Zum Marienfest am 8. Dezember

ein Impuls von Msgr. Peter von Steinitz

Das berühmte mittelhochdeutsche Gedicht von Walther von der Vogelweide beginnt so: 

                                         Ich saz ûf eime steine,  

                                         und dahte bein mit beine;  

                                         dar ûf satzt ich den ellenbogen,

                                         ich hete in mîne hant gesmogen

                                         daz kinne und ein mîn wange.

                                         dô dâhte ich mir vil ange,  

                                         wie man zer werlte solte leben. 

Der Dichter spricht seine Lebensfrage aus, die im Grunde die Frage aller Menschen ist: „Wi man zer werlte sollte leben“, wie man auf der Welt leben sollte. – Wozu bin ich auf Erden? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist im Leben wichtig? Und dann die Frage nach Gut und Böse. 

Der Mensch stellt fest: In mir ist Gutes und Böses. Und er fragt: Woher kommt das Böse in mir? Warum habe ich Neigungen zum Stolz, zum Egoismus, zum Neid, zum Hass usw.? Jeder muss sich darauf seine eigene Antwort geben. Die bequemste und häufigste ist die: Bei mir ist nichts Böses. Und wenn doch, dann haben andere Schuld daran. 

Die plausibelste Antwort gibt der katholische Glaube: Jeder Mensch ist gut geschaffen, hat aber durch die Erbsünde, die Ursünde Adams und Evas, die wir alle geerbt haben, Neigungen zum Bösen. Die Neigungen bleiben, auch wenn die Erbsünde durch die Taufe gelöscht wird. Der Mensch kann das ursprüngliche Gutsein wieder gewinnen, ja er kann ein Heiliger werden. Nicht aus eigener Kraft, sondern durch die Erlösungstat Christi, der stellvertretend für alle Menschen aller Zeiten das Böse abgebüßt hat. Denn er ist der „Hohepriester, der sein Leben hin gibt für die Seinen“. Der Mensch kann es nicht aus sich selbst, aber er schafft es, wenn er mit der Gnade mitwirkt – mit der Hilfe, die Gott ihm schenkt. 

Um unsere Erlösung zu realisieren, musste Gott ein Mensch werden. Wir feiern das in wenigen Wochen an Weihnachten. Und er wollte ein wirklicher Mensch werden „in allem uns gleich außer der Sünde“. Hier kommen wir zum Kern des Festgeheimnisses vom 8. Dezember. Er ist ganz ohne Sünde, und das musste so sein. Schauen wir zum Vergleich auf die Hohenpriester des Alten Bundes: Sie brachten Opfer dar zur Sühne für die Sünden der Menschen, aber vorher mussten sie Opfer bringen für ihre eigenen Sünden. Und weiter: Wenn der Sohn Gottes sündenlos auf Erden auftreten soll, darf auch in der Frau, die ihn zur Welt bringt, keine Sünde sein, nicht einmal die Erbschuld, die auf allen anderen Menschen lastet. Das ist der theologische Hintergrund des „Hochfestes der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“, wie es die Kirche nennt. 

Tatsächlich ist Maria, wie die Kirchenlehrer nicht müde werden zu betonen, das Meisterwerk des Schöpfergottes. Oder, wie der hl. Josefmaria Escrivá es ausdrückt: „Hätte Gott, der Allmächtige Schöpfer, im Hinblick auf die Menschwerdung seines Sohnes eine noch vollkommenere Frau erschaffen können, so hätte er es sicher getan.“ Alle erdenklichen Vollkommenheiten des Menschen sind in ihr: Sie ist die schönste, die reinste, die liebenswürdigste, die treueste, die gescheiteste aller Frauen. 

Freilich könnte man kritisch fragen: Unter solchen Voraussetzungen ist es natürlich ganz leicht, heilig zu werden. Zur Heiligkeit gehört aber das Streben nach dem richtigen Verhalten, nach den Tugenden, menschlichen wie übernatürlichen. 

Schon ein kurzer Blick auf die Gestalt der Gottesmutter – jeder Mensch trägt eigentlich ihr Bild in sich, Goethe nannte das „das ewig Weibliche“ – zeigt uns: Sie lebte die Tugenden in vollkommenem Maße. Aber damit nicht genug, und auch bei uns selbst wäre es damit nicht genug, dass wir untadelig lebten. Bekannt ist jene kleine Geschichte: Ein Mensch sagt am Ende seines Lebens zu Gott: „Meine Hände sind rein“. Und Gott antwortet: „Ja, aber leer.“ Will sagen, es geht nicht nur um die persönliche Vervollkommnung, sondern auch um die guten Werke, die uns später begleiten (vgl. Offb 14,13). 

Maria wirkt mit ihrem göttlichen Sohn für die Rettung der ganzen Menschheit: So nennt das II. Vatikanische Konzil Maria die „Gefährtin des Erlösers“. Die Erlösung durch Jesus Christus ist vollkommen, und objektiv fehlt daran nichts. Aber wir alle sollen „ergänzen, was am Leiden Christi noch aussteht“, wie Paulus sagt, (Kol 1,24). Wir alle sollen Miterlöser werden.

Der Gründer des Opus Dei betonte diesen Gedanken immer wieder im Hinblick auf das apostolische Bemühen aller Christen, besonders auch der Laien. Er nannte das ihre „priesterliche Seele“, die jeder kraft der Taufe hat: Der Christ weiß sich verantwortlich für das ewige Heil der anderen. Wie der Priester hat er diese beiden wesentlichen Aufgaben: Sich um die Seelen kümmern und Opfer darbringen. Christus hat nicht die Menschheit erlöst, sondern jeden einzelnen Menschen. Und jeder einzelne muss das in aller Freiheit annehmen, sonst ist er nicht erlöst. Das zu vermitteln, ist nicht nur Aufgabe des geweihten Priesters, sondern jedes Christen. Das Amtspriestertum ergänzt dann in den heilsnotwendigen Sakramenten, was dieses gemeinsame Priestertum aller Gläubigen vorbereitet. 

Und wenn schon jeder Menschen die Erlösung mittragen kann, dann Maria in ganz besonderem Maße. Deswegen ist es angemessen, sie „Miterlöserin“ zu nennen. Was hier so abstrakt theologisch klingt, ist genau, was wir in unserem Beten erleben: Sobald wir die Augen und die Hände zur Muttergottes erhebt, wissen wir, dass sie uns in allen Situationen unseres Lebens beschützt, umsorgt, rettet. Nach dem Wort und Willen ihres Sohnes am Kreuz ist sie ja die Mutter aller Menschen. 

Als Helferin des Erlösers – gewissermaßen als seine „Assistentin“ – führt sie uns vom Unerlöstsein zur Erlösung durch Jesus Christus, vom Bösen zum Guten, von der Sünde zum Heil, von Schmerz und Not zur Glückseligkeit. Maria, die Mutter des Ewigen Hohenpriesters, ist nicht Priesterin – sie ist priesterlich, und wir Christen sind es auch. Wenn wir uns dieser Aufgabe (neu) stellen, bereiten wir uns in dieser Adventszeit zu auf Weihnachten vor.