhabe, die im Himmel ihre Fülle erreichen wird. Dieses Geschenk ist die heiligmachende Gnade. Sie ist ein „Beginn der Glorie“ [2]. Die heiligmachende Gnade besteht daher

  • „darin, dass uns Gott ungeschuldet sein Leben schenkt. Er gießt es durch den Heiligen Geist in unsere Seele ein, um sie von der Sünde zu heilen und sie zu heiligen“ (KKK, 1999);
  • sie „ist eine Teilhabe am Leben Gottes“ (KKK, 1997; vgl. 2 Petr 1,4), die uns vergöttlicht (vgl. KKK, 1999);
  • sie ist deshalb ein neues, übernatürliches Leben, gleichsam eine neue Geburt, die uns durch Adoption zu Kin­dern Gottes macht, Teilhaber an der naturhaften Sohnschaft Jesu: „Söhne im Sohn“ [3];
  • sie führt uns hinein in das Innerste des dreifaltigen Lebens. Als Adoptivkinder können wir Gott „Vater“ nennen, vereint mit dem einzigen Sohn (vgl. KKK, 1997);
  • sie ist „Gnade Christi“, denn in der gegenwärtigen Situation – also nach der Sünde und der Erlösung durch Jesus Christus – empfangen wir die Gnade als Teilhabe an der Gnade Christi (vgl. KKK, 1997): „Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade“ (Joh 1,16). Die Gnade macht uns Christus gleichförmig (vgl. Röm 8,29);
  • sie ist „Gnade des Heiligen Geistes“, weil sie durch den Heiligen Geist der Seele eingegossen wird [4].

Man nennt die heiligmachende Gnade auch habituelle Gnade, denn sie ist eine bleibende Disposition, die durch die Eingießung der Tugenden die Seele vervollkommnet und sie befähigt, mit Gott zu leben und aus seiner Liebe zu handeln (vgl. KKK, 2000) [5].

2. Die Rechtfertigung

Das erste Werk der Gnade in uns ist die Rechtfertigung (vgl. KKK, 1989). Man nennt Rechtferti­gung den Übergang vom Stand der Sünde zum Stand der Gnade (oder „der Gerechtigkeit“, denn die Gnade macht uns „gerecht“) [6]. Die Rechtfertigung erfolgt in der Taufe und immer dann, wenn Gott die Todsünden vergibt und die heiligmachende Gnade eingießt (normalerweise im Bußsakrament) [7]. Die Rechtfertigung „ist das erhabenste Werk der Liebe Gottes“ (KKK, 1994; vgl. Eph 2,4-5).

3. Die Heiligung

Gott verwehrt niemandem seine Gnade, denn er will, dass alle Menschen gerettet werden (vgl. 1 Tim 2,4): Alle sind zur Heiligkeit berufen (vgl. Mt 5,48) [8]. Die Gnade „ist in uns der Ursprung des Heiligungswerkes“ (KKK, 1999); sie heilt und erhebt unsere Natur und macht uns so fähig, als Kinder Gottes zu handeln [9] und das Bild Christi widerzuspielen (vgl. Röm 8,29), so dass jeder einzelne fähig ist, alter Christus, ein anderer Christus zu sein. Diese Ähnlichkeit mit Christus äußert sich in den Tugenden.

Heiligung bedeutet Fortschritt in der Heiligkeit. Sie besteht in einer immer innigeren Vereinigung mit Gott (vgl. KKK, 2014), bis der Christ nicht nur ein anderer Christus, sondern ipse Christus, Christus selbst wird [10], d. h. eins mit Christus als Glied seines Leibes (vgl. 1 Kor 12,27). Um in der Heiligkeit zu wachsen, muss man frei mit der Gnade mitwirken. Aufgrund der Unordnung, die die Sünde mit sich gebracht hat (fomes peccati), ist daher Anstrengung und Kampf erforderlich. „Es gibt keine Heiligkeit ohne Entsagung und geistlichen Kampf“ (KKK, 2015) [11].

