Am ersten Tag des neuen Jahres, eine Woche nach Weihnachten, feiern wir Hochfest der Gottesmutter Maria. In ihrem Schoß vollzog sich die Zeitenwende in der "Fülle der Zeit". Auch unsere Zeitrechnung registriert es: Christi Geburt ist die Mitte. Nach ihr werden die Jahre geschieden in „vor Christus“ und „nach Christus“.
So liegt es nahe, dass eine Woche nach dem Fest der Geburt Jesu die Mutter in die Mitte rückt. Nun legt sie uns das Kind in die Arme, das wir zusammen mit den Engeln und den Hirten in der Krippe verehrt haben. Wir lassen uns Zeit für persönliche Empfindungen, und unser Anbeten kann einen mystischen Zug gewinnen. Paul Gerhardt betete so:
Ich sehe dich mit Freuden an
und kann mich nicht satt sehen;
und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O daß mein Sinn ein Abgrund wär
und meine Seel ein weites Meer,
daß ich dich möchte fassen!
Aber weshalb wird der letzte Tag des Jahres allgemein "Sylvester" genannt? Der Grund ist eher zufällig: Papst Sylvester I. starb am letzten Tag des Jahres 335. Dennoch hat es seinen Sinn, dass wir ihn mit dem Wechsel vom alten zum neuen Jahr in Zusammenhang bringen. Denn dieser heilige Papst und Zeitgenosse Kaiser Konstantins hat eine wirkliche Wende erlebt. Als er im Jahre 314 als 34. Nachfolger den römischen Stuhl des Apostels Petrus übernahm, war das sogenannte Toleranzedikt von Mailand erst ein Jahr alt. Jetzt durften die Christen endlich ohne Verfolgung in Frieden leben. Als Papst einer Zeitenwende von weltgeschichtlicher Bedeutung ist der heilige Sylvester damit gleichsam der Patron unserer bescheiden wiederkehrenden Jahreswenden geworden.
Umgang mit der Zeit
„Unsere Tage zählen lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz.“ (Psalm 90, 12) Worin diese Weisheit besteht, lehrt uns der Herr besonders in der Bergpredigt, wenn er über die väterliche Vorsehung Gottes spricht: „Euer himmlischer Vater weiß ja ...“ (vgl. Mt 6,32). Er rät uns Christen als Kindern Gottes, gelassen und sorglos zu werden.
So manches von dieser Weisheit spüren wir bei den Heiligen. Sie haben sich vom jeweiligen Zeitgeist nicht verwirren lassen. Denn sie haben in ihrem Inneren erfahren, dass die Zeit seit der Menschwerdung des ewigen Gottes aus einer Quelle strömt, die in unserer Geschichte selbst liegt.
Wie anders die Einstellung jener, die um jeden Preis mit der Zeit gehen und Zeitgemäßheit zum allseits gültigen Prinzip erheben wollen. Ihnen kann man mit der Schrift raten: „Wer ständig nach dem Wind schaut, kommt nicht zum Säen, wer ständig die Wolken beobachtet, kommt nicht zum Ernten.“ (Kohelet 11,4)
Unsere bescheidene Zeitenwende gibt uns zu bedenken: Der rechte Umgang mit der Zeit erfordert die Absage an Ablenkungen, die das Jetzt verfremden. „Wie traurig eine Existenz, die keine anderen Sorgen kennt als das Totschlagen der Zeit, das Verschleudern eines gottgeschenkten Schatzes! ... Wie traurig, wenn einer die vielen oder wenigen Fähigkeiten brachliegen läßt, die Gott ihm gegeben hat, damit er den Menschen und der Gesellschaft diene! Ein Christ, der seine irdische Zeit totschlägt, läuft Gefahr, ‚seinen Himmel totzuschlagen‘, dann nämlich, wenn er sich aus Egoismus zurückzieht, sich versteckt, gleichgültig bleibt. (Josemaria Escrivá, Freunde Gottes, Nr. 46)
Heute, jetzt
Unsere Aufmerksamkeit soll sich auf die Aufgabe des Augenblicks richten, mit Gespür für das das Heute, ja, das Jetzt. Es wendet sich gegen jede nostalgische Verherrlichung des Vergangenen und gegen jedes das Beschwören der Zukunft in Angst oder Wunschdenken. Beide sind nur Spielarten einer Flucht vor dem Heute und Jetzt – und erschweren die Begegnung mit der Realität.
Gott schenkt uns die Zeit als Gegenwart, als ein Heute – er wird sie uns weiter schenken, Stunde für Stunde, solange er will. Die Vergangenheit bleibt im gewissen Sinne gegenwärtig als Erinnerung – an Fehler, die wir vor Gott bereuen, an Wohltaten, die uns zum Dank bewegen, an Verhalten, die uns reicher an Erfahrung machen. Die Zukunft steht vor uns als Ansporn für unsere Hoffnung und unser Gottvertrauen. Aber unser Leben ist Gegenwart – Augenblick für Augenblick. Nur sie können wir heiligen.
Gott schenkt seine Gnade zur Bewältigung von Prüfungen, die er selbst uns sendet – aber nicht von Desastern, die nicht selten nur eingebildet sind. Wenn wir das Heute ernstnehmen, befreit es uns von der drückenden Last und der lähmenden Versuchung solch unnötiger Zukunftssorgen. Wir malen uns keine denkbaren Unglücke und Heimsuchungen mehr aus. Und wir lernen, die echten Sorgen der Gegenwart im Licht der Hoffnung zu sehen – im Vertrauen auf die göttliche Fürsorge.
In diesem Licht, in dieser Hoffnung dichtete Andreas Gryphius:
Mein sind die Jahre nicht,
die mir die Zeit genommen.
Mein sind die Jahre nicht,
die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein,
und nehm ich den in Acht,
so ist der mein,
der Jahr und Ewigkeit gemacht.