Betrachtungstext: 5. Osterwoche – Sonntag (C)

Das Kreuz, Weg der Herrlichkeit – Unsere Liebe ist die Fortsetzung der Liebe Jesu – Liebe beginnt im eigenen Haus

NACH DER Fußwaschung begaben sich die Apostel gemeinsam mit Jesus wieder zu Tisch, und es kam der Moment, in dem Judas aufstand, den Raum verließ und in die Nacht hinaustrat, um seinen Verrat zu vollziehen. Beinahe zeitgleich begann Jesus, sich von den Seinen zu verabschieden. Wehmut lag über dem geheimnisvollen Wort, mit dem er seine Rede einleitete: Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht und Gott ist in ihm verherrlicht. Wenn Gott in ihm verherrlicht ist, wird auch Gott ihn in sich verherrlichen und er wird ihn bald verherrlichen (Joh 13,31-32). Gemäß dem heiligen Thomas von Aquin lässt sich die Verherrlichung Christi auf vierfache Weise verstehen: als Verherrlichung durch sein Kreuz, seine richterliche Macht, seine Auferstehung und sein Erkannt-Werden durch den Glauben der Menschen.1 Doch was bedeutet „Verherrlichung“? Es bedeutet Erhöhung – und diese beginnt für Jesus am Kreuz, das wiederum dem Ruhm Gottes dient.

Mit dem Verrat des Judas hat Jesu Stunde begonnen und er ist bereit. Kurz darauf wird er zum Vater beten: Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht (Joh 17,1). Papst Benedikt XVI. erklärt dazu: „Die Verherrlichung, die Jesus als Hoherpriester für sich selbst erbittet, ist der Eintritt in den vollen Gehorsam gegenüber dem Vater, einen Gehorsam, der ihn zu seiner vollen Sohnschaft führt.“ Und er fügt hinzu: „Diese Bereitschaft und diese Bitte sind der erste Moment des neuen Priestertums Jesu: Es ist die völlige Selbsthingabe am Kreuz. Und gerade am Kreuz – dem Akt der höchsten Liebe – wird er verherrlicht: Denn die Liebe ist die wahre Herrlichkeit, die göttliche Herrlichkeit.2

Der heilige Josefmaria schrieb: „Wahre Liebe bedeutet, aus dem eigenen Ich heraustreten, sich hingeben. Echte Liebe bringt Freude mit sich: eine Freude, die Wurzeln in der Gestalt des Kreuzes hat.“3 In dieser Perspektive eröffnet sich uns das Geheimnis Jesu, das im Licht der Auferstehung seinen vollen Sinn erhält. Papst Franziskus erinnert: „Jedes Mal, wenn wir unseren Blick auf das Bild des gekreuzigten Christus richten, denken wir, dass er, als der wahre Diener Gottes, seine Sendung erfüllt hat – indem er sein Leben hingegeben und sein Blut zur Vergebung der Sünden vergossen hat.“4


NUN, da die Stunde des Abschieds naht, wiegt jedes Wort schwer. Noch einmal legt Jesus seinen Jüngern ausdrücklich nahe: Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt (Joh 13,34-35). Wenn unsere Christen-Liebe eine Fortsetzung der Liebe Jesu ist, dann bleibt er selbst unter uns gegenwärtig – und die Kette der Liebe reißt nicht ab.

Erstaunlich ist, dass Jesus dieses Gebot „neu“ nennt – obwohl Gott bereits im Alten Testament zur Nächstenliebe aufgerufen hat: Das Neue liegt in der Art und im Ursprung dieser Liebe: zu lieben, wie Jesus geliebt hat“. Das macht uns zu neuen Menschen. Es bedeutet, das Leben für andere hinzugeben, wie er es getan hat – mehr noch: Christus selbst in uns wirken zu lassen. Papst Benedikt bringt es so auf den Punkt: „Die Einfügung unseres Selbst in das seine – Ich lebe, aber nicht ich, sondern Christus lebt in mir (Gal 2,20) – ist das, was wirklich zählt (...). Das neue Gebot ist nicht einfach eine neue und höhere Anforderung. Sie ist mit der Neuheit Jesu Christi verbunden, indem man sich immer mehr in ihn vertieft.“5

Die Liebe des Gottessohnes, der unter uns gelebt hat, ist in Wahrheit die Quelle aller Liebe: grenzenlos, umfassend, fähig, Schwierigkeiten in Gelegenheiten zu verwandeln, noch mehr zu lieben. Mit Worten des heiligen Josefmaria dürfen wir mutig beten: „Schenke mir, Herr, die Liebe, mit der du von mir geliebt werden willst!6


ALS JESUS uns dieses neue Gebot gab, sandte er uns aus, um in seiner Liebe zu leben – als glaubwürdiges und wirksames Zeichen dafür, dass das Reich Gottes bereits in der Welt gegenwärtig ist. Durch unsere Art zu lieben zeigen wir unseren Zeitgenossen, dass wirklich alles neu geworden ist. Die Heiden des ersten Jahrhunderts staunten und sagten: „Seht, wie sie einander lieben und wie sie bereit sind, füreinander zu sterben!7 Die Atmosphäre unter den ersten Christen erregte Verwunderung. „Sie lieben einander, noch bevor sie einander kennen8, berichtete ein heidnischer Beobachter an den Kaiser in Rom.

Die heilige Mutter Teresa von Kalkutta erinnerte daran: Die Liebe beginnt im eigenen Haus. Zuerst ist da deine Familie und deine Stadt. Es ist leicht, so zu tun, als liebte man die Menschen, die weit weg sind, doch nicht ganz so leicht, diejenigen zu lieben, die uns nahe sind.“9 Gerade im Umgang mit den Menschen, die uns am nächsten stehen, zeigt sich die Echtheit der Liebe, die wir von Christus empfangen haben. Christen sind berufen, über Unterschiede hinwegzusehen und das Gemeinsame zu suchen. Ihre Liebe zeigt sich im Konkreten. Papst Franziskus betont: „Jesus selbst (...) spricht über ganz konkrete Dinge: die Hungrigen speisen, die Kranken besuchen ... (...) Ohne eine solche Konkretheit kann man am Ende ein illusionäres Christentum leben, weil man nicht wirklich begreift, worin der Kern der Botschaft Jesu besteht.10

Andere zu lieben wie Christus – das ist nur möglich mit der Kraft, die er uns schenkt, vor allem in der Eucharistie. In ihr wird unser Herz weit. Und Maria, die in vollkommener Liebe mit ihrem Sohn verbunden war, bleibt für uns Vorbild dieser weitherzigen, selbstvergessenen Liebe, die alle Hindernisse überwindet.


1 Vgl. hl. Thomas von Aquin, Kommentar zum Johannesevangelium.

2 Benedikt XVI., Audienz, 25.1.2012.

3 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 28.

4 Franziskus, Angelus-Gebet, 30.8.2020.

5 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, II, Kap. 3, S. 82-83.

6 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 270.

7 Tertullian, Apologeticum, c. 39.

8 Minucius Felix, Octavius, c. 9.

9 Hl.Teresa von Kalkutta, Der Weg der Einfachheit.

10 Franziskus, Predigt, 9.1.2014.