Um im asketischen Kampf zu siegen, muss man daher vor allem Gott durch Gebet und Abtö­tung ‒ „das Gebet der Sinne“ [12] ‒ um Gnade bitten und sie in den Sakramenten empfangen [13].

Die Vereinigung mit Christus wird erst im Himmel endgültig sein. Man muss Gott um die Gnade der Beharrlichkeit bis zum Ende bitten, d. h. um das Geschenk, in der Gnade Gottes zu sterben (vgl. KKK, 2016 und 2849).

4. Die theologischen Tugenden

Generell bezeichnet man als Tugend „eine beständige, feste Neigung, das Gute zu tun“ (KKK, 1803) [14]. „Die göttlichen Tugenden beziehen sich unmittelbar auf Gott. Sie befähigen die Christen, in Verbin­dung mit der heiligsten Dreifaltigkeit zu leben“ (KKK, 1812). „Sie werden von Gott in die Seele der Gläubigen eingegossen, um sie fähig zu machen, als seine Kinder zu handeln“ (KKK, 1813) [15]. Es gibt drei göttliche Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe (vgl. 1 Kor 13,13).

Der Glaube ist jene göttliche Tugend, durch die wir an Gott und an all das glauben, was er uns gesagt und geoffenbart hat und was die heilige Kirche uns zu glauben vorlegt“ (KKK, 1814). Im Glauben „überantwortet sich der Mensch Gott als ganzer in Freiheit“ [16] und ist bestrebt, den Willen Gottes zu erkennen und zu tun. „Der Gerechte lebt aus dem Glauben“ (Röm 1,17) [17]. „Der Jünger Christi muss den Glauben bewahren und aus ihm leben, ihn bekennen, mutig bezeugen und weitergeben“ (KKK, 1816; vgl. Mt 10,32-33).

Die Hoffnung ist jene göttliche Tugend, durch die wir uns nach dem Himmelreich und dem ewi­gen Leben als unserem Glück sehnen, indem wir auf die Verheißungen Christi vertrauen und uns nicht auf unsere Kräfte, sondern auf die Gnadenhilfe des Heiligen Geistes verlassen“ (KKK, 1817) [18].

Die Liebe ist jene göttliche Tugend, kraft derer wir Gott um seiner selbst willen über alles lieben und aus Liebe zu Gott unseren Nächsten lieben wie uns selbst“ (KKK, 1822). Dies ist das neue Gebot Jesu Christi: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“ (Joh 15,12) [19].

5. Die menschlichen Tugenden

„Die menschlichen Tugenden sind feste Haltungen, verlässliche Neigungen, beständige Vollkom­men­heiten des Verstandes und des Willens, die unser Tun regeln, unsere Leidenschaften ordnen und unser Verhalten der Vernunft und dem Glauben entsprechend lenken. Sie verleihen dem Menschen Leichtigkeit, Sicherheit und Freude zur Führung eines sittlich guten Lebens“ (KKK, 1804). Die sittlichen Tugenden „werden durch menschliches Bemühen erworben. Sie sind Früchte und zugleich Keime sittlich guter Taten“ (KKK, 1804) [20].

Unter den menschlichen Tugenden gibt es vier, die Kardinaltugenden genannt werden, da alle ande­ren rund um sie angeordnet sind. Es sind dies die Klugheit, die Gerechtigkeit, die Tapfer­keit und die Mäßigung (vgl. KKK, 1805).

―Die Klugheit „ist jene Tugend, welche die praktische Vernunft bereit macht, in jeder Lage unser wahres Gut zu erfassen und die richtigen Mittel zu wählen, um es zu erlangen“ (KKK, 1806). Sie ist „die rechte Regel des Handelns“ [21].

―Die Gerechtigkeit „als sittliche Tugend ist der beständige, feste Wille, Gott und dem Nächsten das zu geben, was ihnen gebührt“ (KKK, 1807) [22].

