Das aufgerichtete Kreuz

Gnade, die den verkrümmten Menschen aufrichtet

Kreuz in der Villa de Guadalupe - Mexiko

Kreuz in der VillVieles kreuzen wir an – Formulare, Lottoscheine, Wahlzettel. Ein Strich reicht nicht, es müssen zwei sich überkreuzende sein, gleichsam Entschluss und Besiegelung. Das Zeichen, das man sachlich als zweifache Verbindung diametral entgegengesetzter Punkte beschreiben kann, ist seit jeher symbolträchtig. Es heißt, dass es im Altertum das Sinnbild der Einheit von Extremen war, der Synthese und des Maßes.

Auch wir Katholiken haben den symbolischen Gehalt im Sinn, wenn wir uns selbst ankreuzen – uns bekreuzigen. Damit verfolgen wir keinen Zweck, sondern besiegeln unsere eigene Taufe, auch wenn wir nicht ausdrücklich daran denken.

Das Kreuzzeichen ist kein privates Symbol, es steht am Anfang und am Ende jeder liturgischen Feier. In der Liturgie vom Karfreitag wird das Kreuz nüchtern feierlich vor den Altar getragen. Der Priester enthüllt es, während er dreimal singt: „Seht das Kreuz, an dem der Herr gehangen, das Heil der Welt“. Alle stimmen ein: „Kommt, lasset uns anbeten“. Als Zeichen des Heils und der Erlösung wird es über die Gemeinde erhoben und zur Verehrung ausgestellt.

Das Kreuz erreicht die ehrlich Ahnungslosen

Seit dem ersten Karfreitag ist das Kreuz Werkzeug des Heils. Jesu Hinrichtung nötigt auch Nichtgläubigen Respekt ab, vielleicht nur als das Scheitern eines Idealisten, der ein wunderbares Stück Menschheitsgeschichte schrieb. Christen sehen darin die Mitte der Heilsgeschichte überhaupt: ein Mysterium, das alle Zeitgrenzen überschreitet und stets aktuell bleibt – nicht in der Fiktion einer erinnerten Vergegenwärtigung, sondern real wirksam. "Der Sohn Gottes – für alle gekreuzigt – hat alles mit dem Zeichen des Kreuzes gezeichnet", schreibt einer der ersten großen Theologen des Altertums, Irenäus von Lyon, im zweiten Jahrhundert. Alles heißt: das gesamte Weltgeschehen, in die Vergangenheit und in die Zukunft wirkend. Aber es meint auch die persönliche Geschichte eines jeden einzelnen. Die Kraft des Kreuzes erreicht nicht nur jene, die daran glauben, sondern auch die ehrlich Ahnungslosen, die davor schaudern, in der Sinnlosigkeit einer absurden Welt unterzugehen. Nur wer sich willentlich, verächtlich abwendet, schließt sich aus.

Mit überraschend modernem Empfinden verweist ein anderer kirchlicher Schriftsteller des vierten Jahrhunderts auf diese Weite des Heils und der Erlösung: „Ausgespannt hat Gott am Kreuz seine Hände, um die Grenzen der Welt zu umarmen“. Es ist wie ein Nachklang der antiken Symbolik vom Kreuz als Einheit und Verknüpfung von Extremen. Aber nicht die zwei Balken sind jetzt das Verbindende, sondern der Gekreuzigte selbst, „am Kreuzesbalken angenagelt, einsam, die Arme in der Haltung des Ewigen Priesters ausgebreitet“ (Josefmaria Escrivá, Freunde Gottes, 240).

Alltag im Zeichen des Kreuzes

Wie oft bezeichnen wir uns mit dem Zeichen des Kreuzes! Wir bekräftigen damit gewiss unser Ja zum eigenen Kreuz. Zugleich erkennen wir im Licht des Glaubens, dass unsere Bedrängnisse und Nöte verbunden sind mit der Not Jesu – mit seinem Kreuz, dem heiligen Kreuz, das unser Kreuz heilt. Das Kreuz Jesu Christi damals und das eigene Kreuz heute vereinen Unerbittlichkeit und Gnadenhaftigkeit: Zwar erhalten Tod und Leid, Unglück und Ungerechtigkeit, Verlassenheit und Not dort keine Erklärung, als ginge es um ein Ideensystem. Aber sie finden im Kreuz ihren Sinn.

Das Mysterium des Kreuzes prägt dann unseren Alltag: Sich dem Herrn mit allem nähern, was man hat – auch mit den eigenen Plagen und Lasten. Und dann entdecken, dass die Lasten nicht wegfallen, aber doch aufhören zu bedrücken, weil sie eins werden mit dem Kreuzesjoch Christi. Das eigene Leiden verbindet sich mit dem Leiden am ersten Karfreitag als geheimnisvolle Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen. „In der Tragödie des Leidens Christi erfüllen sich unser eigenes Leben und die Geschichte der ganzen Menschheit. Die Karwoche kann nicht bloße Erinnerung sein, denn sie führt uns das Geheimnis Christi vor Augen, das sich in unseren Seelen fortsetzt.“ (Josefmaria Escrivá, Christus begegnen, 96)

Bilder der Passion

In vielen mittelalterlichen Darstellungen sieht man in einem Hohlraum unter dem Kreuz einen Schädel: der Schädel Adams. Das dichterische Bild will den tiefen Zusammenhang zwischen Adam und Christus betonen, dem ersten und dem vollendeten Menschen. Nach der Legende wollte sich der sterbende Adam vom paradiesischen Baum des Lebens eine Frucht der Unsterblichkeit holen lassen, aber ihm wurde nur ein Same gebracht. Aus diesem Samen wuchs ein Baum, aus dessen Holz dann die Schergen das Kreuz Christi zimmerten.

Im Spätmittelalter wird die Gegenwärtigkeit der Passion nicht mehr durch die Legende, sondern durch die reale Not menschlicher Krankheiten dargestellt. An Matthias Grünewalds Isenheimer Altar ist der Leib Jesu realistisch von eitrigen Wunden übersät. Und alle, die zu Füßen des Kreuzes stehen, ringen schmerzlich ihre Hände: die Gottesmutter, Maria Magdalena, der Jünger Johannes. Nur Johannes der Täufer erscheint abgehoben, außerhalb des historischen Augenblicks stehend. Er war nicht Zeuge der Passion, sondern ihr prophetischer Künder, wie es das Lamm zwischen ihm und dem Kreuz versinnbildet. Sein gestreckter Finger weist auf den Gekreuzigten mit einer Geste, die allen Menschen aller Zeiten gilt.

Der Felsen, auf welchem das Kreuz Christi aufgerichtet ist, ist der Felsen, der uns trägt. So dichtet 1936 die spätere Märtyrerin Edith Stein nach dem 61. Psalm:

Erhör, o Gott, mein Flehen,

hab auf mein Beten acht.

Du sahst von fern mich stehen,

ich rief aus dunkler Nacht.

Auf eines Felsen Höhe

erheb mich gnädiglich.

Auf dich ich hoffend sehe:

du lenkst und leitest mich.

Du bist gleich einem Turme,

den nie der Feind bezwang.

Ich weiche keinem Sturme,

bei dir ist mir nicht bang.

In deinem Zelt bewahren

willst du mich immerdar.

Mich hütet vor Gefahren

dein schirmend Flügelpaar.

Von Josef Arquer