―Die Tapferkeit (oder Stärke) „ist jene sittliche Tugend, die in Schwierigkeiten standhalten und im Erstreben des Guten durchhalten lässt. Sie festigt die Entschlossenheit, Versuchungen zu widerstehen und im sitt­lichen Leben Hindernisse zu überwinden. Die Tugend der Tapferkeit befähigt, die Angst, selbst die vor dem Tod, zu besiegen und allen Prüfungen und Verfolgungen die Stirn zu bieten. Sie macht bereit, für eine gerechte Sache auch das eigene Leben zu opfern“ (KKK, 1808) [23].

―Die Mäßigung „ist jene sittliche Tugend, welche die Neigung zu verschiedenen Vergnügungen zügelt und im Gebrauch geschaffener Güter das rechte Maß einhalten lässt. Sie sichert die Herr­schaft des Willens über die Triebe“ (KKK, 1809). Der maßvolle Mensch richtet sein sinnliches Strebevermögen auf das Gute und lässt sich nicht von den Leidenschaften mitreißen (vgl. Sir 18,30). Im Neuen Testament wird sie „Besonnenheit“ oder „Nüchternheit“ genannt (vgl. KKK, 1809).

Bezüglich der sittlichen Tugenden sagt man: in medio virtus. Das bedeutet, dass die sittliche Tugend in der Mitte zwischen Mangel und Übermaß liegt [24]. In medio virtus ist aber kein Aufruf zur Mittelmäßigkeit. Die Tugend ist nicht die Mitte zwischen zwei oder mehr Lastern, sondern die Rechtschaffenheit des Willens, die wie ein Gipfel die Abgründe der Laster überragt [25].

6. Die Tugenden und die Gnade. Die christlichen Tugenden

Für den durch die Erbsünde verwundeten Menschen ist es nicht leicht, die menschlichen Tugenden zu erlangen und zu leben (vgl. KKK, 1811) [26]. Für ihren Erwerb und ihre Übung kann der Christ mit der Gnade Gottes rechnen, die die menschliche Natur heilt.

Da die Gnade darüber hinaus die menschliche Natur zur Teilhabe an der göttlichen Natur erhöht, erhebt sie diese Tugenden auf die übernatürliche Ebene (vgl. KKK, 1810). Sie führt den Menschen dazu, gemäß der vom Glauben erleuchteten rechten Vernunft zu handeln bzw. Christus nach­zu­ahmen. So werden die menschlichen Tugenden zu christlichen Tugenden [27].

7. Die Gaben und Früchte des Heiligen Geistes

„Das sittliche Leben der Christen wird unterstützt durch die Gaben des Heiligen Geistes. Diese sind bleibende Anlagen, die den Menschen geneigt machen, dem Antrieb des Heiligen Geistes zu folgen“ (KKK, 1830) [28]. Die sieben Gaben des Heiligen Geistes sind (vgl. KKK, 1831):

1. die Gabe der Weisheit, mit der wir Gottes Ratschlüsse verstehen und sicher beurteilen;

2. die Gabe der Einsicht (oder des Verstandes), mit der wir die Wahrheit über Gott tiefer erkennen;

3. die Gabe des Rates, um die Einzelhandlungen recht einzuschätzen und in ihnen dem Willen Gottes folgen;

4. die Gabe der Stärke, um uns den Schwierigkeiten im christlichen Leben zu stellen;

5. die Gabe der Erkenntnis (oder Wissenschaft), um die Hinordnung der geschaffenen Dinge auf Gott zu erkennen;

6. die Gabe der Frömmigkeit, um uns als Kinder Gottes und Brüder unserer Menschenbrüder zu verhalten, also ein anderer Christus zu sein;

7. die Gabe der Gottesfurcht (oder Furcht des Herrn), um alles zurückzuweisen, was Gott beleidigen könnte, wie ein Kind es aus Liebe zu seinem Vater tut.

Die Früchte des Heiligen Geistes „sind Vollkommenheiten, die der Heilige Geist in uns als die Erstlingsfrüchte der ewigen Herrlichkeit hervorbringt“ (KKK, 1832). Es sind Akte, die das Wirken des Heiligen Geistes kontinuierlich in der Seele erweckt. Die Überlieferung der Kirche zählt zwölf auf: „Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Langmut, Sanftmut, Treue, Bescheidenheit, Enthaltsamkeit, Keuschheit“ (Gal 5,22-23).

8. Der Einfluss der Leidenschaften auf das sittliche Leben

Aufgrund der substantiellen Einheit von Seele und Leib steht unser geistiges Leben ‒ Verstandeserkenntnis und freies Wollen ‒ sowohl für das Gute wie für das Böse unter dem Einfluss der Sinnesempfindungen. Dieser Einfluss äußert sich in den Leidenschaften. Als solche bezeichnet man „die Regungen und Bewegungen des Empfindungsvermögens. Sie drängen zum Handeln oder Nicht-Handeln, je nachdem, ob etwas als gut oder schlecht empfunden oder vorgestellt wird“ (KKK, 1763). Die Leidenschaften sind Regun­gen des (zürnenden oder begehrenden) sinnlichen Strebevermögens. Man kann sie im weiteren Sinn auch als „Gefühle“ oder „Emotionen“ bezeichnen [29].

Leidenschaften sind zum Beispiel die Liebe, der Zorn, die Furcht usw. „Die grundlegendste Leidenschaft ist die Liebe, hervorgerufen durch die Anziehungskraft des Guten. Liebe bewirkt das Verlangen nach dem nicht gegenwärtigen Gut und die Hoffnung, es zu erlangen. Diese Regung kommt zur Ruhe im Gefallen und in der Freude am Gut, das man besitzt. Die Wahrnehmung von etwas Schlechtem bewirkt Hass, Abneigung und Angst vor dem drohenden Übel. Diese Regung endet in Traurigkeit über das vorhandene Übel oder im Zorn, der sich dagegen aufbäumt“ (KKK, 1765).

Die Leidenschaften haben großen Einfluss auf das sittliche Leben. „An sich sind sie weder gut noch böse“ (KKK, 1767). „Sie sind sittlich gut, wenn sie zu einer guten Handlung beitragen; schlecht, wenn das Gegenteil der Fall ist“ (KKK, 1768) [30]. Es gehört zur menschlichen Vollkommenheit, dass die Leidenschaften durch die Vernunft geregelt und durch den Willen beherrscht werden [31]. Nach der Erbsünde unterliegen die Leidenschaften nicht mehr der Herrschaft der Vernunft, und oft drängen sie dazu, das zu tun, was nicht gut ist [32]. Um sie gewohnheitsmäßig auf das Gute hinzulenken, braucht man die Hilfe der Gnade – welche die Wunden der Sünde heilt – und den asketischen Kampf.

Wenn der Wille gut ist, nützt er die Leidenschaften und ordnet sie auf das Gute hin [33]. Ein schlechter Wille hingegen, der sich vom Egoismus leiten lässt, erliegt den ungeordneten Leidenschaften oder benutzt sie zum Bösen (vgl. KKK, 1768).

Paul O‘Callaghan

Grundlegende Literatur

Katechismus der Katholischen Kirche [KKK], 1762-1770, 1803-1832 und 1987-2005.

Empfohlene Literatur

Hl. Josefmaria, Homilie Natürliche Tugenden, in Freunde Gottes, 73-93.

Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I-II, qq. 22ff; 109-114; II-II, qq. 1-27; 47-62; 139-143.


1Diese Berufung „ist ganz dem ungeschuldeten Zuvorkommen Gottes zu verdanken, denn er allein kann sich offenbaren und sich schenken. Sie geht über die Verstandes- und Willenskräfte des Menschen und jedes Ge­schöpfes hinaus (vgl. 1 Kor 2,7-9)“ (KKK, 1998).

2Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-II, q. 24, a.3, ad 2.

3II. Vat. Konzil, Konst. Gaudium et spes, 22; vgl. Röm 8,14-17; Gal 4,5-6; 1 Joh 3,1.

4 Jede geschaffene Gabe kommt von der ungeschaffenen Gabe, die der Heilige Geist ist. „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5; vgl. Gal 4,6).

5 Man muss zwischen der habituellen Gnade und den aktuellen oder helfenden Gnaden unterscheiden; mitletzteren bezeichnet man das „göttliche Eingreifen zu Beginn der Bekehrung oder im Verlauf des Heiligungswerkes“ (KKK, 2000).

6„Die Rechtfertigung ist nicht nur Vergebung der Sünden, sondern auch Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen“ (Konzil von Trient: DS 1528).

7Beim Erwachsenen ist dieser Schritt die Frucht der Anregung durch Gott (aktuelle Gnade) und der Freiheit des Menschen. „Der Mensch wird von der Gnade dazu bewogen, sich Gott zuzuwenden und von der Sünde Abstand zu nehmen. So empfängt er die Vergebung und die Gerechtigkeit von oben“ [die heiligmachende Gnade] (KKK, 1989).

8Diese Wahrheit hat der Herr durch die Lehren des heiligen Josefmaria seit dem 2. Oktober 1928 mit besonderer Kraft neu in Erinnerung rufen wollen. Die Kirche hat sie auf dem II. Vatikanischen Konzil (1962-65) verkündet: „Alle Christgläubigen jeglichen Standes oder Ranges sind zur Fülle des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen“ (Dogm. Konst. Lumen gentium, 40).

9Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, III, q. 2. a. 12, c.

10Vgl. Hl. Josefmaria, Christus begegnen,104.

11Jedoch „beeinträchtigt die Gnade unsere Freiheit keineswegs, falls diese dem Sinn für das Wahre und Gute entspricht, den Gott in das Herz des Menschen gelegt hat“ (KKK, 1742). Im Gegenteil, „die Gnade ent­spricht den tiefen Erwartungen der menschlichen Freiheit; [. . .] und vervollkommnet sie“ (KKK, 2022).
Im gegenwärtigen Zustand der menschlichen Natur, die durch die Sünde verwundet ist, ist die Gnade not­wendig, um immer gemäß dem natürlichen Sittengesetz zu handeln.

12Hl. Josefmaria, Christus begegnen,9.

13Um die Gnade Gottes zu erlangen, können wir mit der Fürsprache unserer heiligsten Mutter Maria, der Mittle­rin aller Gnaden, rechnen sowie mit der Fürsprache des hl. Josef, der Engel und der Heiligen.

14Im Gegensatz dazu sind Laster sittliche Gewohnheiten, die aus schlechten Taten folgen und geneigt machen, diese zu wiederholen und schlechter zu werden.

15So wie die Seele durch ihre Vermögen (Verstand und Willen) wirkt, wirkt der Christ im Stand der Gnade durch die göttlichen Tugenden, die gleichsam die Vermögen der „neuen Natur“ sind, zu der er durch die Gnade erhoben wurde.

16II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, 5.

17Der Glaube tut sich in Werken kund: Der lebendige Glaube ist „in der Liebe wirksam“ (Gal 5,6), während „der Glaube ohne Werke tot ist“ (Jak 2,26), auch wenn das Geschenk des Glaubens bestehen bleibt, solange der Mensch nicht direkt gegen ihn sündigt (vgl. Konzil von Trient: DS 1545).

18Vgl. Hebr 10,23; Tit 3,6-7. „Die Tugend der Hoffnung entspricht dem Verlangen nach Glück, das Gott in das Herz jedes Menschen gelegt hat“ (KKK, 1818). Sie läutert und erhebt es; bewahrt vor Entmutigung; macht das Herz weit in der Erwartung der ewigen Seligkeit; bewahrt vor Selbstsucht und führt zum Glück (vgl. ebd.).
Wir sollen also die Herrlichkeit des Himmels erhoffen, die Gott denen verheißen hat, die ihn lieben (vgl. Röm 8,28-30) und seinen Willen tun (vgl. Mt 7,21), und dürfen sicher sein, dass wir mit der Gnade Gottes bis zum Ende ausharren können (vgl. Mt 10,22) (vgl. KKK, 1821).

19Die Liebe ist die größte aller Tugenden (vgl. 1 Kor 13,13). „Hätte ich aber die Liebe nicht, wäre ich nichts ... nützte es mir nichts“ (1 Kor 13,1-3).

-„Die Übung aller Tugenden wird von der Liebe beseelt und angeregt“ (KKK, 1827). Die Liebe ist die Form aller Tugenden. Sie „durchformt“ und „belebt“ sie, denn sie richtet sie auf die Liebe Gottes aus; ohne die Liebe sind die anderen Tugenden tot;

-Die Liebe reinigt unsere menschliche Liebesfähigkeit und erhebt sie zur übernatürlichen Vollkommenheit der göttlichen Liebe (vgl. KKK, 1827). Es gibt eine Ordnung der Liebe. Die Liebe äußert sich auch in der brüderlichen Zurechtweisung (vgl. KKK, 1829).

20Wie im nächsten Abschnitt erklärt wird, entfaltet der Christ diese Tugenden mit Hilfe der Gnade Gottes. Indem sie die Natur heilt, verleiht sie die Kraft, die Tugenden zu üben, und ordnet sie auf ein höheres Ziel hin.

21Hl. Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, II-II, q. 47, a. 2, c. Sie führt dazu, richtig über die Art des Handelns zu urteilen; sie hält nicht vom Handeln ab. „Sie hat nichts mit Schüchternheit oder Ängstlichkeit, mit Doppelzüngigkeit oder Verstellung zu tun. Man nennt sie ‚auriga virtutum’ [Lenkerin der Tugenden]: sie steuert die anderen Tugenden, indem sie ihnen Regel und Maß gibt. (…) Dank dieser Tugend wenden wir die sittlichen Grundsätze irrtumslos auf die einzelnen Situationen an und überwinden die Zweifel hinsichtlich des Guten, das zu tun, und des Bösen, das zu meiden ist“ (KKK, 1806).

22Der Mensch kann Gott im strengen Sinn nicht geben, was er ihm schuldet oder was recht wäre. Deshalb heißt die Gerechtigkeit gegenüber Gott richtiger ‘Tugend der Gottesverehrung’, „weil es Gott genügt, wenn wir das uns Mögliche tun“ (Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, II-II, q. 57, a. 1, ad 3).

23„In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt“ (Joh 16,33).

24Zum Beispiel besteht die Arbeitsamkeit darin, so viel zu arbeiten, wie man soll, was eine Mitte zwischen zu wenig und zu viel bedeutet. Diese Tugend verbietet, weniger zu arbeiten als man soll, die Zeit zu vergeuden usw. Und sie verbietet, maßlos zu arbeiten, ohne zu beachten, was man sonst noch tun muss (Pflichten der Frömmigkeit, der Liebe usw.).

25Der Grundsatz in medio virtus gilt nur für die sittlichen Tugenden, deren Gegenstand die Mittel zur Erreichung des Zieles sind, und für die Mittel gibt es immer ein rechtes Maß. Auf die göttlichen Tugenden, die im vorausgehenden Abschnitt behandelt wurden, ist er jedoch nicht anwendbar. Diese Tugenden (Glaube, Hoffnung und Liebe) haben direkt Gott zum Gegenstand. Deshalb gibt es bei ihnen keine Übertreibung. Es ist nicht möglich, „zu viel zu glauben“, „zu viel zu hoffen“ oder zu viel zu lieben“.

26Die menschliche Natur ist durch die Sünde verwundet. Deshalb hat der Mensch Neigungen, die nicht natürlich, sondern Folge der Sünde sind. So wie es nicht natürlich ist zu hinken, sondern Folge einer Krankheit – und es wäre selbst dann nicht natürlich, wenn alle Menschen hinkten –, so sind auch die Wunden, die die Erbsünde und die persönlichen Sünden in der Seele hinterlassen haben, nicht natürlich: die Neigung zum Hochmut, zur Faulheit, zur Sinnlichkeit usw. Mit Hilfe der Gnade und der persönlichen Anstrengung können diese Wunden nach und nach geheilt werden, so dass der Mensch so wird und sich so verhält, wie es seiner Natur und seiner Stellung als Sohn bzw. Tochter Gottes entspricht. Diese Gesundheit erlangt man durch die Tugenden, wie durch die Laster die Krankheit schlimmer wird.

27In diesem Sinn gibt es eine Klugheit, die menschliche Tugend ist, und eine übernatürliche Klugheit, die eine Tugend ist, die Gott zusammen mit der Gnade in die Seele eingießt. Damit eine übernatürliche Tugend Frucht, d.h. gute Handlungen, hervorbringen kann, braucht sie die entsprechende menschliche Tugend. Dies gilt auch für die anderen Kardinaltugenden: Die übernatürliche Tugend der Gerechtigkeit bedarf der menschlichen Tugend der Gerechtigkeit: ebenso die Tapferkeit und die Mäßigung. Mit anderen Worten, die christliche Vollkommenheit – die Heiligkeit – erfordert menschliche Vollkommenheit und zieht sie nach sich.

28Um die Funktion der Gaben des Heiligen Geistes im sittlichen Leben verstehen zu helfen, kann man die folgende klassische Erklärung heranziehen: So wie zur Menschennatur Vermögen (Verstand und Willen) gehören, die Verstehen und Wollen ermöglichen, so besitzt die durch die Gnade erhobene Natur Vermögen, die ihr den Vollzug übernatürlicher Akte gestatten. Diese Vermögen sind die göttlichen Tugenden (Glaube, Hoffnung und Liebe). Sie sind wie die Ruder eines Schiffes, die eine Hinbewegung auf das übernatürliche Ziel ermöglichen. Dieses Ziel übersteigt uns aber so sehr, dass die göttlichen Tugenden nicht ausreichen. Gott gewährt, zusammen mit der Gnade, die Ga­ben des Heiligen Geistes. Sie sind neue Vollkommenheiten der Seele, die sie instand setzen, vom Heiligen Geist selbst bewegt zu werden. Sie sind wie die Segel eines Schiffes, die eine Fortbewegung durch das Wehen des Windes ermöglichen. Die Gaben vervollkommnen uns so, dass wir dem Wirken des Heiligen Geistes gegenüber fügsamer werden und es so zur Triebkraft unseres Handelns wird.

29Man spricht auch von übersinnlichen oder geistigen „Gefühlen“ oder „Emotionen“. Sie sind die keine „Leidenschaften“ im eigentlichen Sinn, weil sie keine Bewegungen des sinnlichen Strebevermögens mit sich bringen.

30Zum Beispiel gibt es einen guten Zorn, der sich über das Böse entrüstet; und einen schlechten Zorn, der unkontrolliert ist oder zum Bösen antreibt (wie bei der Rache). Desgleichen gibt eine gute und eine schlechte Furcht, wobei letztere lähmt, das Gute zu tun, usw.

31Vgl. hl. Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, I-II, q.24, aa. 1 u. 3.

32Gelegentlich können sie den Menschen so beherrschen, dass die sittliche Verantwortlichkeit auf ein Minimum reduziert wird.

33„Die sittliche Vollkommenheit besteht darin, dass der Mensch nicht nur durch seinen Willen zum Guten bewogen wird, sondern auch durch das sinnliche Strebevermögen, gemäß dem Psalmwort: ‚Mein Herz und mein Leib jauchzen ihm zu, ihm, dem lebendigen Gott’ (Ps 84,3)“ (KKK, 1770). „Die Leidenschaften sind schlecht, wenn die Liebe schlecht ist, sie sind gut, wenn sie gut ist“ (Hl. Augustinus, De civitate Dei, 14,7).